Onno Husens Monographie – zugleich seine Dissertation an der Universität Trier im Jahr 2016 – adressiert ein wichtiges Thema. Die derzeitigen politischen Reformbestrebungen des Sozialgesetzbuches zur Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) werden seitens weiter Teile der Fachwelt als „Desaster“ (Otto 2017: 485) kritisiert: sowohl aufgrund inhaltlicher Diskrepanzen als auch aufgrund des Eindrucks, dass dieser Prozess durch eine „beispiellose Intransparenz und Pseudobeteiligung“ (Hammer 2018: 1) geprägt war und ist. In der mit der (neueren) Kindheitsforschung zusehends enger zusammenwachsenden disziplinären Sozialpädagogik besteht folglich das immer dringlicher werdende Bedürfnis, die Reformierungsversuche der Kinder- und Jugendhilfe sowie ihre grundlegende Ausgestaltung und „Einbindung in einem polarisierenden Kapitalismus mit einem neo-liberal offensiv forcierten Individualismus“ (Otto 2017: 486) kritisch zu beobachten.
In seiner Studie geht Husen den Fragen nach, wie „Kinder“ in der Kinder- und Jugendhilfe thematisiert werden und welche Veränderungen diesbezüglich vorherrschen. Zur Beantwortung seiner Fragen definiert er die Kinder- und Jugendhilfe systemtheoretisch als Subsystem des Wohlfahrtssystems und damit als einen gesellschaftlichen Teilbereich, der von den (sich wandelnden) Wertideen/‚Programmen’ des Wohlfahrtssystems mitbeeinflusst wird und auch „in derselben Leitdifferenz“ (S. 33) von Inklusion und Exklusion agiert – allerdings in der Fokussierung auf Kinder und Jugendliche. Als sogenannte „Steuerungsformen“ (S. 35) des Wohlfahrtssystems – und damit auch dessen Subsystem der Kinder- und Jugendhilfe – stellt Husen „Recht, Geld und Professionelles Wissen“ (S. 35) heraus. Für jedes der drei Steuerungsmedien bestimmt er eigenständig repräsentatives Datenmaterial im Zeitraum circa der letzten 25 Jahre: Jahresberichte der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Wissen), das SGB VIII (Recht) sowie die Einnahmen- und Ausgabenstatistik der Kinder- und Jugendhilfe (Geld). Die auch methodisch unabhängig voneinander angelegten drei „Teilstudien“ (S. 43) sind allesamt darauf ausgerichtet, bezüglich ihres spezifischen Teilbereichs der Kinder- und Jugendhilfe Antworten auf die vorangehend angeführten Forschungsfragen zu liefern. Diese in sich geschlossenen Einzelperspektiven vergleicht und trianguliert Husen abschließend.
Verankert in der ‚Mixed-Methods’-Forschung nimmt Husen in den auf Wissen und Recht ausgerichteten Teilstudien Quantifizierungen qualitativen Datenmaterials vor, indem er die untersuchten Aussageereignisse kodiert und mittels eines „induktiv am Material entwickelt[en]“ (S. 56) Kategoriensystems sortiert. Demgegenüber ist die auf das Medium Geld fokussierte Teilstudie rein quantitativ angelegt, wobei Husen das bereits bestehende Kategoriensystem der amtlichen Statistik nutzt. Husens Vorgehen in den drei Teilstudien ist trotz datenmaterialspezifischer Adaptionen zumindest vom Grunde her ähnlich angelegt, wodurch sich anhand des Beispiels der auf das Medium Wissen bezogenen Teilstudie ein Einblick in seine Materialarbeit generieren lässt. In der angeführten Teilstudie zählt Husen zuerst die absoluten Häufigkeiten der von ihm pro AGJ-Jahresbericht vergebenen Codings und der daraus resultierenden Kategorien aus, um zu zeigen, wie sich die Thematisierung von Kindern grundsätzlich über die Jahre quantitativ entwickelt hat. Anschließend werden diese Kommunikationshäufigkeiten ins Verhältnis zum jeweiligen Gesamttextumfang gesetzt, um die Relevanz der Kinder-bezogenen Kommunikation zu erfassen. Husen spricht hier von der „Dichte“’ der Kategorien bzw. Codings. Die von ihm als besonders häufig auftretend ermittelten Kategorien werden vertiefend hinsichtlich der Entwicklung ihrer Dichte beschrieben. Abschließend analysiert Husen die empirisch ermittelten Befunde zum einen systemtheoretisch und strebt zum anderen an, diese auch inhaltlich bezüglich des Forschungsgegenstandes Kinder- und Jugendhilfe zu interpretieren – „wenn auch in geringerem Umfang“ (S. 102).
Zu den zentralen Befunden der Untersuchung zählt die Feststellung, dass die Thematisierung von Kindern in allen drei untersuchten Medien der Kinder- und Jugendhilfe über die Jahre grundsätzlich an Bedeutung gewonnen hat. Zudem erfährt sie vor allem in den Medien Wissen und Recht eine zunehmende Differenzierung. Zu den markantesten Unterschieden zählt Husen die Beobachtung, dass das Medium Wissen im Laufe der Zeit sowohl durch eine vergleichsweise hohe Themenvarianz als auch eine deutliche „Varianz der Relevanz der Thematisierung von ‚Kindern’“ (S. 222) geprägt ist. Demgegenüber sind die Medien Recht und Geld durch eine deutlich höhere Konstanz gekennzeichnet. Diese Beobachtungen interpretiert Husen systemtheoretisch dahingehend, dass die einzelnen Medien der Kinder- und Jugendhilfe eigenständige Funktionen in der „evolutionäre[n] Entwicklung“ (S. 222) dieses Systems erfüllen. Während das Medium Wissen maßgeblich für die Variation und „dynamische[] Stabilität“ (S. 223) zuständig ist, kommt den Medien Geld und Recht eine hohe Verantwortung bei der „Selektion der Themen in der Kommunikation um ‚Kinder’“ (S. 223) zu. Die Eigenständigkeit der untersuchten Medien sieht Husen in der von ihm als nur selten zeitlich parallel stattfindend diagnostizierten Entwicklung sowie mit Blick auf die inhaltliche Rahmung der Thematisierungen von Kindern bestätigt. Ihm zufolge zeichnen sich die Medien Wissen, Recht und Geld einerseits mit den Themen Kindertageseinrichtungen, Schutz und Erziehung durch inhaltliche Nähen aus, da diese Aspekte in allen drei Medien von hoher Relevanz sind; andererseits „weist [jedoch] auch jedes Steuerungsmedium Programminhalte auf, die in den anderen Steuerungsmedien keine bzw. eine andere Rolle spielen“ (S. 224). So entfaltet bspw. die Kontextualisierung von Kindern durch das Thema der „Politik von und für Kinder“ (S. 220) in den Medien Rechte und Geld eine weitaus geringere Bedeutung als im Medium Wissen. Auf der Basis dieser Befunde bilanziert Husen, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht durch eine Perspektive auf Kinder charakterisiert ist, „sondern durch mindestens drei, die jedoch alle innerhalb der Leitdifferenz des Systems operieren“ (S. 224).
Husens Untersuchung lässt sich als Glanzstück einer theoretisch fundierten, mehrdimensionalen empirischen Analyse bilanzieren, die auch durch ihre Kreativität besticht. Überzeugend wirkt zum einen der stringente Bezug zur Systemtheorie, die Husen konsequent und gekonnt anwendet – sowohl um seinen Forschungsgegenstand zu bestimmen und auszudifferenzieren als auch um seine Beobachtungen zu interpretieren. Zum anderen legt er ein Paradebeispiel für die u.a. in der Kindheitsforschung noch zu wenig genutzte Wirkkraft methodisch gemischter Forschungszugänge und quantitativer Analysen qualitativer Aussageereignisse vor. In diesen Stärken verbergen sich allerdings auch kritisch anzumerkende Aspekte. So fußt Husens qualitativer Analyseteil auf dem Eigenanspruch, dass die anhand des Datenmaterials erstellten Kategorien „klar voneinander abgrenzbar sind und nicht ineinander aufgehen“ (S. 56). Inwiefern dies gegeben ist, wenn bspw. zur Kategorie ‚Kinderrechte’ „Schlüsselwörter“ (S. 88) wie „Kinderwahlrecht“ (ebd.) zählen und zugleich das „Wahlrecht von Kindern“ (S. 94) thematisch der Kategorie „Beteiligung/Partizipation von Kindern“ (S. 93) zugeordnet ist, erscheint zumindest klärungsbedürftig – nicht zuletzt, da sich diese potenzielle Unschärfe auch in anderen Kategorien andeutet. Darüber hinaus gibt die systemtheoretische Verankerung Husens Analyse augenscheinlich einen so starken Halt, dass das Verhältnis zwischen systemtheoretischer und inhaltlich-forschungsgegenständlicher Herangehensweise sehr zu Gunsten der erstgenannten Perspektive angelegt ist. Damit entgleiten Husen Aspekte wie eine klassische Forschungsstandaufarbeitung, eine vertiefende Begründung seiner Grundannahme eines Wandels in der Thematisierungsweise von Kindern sowie allen voran eine in den inhaltlichen Diskurs eingewobene Ergebnisinterpretation und -anbindung. Diese Kritik markiert weniger ein genuines Defizit der Arbeit, sondern unterstreicht vielmehr die auch von Husen selbst vorgebrachte Einschätzung, dass die Systemtheorie nur eine von verschiedenen Analysezugängen zur Kinder- und Jugendhilfe darstellt. Wie die vorliegende Arbeit eindeutig zeigt, handelt es sich dabei um eine erklärungsmächtige Perspektive, die es anderen – bspw. diskursanalytischen – Zugängen ermöglicht weiterführend anzuschließen.
Hammer, W. (2018): Vom Kind aus denken – diesmal aber ernsthaft! Stellungnahme zur SGB-VIII-Reform auf der AFET-Homepage. https://bit.ly/2J4l1nN
Otto, H.-U. (2017): Kommentar: Desaster als Chance für die Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe auf die Zukunft. In: Neue Praxis. Jg. 47, H. 5: 485-487.
EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)
Die Thematisierung von »Kindern« in der Kinder- und Jugendhilfe
Eine systemtheoretische Analyse
Weinheim: Beltz Juventa 2017
(256 S.; ISBN 978-3-7799-3718-2; 34,95 EUR)
Maksim Hübenthal (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maksim Hübenthal: Rezension von: Husen, Onno: Die Thematisierung von »Kindern« in der Kinder- und Jugendhilfe, Eine systemtheoretische Analyse. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993718.html
Maksim Hübenthal: Rezension von: Husen, Onno: Die Thematisierung von »Kindern« in der Kinder- und Jugendhilfe, Eine systemtheoretische Analyse. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993718.html