
In dem knappen Einstieg explizieren Christiane Thompson, Jörg Zirfas, Wolfgang Meseth und Thorsten Fuchs, je Vertreter:innen der beteiligten vier Kommissionen der Sektion (Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Pädagogische Anthropologie, Wissenschaftsforschung, Qualitative Bildungs- und Biografieforschung), das Anliegen der Herausgeber:innenschaft: Systematische und grundlagentheoretische Überlegungen zu „Angst“ und „Verunsicherung“ sollen für die Erziehungswissenschaft fruchtbar gemacht sowie die Formierung pädagogischer Wirklichkeiten im Licht aktueller gesellschaftlicher Transformationen diskutiert werden. Dass es zu dem Themenfeld Angst „keine eigene Forschungstradition in der Erziehungswissenschaft gebe“ (7), lassen die Autor:innen nicht als Gegenargument für ein derartiges Unterfangen gelten, sondern nehmen den möglichen Einwand als Anlass für ihr Vorhaben, das einen „gehaltvolle[n] Ausgangspunkt für weitere erziehungswissenschaftliche Analysen und Beiträge“ (9) darstellen soll.
Um sich diesem Ziel anzunähern, werden in dem Band die Vorträge der Sektionstagung „nahezu vollständig versammelt“ (8): 15 Beiträge, segmentiert in drei übergeordnete Kapitel („Erziehungswissenschaftliche und pädagogische Dimensionen von Angst und Verunsicherung“, „Formierungen der Erziehungswirklichkeit durch Angst und Verunsicherung“, „Gesellschaftliche Transformationen im Kontext von Globalisierung, Migration und Populismus“), nähern sich auf facettenreiche Weise der umrissenen Problemstellung. Dabei variieren die Aufsätze hinsichtlich ihrer theoretischen Bezüge und empirischen Vorgehensweisen. Arbeiten am Begriff stehen hier nicht säuberlich getrennt von sozialwissenschaftlichen Studien, sondern werden durch den Aufbau des Bands auf produktive Weise zueinander in Verhältnis gesetzt: Unter Rückgriff auf Lacan wird die Bedeutung von Angst und Verunsicherung für Bildungs- und Identitätsbildungsprozesse diskutiert (Mayer & Wittig, Wulftange), anthropologische Arbeiten mit Blick auf pädagogische Phänomene (professionelles Wissen und Handeln bei Dederich & Zirfas, präventive Gesundheitsmaßnahmen bei Schmidt, Zeitregime in der frühen Kindheit bei Bilgi & Stenger) stehen neben der psychoanalytisch-pädagogischen Re-Lektüre Platons (Boger). Auf die Untersuchung der literarischen Figur „Schulangst“ (Krüger) folgen die Analysen von Affektökonomien (Sorgo) und rechtspopulistischer Vereinnahmung erziehungswissenschaftlichen Wissens (Haker & Otterspeer) in zeitdiagnostischer Absicht. Die politische Dimension von Angst und Unsicherheit wird auch in den Beiträgen zu Wissensvermittlung in einer globalisierten, (post-)migrantischen Gesellschaft (Engel) sowie zu (narrativen) Strategien der extremen Rechten (Burghardt) und der Radikalisierungsprävention (Milbradt & Pausch) fokussiert. Der Band endet mit zwei Aufsätzen, die sich auf je spezifische Weise der Bedeutung von Angst und Verunsicherung im Kontext von Flucht(-erfahrungen) widmen (Wischmann, Abedi Farizani).
Während im bereits skizzierten Vorwort der erziehungswissenschaftliche Diskurs über Angst eingeordnet wird, bleiben die Debattenstränge zu „Verunsicherung“ eingangs unerwähnt. Was versprechen sich die Herausgeber:innen von der Doppelung? Welchen Erkenntnisgewinn erhoffen sie sich? Diesen und weiteren grundlegenden Fragen nehmen sich Thompson und Zirfas in ihrem den Sammelband einleitenden Eröffnungsbeitrag an, indem sie auch die anfängliche Leerstelle hinsichtlich der Verunsicherung aufschlussreich bearbeiten. In dem theoretisch sehr dichten, an vielseitigen Bezügen reichen Beitrag konkretisieren die Autor:innen ihr Anliegen, plausibilisieren den Aufbau des Bands und begeben sich auf eine begriffstheoretische Spurensuche mit Zwischenhalten bei Nietzsche, Deleuze, Freud, Heidegger, Kierkegaard, Foucault, Adorno und Nussbaum. Deutlich wird dabei die „anthropologische Fundierung und Problematisierung“ (11) von sowohl „Angst“ als auch „Verunsicherung“, sowie ihre „historischen, politischen und sozialen Rahmungen“ (ebd.), welche mithin das Erkenntnisinteresse der Autor:innen konturieren.
Insbesondere vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Perspektiven sehe sich die Erziehungswissenschaft mit Fragen nach „der Bedeutung von Kontingenz und Unsicherheit für pädagogische Ziele, Legitimationen, Prozesse und pädagogisches Handeln“ (15) konfrontiert. Welche erziehungswissenschaftlichen und praktisch-pädagogischen Konsequenzen davon zu erwarten sind, „dass sich gegenwärtig zwar die Unsicherheiten potenzieren, doch auch die Gewissheiten, dass man […] spezifische Zukünfte vermeiden will“ (24), wird in den folgenden Artikeln sachkundig diskutiert. Das Tableau an Beiträgen ist dabei durchzogen von zentralen Begriffen, die bisweilen zu Fluchtpunkten der Debatte werden: Risiko, Optimierung, Sorge und Vulnerabilität. Die Verhältnisse jener Themen zu Angst und Verunsicherung systematisch auszuloten, könnte Gegenstand aufbauender Arbeiten sein.
Dem Band gelingt, woran andere erziehungswissenschaftliche Projekte gelegentlich scheitern: Politik wird hier nicht als etwas den Erziehungswirklichkeiten Äußerliches verstanden, sondern als unweigerlich mit Fragen von Bildung, Erziehung und Pädagogik verstrickt. Insbesondere die Beiträge, die unter den Schlagworten „Globalisierung, Migration und Populismus“ (Kapitel III) verhandelt werden, bewältigen diese Herausforderung auf beachtliche Weise, aber auch andere Beiträge schlagen diese Brücke in instruktiver Manier.
Mit Blick auf den Forschungsstand zu „Angst“ und „Verunsicherung“ scheint es mir zukünftig gewinnbringend, vermehrt Anschluss auch an jene Debatten zu suchen, die sich unter dem Etikett des „emotional turn“ versammeln lassen. Insbesondere praxistheoretische Konzeptionen von Gefühlen könnten dazu beitragen, der affektiven Verfasstheit jener Phänomene verstärkt Rechnung zu tragen. Kulturwissenschaftliche Einwürfe, wie Monique Scheers Interpretation von Bourdieus Perspektiven [1] oder auch Sara Ahmeds feministische Beiträge [2] bieten hierfür wichtige Anregungen. Letztere hat spätestens mit ihrem Keynote-Beitrag am 28. DGfE-Kongress in Bremen im Jahr 2022 die Bühne der Disziplin betreten und animiert dazu, das begriffliche Instrumentarium des Themenfelds weiter auszubuchstabieren.
Seit dem Erscheinen des Tagungsbands vor über zwei Jahren sind zudem einige erziehungswissenschaftliche Forschungen, Kongresse und Themenhefte [3] erarbeitet worden, die sich dezidiert im Forschungsbereich zu Emotionen, Gefühlen und Affekten verorten. Man kann gespannt sein, welche Dialoge sich hier in Zukunft ergeben und wie sie die hochdynamische Debatte um „Angst“ und „Verunsicherung“ weitertreiben werden.
[1] Scheer, M. (2019). Emotion als kulturelle Praxis. In: Kappelhof, H., Bakels, J.-H., Lehmann, H. & Schmitt, C. (Hrsg.). Emotionen: Ein interdisziplinäres Handbuch (S. 352–362). Stuttgart: Metzler.
[2] Ahmed, S. (2004). The Cultural Politics of Emotion. New York: Routledge.
[3] z.B. Lütgens, J., Petrik, F. & Brehm, A. (Hrsg.) (2024). 'Once more, with feeling' – (Anti-)emanzipatorisches Transformationspotential von Gefühlen. Themenheft. GISo 1/2024.