EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Thomas Klatetzki
Narrative Praktiken
Die Bearbeitung sozialer Probleme in den Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2019
(246 S.; ISBN 978-3-7799-6008-9; 29,95 EUR)
Narrative Praktiken Wie werden in narrativen Praktiken soziale Probleme in Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe bearbeitet? Diese Frage untersucht Thomas Klatetzki in einer in zwei Teilen aufgebauten Monografie. In Teil eins – „Theoretische Interpretationen“ – erlĂ€utert er methodologisch und phĂ€nomenologisch narrative Praktiken, soziale Skripts, Rechenschaftslegung sowie die Vermeidung von Scham und Schuld. Diese theoretischen Rahmungen wendet er in Teil zwei – „Fallinterpretationen“ – an, um verschiedene KinderschutzfĂ€lle auf interpersoneller und organisationaler Ebene zu interpretieren und zu diskutieren. Eingebettet sind diese ineinandergreifenden Teile von einem Vor- und Nachwort, in welchen die Denkbewegungen und theoretischen Inspirationen in ihren EinflĂŒssen auf das vorliegende Werk dargelegt werden.

Einleitend erlĂ€utert der Autor seine „Ideenmontage“ (S. 9) zur Konstitution von Sinn im Sozialen, womit er an erkenntnistheoretische und ethnografische Perspektiven anschließt. Den Ausgangspunkt der Diskussion der „Bearbeitung sozialer Probleme in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen“ (S. 45) bilden das Fallverstehen im Zusammenspiel mit narrativer Sinnstiftung, die Anwendung von routiniertem Skriptwissen und problemlösendes Handeln. Narrative Sinnstiftung erfolgt, wenn Daten durch einen „narrativen Rahmen“ (S. 48) in Zusammenhang gebracht und verstehbar gemacht werden. Dabei wird narratives Wissen eingesetzt und in routinierten Praktiken vollzogen. Es entstehen verschiedene storylines und plots, die Handlungen intersubjektiv verstĂ€ndlich machen. Mit diesen beeinflussen und positionieren sich die Teilnehmer:innen in Interaktionen wechselseitig und reproduzieren eine moralische Ordnung – ein VerstĂ€ndnis, das zwischen klassischen handlungs- und strukturtheoretischen AnsĂ€tzen vermittelt. Als charakteristisch fĂŒr kollektive Wissenspraktiken hebt der Autor die informelle ÜberprĂŒfung der accountability, der Rechenschaftslegung, von Interaktions-Teilnehmer:innen hervor. Dieses alltagsweltliche Regulationssystem beruht auf der An- und Aberkennung des sozialen Status von Organisationsmitgliedern und der Bewertung ihrer VertrauenswĂŒrdigkeit und arbeitet wesentlich mit den Emotionen des Stolzes und der Scham (vgl. S. 86). Professionelle reagieren bestĂ€tigend auf die FallerzĂ€hlungen ihrer Kolleg:innen, wenn der „moralische Sinn“ (S. 101) der Geschichte ihren eigenen Vorstellungen von moralisch richtiger Arbeit entspricht (vgl. ebd.).

Diese theoretische Rahmung wendet Klatetzki im zweiten Teil seines Buches auf Fallbeispiele aus der Kinder- und Jugendhilfe an. Er zeigt dabei verschiedene denkbare Narrationen auf, wie diese erzĂ€hlt und fĂŒr die Beteiligten mit Sinn versehen werden könn(t)en. In diesen Fallbeispielen wird anschaulich, wie Skriptwissen und storytelling im Fallverstehen Professioneller zum Tragen kommen. So verdeutlicht die Diskussion des Falls „Sophias blaue Flecken“ (S. 116–144), dass ein Personal, „das fĂŒr sich den Status einer Profession reklamiert“ (S. 97), eine selbstbestimmte Hilfe-ErzĂ€hlung entwickeln muss, um die Lebenswelt der Adressat:innen zu verstehen und hieraus potenziell Hilfen organisieren zu können (vgl. S. 141). Gezeigt wird, wie sich unterschiedliche narrative Sinnstiftungen durchsetzen: Das beteiligte Jugendamt folgt einem Skript und ĂŒbernimmt letztlich die Deutungen der anderen beteiligten Professionen. Relevant ist dabei der gesellschaftliche Wandel in der Deutung und Bearbeitung sozialer Probleme. Der ursprĂŒngliche Modus der FĂŒrsorge und der Normalisierung von Sozialisationsdefiziten verĂ€ndert sich zunehmend zu einem Fokus auf Risiken und Gefahren, vor denen sich die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe vorsorglich abzusichern versuchen. Auf dieser sozialpolitisch neuen Grundlage positioniert die ErzĂ€hlung des Jugendamts die drei beteiligten Familienmitglieder in die Rollen eines Opfers, eines mutmaßlichen TĂ€ters und einer Mutter, die ihr Kind nicht schĂŒtzen kann (vgl. S. 130). Entsprechend geht es in der Reaktion „um die Produktion von Sicherheit und damit vordringlich um Kontrolle und nicht um Hilfe“ (S. 139).

Die Bedeutung von Emotionen in narrativen Praktiken und sozialen Skripts (S. 145–166) diskutiert Klatetzki anhand des Falls „Nico“. Dargestellt wird die BeschĂ€mung des Kindes fĂŒr seinen Umgang mit seinem nĂ€chtlichen BettnĂ€ssen. Im Rahmen der Machtkonstellation zwischen dem kindlichen Adressaten und dem professionellen Personal kann letzteres seine Emotionen des Ärgers und des Ekels entlang des Skripts einer Gerichtsverhandlung inszenieren: anklagend, verurteilend und vollstreckend. Dem kann sich das Kind in seiner organisationalen Position kaum widersetzen, wobei sich Emotionen der Scham und des Ärgers in seinem Handeln andeuten. Eine andere ErzĂ€hlung von Nicos Umgang mit seinem BettnĂ€ssen hĂ€tte, so die Interpretation der Szene, bei den Erwachsenen hingegen die Emotion des MitgefĂŒhls und die Motivation zu helfenden Handlungen hervorrufen können. Die Adressat:innen erscheinen, je nach FallerzĂ€hlung, als unschuldige Opfer oder verantwortliche TĂ€ter:innen, woraus jeweils unterschiedliche Interventionen folgen, welche „die altbekannte DualitĂ€t sozialer Problembearbeitung [spiegeln], nĂ€mlich Hilfe und Kontrolle zugleich zu sein“ (S. 162).

Im Weiteren geht es darum, wie in narrativen Praktiken sinnstiftende Geschichten ĂŒber „katastrophale Ereignisse“ in Organisationen konstruiert werden (S. 167–195). Betrachtet wird hierfĂŒr eine Organisation der Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem Schutzauftrag nicht gerecht wurde. Dabei unterscheidet Klatetzki „alte Geschichten“, in denen die Ursachen im moralischen Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter:innen ausgemacht werden und „neuen Geschichten“, in denen das organisationale Versagen auch als „Symptom von tieferliegenden Problemen im Organisationssystem“ (S. 169) gedeutet wird. Dies vertieft er anhand der ErzĂ€hlung ĂŒber „Jonas“, einem durch den LebensgefĂ€hrten der Mutter ermordeten Kleinkind, fĂŒr dessen Familie aufgrund des Verdachts der KindeswohlgefĂ€hrdung zuvor verschiedene Hilfen eingeleitet wurden. Analysiert wird die Bedeutung von Vertrauen und TĂ€uschung in der Fallkonstruktion. Im Sinne einer „neuen“ Geschichte wird dabei die „Inkongruenz von Arbeitsauftrag und OrganisationskapazitĂ€t“ (S. 194) als ein systemisches Problem aufgezeigt, infolgedessen die Familienhilfe die Ursache der Verletzungen von „Jonas“ nicht rechtzeitig aufklĂ€ren konnte.

Die „Problembearbeitung mit Mythen“ (S. 196–222) erörtert Klatetzki anhand von Fallbearbeitungen durch mehrere FachkrĂ€fte. Der „Mythos der Familie“ stellt demnach die zentrale Form der Sinnstiftung fĂŒr die Bearbeitung sozialer Probleme in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe dar. Mit der zu Beginn getroffenen Feststellung, dass die narrative die dominante Wissensform in sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen darstellt, wird die (durchaus pessimistische) Pointe des Buchs offenbar: So vermutet Klatetzki abschließend, dass „das mythische Wissen sowohl theoretisches und empirisches Wissen wie auch das Wissen anderer Berufsgruppen ersetzt“ (S. 219). Zudem ließe sich mit diesem dominant wirkenden Familienmythos die „organisationsstrukturelle TrĂ€gheit des gesamten Systems der Kinder- und Jugendhilfe“ (ebd.) erklĂ€ren.

DiskussionswĂŒrdig ist die Frage, wie verschiedene Wissensformen im Vollzug von narrativen Praktiken in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zusammenwirken – nicht zuletzt auch in Bezug auf die oben beschriebene ‚Ersetzungs-These‘. Der Autor unterscheidet analytisch „narratives“ versus „paradigmatisches“ und „rational-wissenschaftliches“ Wissen (S. 29). Aus einer praxistheoretischen Perspektive und im Untersuchungskontext der Kinder- und Jugendhilfe sind durchaus weitere VerstĂ€ndnisse zur Frage denkbar, wie FachkrĂ€fte im Vollzug routinierter Praktiken professionelle, explizierbare und implizite, vorreflexive WissensbestĂ€nde miteinander verbinden. Eine entsprechende Vertiefung dieser VerschrĂ€nkung hĂ€tte interessant sein können. Zudem wĂ€re es gewinnbringend gewesen, wenn die Hinweise zur Bedeutung von Scham und BeschĂ€mung in jenen sozialen Skripts, die Interaktionen zwischen FachkrĂ€ften und Adressat:innen prĂ€gen, deutlicher schamtheoretisch rĂŒckgebunden wĂ€ren. Dabei könnten die normativen Rahmungen schĂ€rfer erkennbar werden, die BeschĂ€mung in diesem spezifischen VerhĂ€ltnis ĂŒberhaupt erst ermöglichen.

Das Buch bietet zahlreiche AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr in Wissenschaft und Praxis tĂ€tige Menschen und entspricht damit dem selbst gesetzten Anspruch des Autors (S. 14). Zeitweise entsteht der Eindruck, hier handele es sich – zumindest fĂŒr den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – um die Entwicklung einer `theory of everythingÂŽ. Thomas Klatetzki begibt sich mit diesem Werk (weiter) auf die Suche nach einer verbindenden Handlungstheorie der Kinder- und Jugendhilfe und findet diese in der Analyse narrativer Praktiken. Dabei berĂŒhrt er Fragen des professionellen SelbstverstĂ€ndnisses und der HandlungsspielrĂ€ume von FachkrĂ€ften sowie des Aufbaus und der Reproduktion von Organisation(en) in diesem Feld. Insbesondere im Rahmen hermeneutischen Fallverstehens und entsprechend auch in der sozialpĂ€dagogischen Lehre hierzu kann dies eine organisationsbezogene ErgĂ€nzung zu bestehenden Reflexionsfolien bieten. Nicht zuletzt beinhaltet das Buch wichtige Anregungen fĂŒr die qualitative (Kinderschutz-)Forschung und zur Organisationsentwicklung.

Insgesamt also ein zu empfehlendes Buch, das fĂŒr die WirkmĂ€chtigkeit des alltĂ€glichen storytelling in der Kinder- und Jugendhilfe sensibilisiert.
Friederike Lorenz und Julian Zwingmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Friederike Lorenz und Julian Zwingmann: Rezension von: Klatetzki, Thomas: Narrative Praktiken, Die Bearbeitung sozialer Probleme in den Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996008.html