
Mit solchen Fragen befassen sich die Beiträge im 63. Beiheft der „Zeitschrift für Pädagogik“. Sie widmen sich der Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff in der Erziehungswissenschaft und lenken „den Blick auf einen Ansatz [...], der sich programmatisch mit der historiographischen Rekonstruktion und Analyse der jeweiligen historischen Struktur, Herstellung und Geltung von Wissen […] befasst“ (7f.). Die Beiträge haben aus wissensgeschichtlicher Perspektive die deutsche Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft zwischen 1945 und 1990 zum Gegenstand. Ihre Autor_innen beabsichtigen, soziale, politische und ökonomische Bedingungen der Entstehung und Etablierung wissenschaftlichen Wissens sowie den „Transfer und [die] Transformation von Wissen zwischen Akteuren, Organisationen und gesellschaftliche[n] Handlungsfeldern“ (10) zu rekonstruieren.
Julia Kurig und Britta Behm fragen im ersten Teil des Bandes nach zeitlichen Kontinuitäten (erziehungs-)wissenschaftlichen Wissens. Kurig rekonstruiert „symbolische Praktiken“ (16) geisteswissenschaftlicher Pädagogik. Deren bildungstheoretisches Angebot „Abendländische Bildung“ ist eine Kampfansage gegen die Technokratisierung des Lebens nach 1945 und hat sowohl disziplinäre als auch schulpolitische und schulpraktische Diskurse in der Nachkriegszeit beeinflusst. Wie sich parallel dazu die empirisch-experimentelle Disziplinausrichtung der Pädagogik etablierte, ist Behms Forschungsgegenstand. Sie untersucht die Formierung der Bildungsforschung in Westdeutschland. Deren Anfänge gehen nicht auf die Gründung des Instituts für Bildungsforschung (IfB) der Max-Planck-Gesellschaft im Jahr 1963 zurück, wie frühere Untersuchungen nahelegen, sondern die Wurzeln der empirischen Bildungsforschung liegen, so Behms zentrale These, in der 1946 beginnenden Planungsphase der „Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung“ (HIPF). Im Fokus ihrer Analyse der Gründungsunterlagen des IfB und der HIPF stehen Akteure und ihre Handlungsstrategien, Modi der Forschungsorganisation, die diskursive Praxis der Wissenschaftsmodellierung und eine Historiographie der Wissensmuster. Beide Institutionen entwickeln ein Wissenschaftsverständnis, dem zufolge Erziehungswissenschaft zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme beitragen soll. Ihre theoretischen und methodischen Ansätze lassen eine Präferenz für empirische Forschung erkennen und auch bei den politischen Unterstützer_innen und Wissenschafter_innen gibt es große Überschneidungen zwischen dem IfB und dem HIPF.
Im zweiten Abschnitt „Wissen und Beratung“ untersuchen Edith Glaser und Norbert Grube die Einflussnahme politikberatender Gremien und Organisationen auf das erziehungswissenschaftliche Wissensfeld. Glaser erforscht die Arbeiten des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“, der als erstes Bildungsberatungsgremium der jungen Bundesrepublik mit einem Vorschlag zur Neustrukturierung des Schulwesens beauftragt wurde und dessen Gutachten und Empfehlungen 1970 die Grundlage für die Verabschiedung des Strukturplans des Bildungswesens bildeten. Unter Verwendung der Begriffe Denkstil und Denkkollektiv von Ludwik Fleck analysiert Glaser die Zirkulation des Wissens und die Repräsentation dieses Bildungsberatungsgremiums nach außen. Grube fragt in seinem Beitrag nach der Bedeutung des „Instituts für Demoskopie Allensbach“ für die Konturierung des westdeutschen bildungspolitischen Wissensfeldes zwischen den 1950er und 1980er Jahren. Seine Analyse erziehungswissenschaftlicher Wissensproduktion und -zirkulation lässt sich an der Schnittstelle von Gesellschaft, Wissenschaft und Politik verorten. Dabei werden konfligierende (politische) Interessen im Denkkollektiv deutlich, aber die Frage bleibt offen, wie die Emergenz von miteinander in Konflikt stehenden Verarbeitungen des Wahrgenommenen innerhalb eines Denkkollektivs erklärbar ist und warum ein bestimmtes Wissen seinen Geltungsanspruch gegenüber konkurrierenden Wissensformen durchsetzt.
Wie sich ein Wissensfeld im Spannungsfeld internationaler Debatten konstituiert, zeigen Eckhardt Fuchs und Kathrin Henne im Abschnitt „Wissen und Steuerung“ am Beispiel der deutschen Schulbuchrevision, die als zentraler Bestandteil der Bildungssemantik internationaler Verständigung angesehen wurde. Entlang des Konzepts des „policy borrowing“ identifizieren sie ein „weitverzweigtes, mehrdimensionales Netzwerk, das faktisch die ‚Transferkanäle‘ jenseits geographischer Grenzen bildete“ (119) und dessen nationale Beteiligung ‒ neben dem internationalen Akteur UNESCO und der britischen Besatzungsmacht ‒ vor allem mit dem Namen Georg Eckert, dem Leiter des Schulbuchinstituts in Braunschweig, verbunden wird. Rita Nikolais und Kerstin Rothes Thema sind schulpolitische Entscheidungen in den Jahren 1947, 1951 und 1991. In ihrer inhaltsanalytischen Bearbeitung von Plenarprotokollen der Berliner Stadtverordnetenversammlung und des Berliner Abgeordnetenhauses untersuchen die Autorinnen die den Argumentationen zugrundeliegenden normativen Ziel- und Wertehaltungen der Akteure sowie die Bedeutung erziehungswissenschaftlichen Wissens für politische Entscheidungen. Sandra Wenk analysiert jenes Wissen, das politische Aushandlungsprozesse und Praktiken der nordrhein-westfälischen Landschulreform der 1960er Jahre bestimmte. Sie operiert mit einem ‚offenen‘ Wissensbegriff, der über wissenschaftlich erzeugtes Wissen und Expert_innenwissen hinausgeht, und stellt die Etablierung eines Reformmodells dar, das sich wesentlich an den Überzeugungen der Eltern und der lokalen Bevölkerung orientierte.
Sabine Reh eröffnet den letzten Abschnitt „(Erziehungswissenschaftliches) Wissen und Praxis“ mit einem Beitrag über eine besondere Form der erziehungswissenschaftlichen Tatsachenforschung. Zwischen den 1950er und späten 1970er Jahren beschäftigte die „Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung“ (HIPF) vom Schuldienst abgeordnete oder beurlaubte Lehrpersonen als wissenschaftliche Mitarbeiter_innen. Praktische Problemlagen, die sie im Unterricht oder in Diskussionen auf Fachtagungen identifiziert hatten, waren der Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen von Kleingruppen im Schul- und Unterrichtsalltag. Reh zeigt auf, wie damit eine pragmatische Form der Bildungsforschung erziehungswissenschaftliches Wissen erzeugte, das sich in der Produktion gegenüber heute aktueller empirischer Bildungsforschung durch einen praxisnahen Forschungszugang und den Einsatz eines breiten Spektrums sozialwissenschaftlicher Methoden auszeichnete. Monika Mattes fragt in ihrem Beitrag nach der diskursiven Vorgeschichte der Annahme, dass Wohlbefinden schulischen Leistungserfolg vorhersage. Ihre These ist, dass sich ab den 1970er Jahren eine Rhetorik im kulturellen Leitbild des Schulwesens ausbreitete, die dem subjektiven Befinden der Schüler_innen und Lehrpersonen einen höheren Stellenwert zuschreibt. Ausgehend von der Gesamtschuldebatte rekonstruiert sie die Zirkulation der Wissensbestände in den Feldern Öffentlichkeit, (empirische) Forschung und Schulpraxis und zeigt, dass Wohlbefinden in den Diskursen kein trennscharfes Konzept war, sondern sich als Konglomerat aus Werten und Emotionen darstellt, das „den Übergang zum ‚therapeutischen Zeitalter‘ markierte“ (202). Schließlich untersucht Heinz-Elmar Tenorth die Wissensproduktion der wissenschaftlichen Pädagogik in der DDR. In seinen Analysen werden „die Vernetzung von Wissenschaft und Politik, die eigene Praxis der Wissenschaften und auch der Umgang der Wissenschaften mit den Erwartungen und Prämissen ihrer Umwelt zentral“ (213). Tenorths systematische Analyse interner Logiken der Erziehungsforschung und externer Logiken der – politischen – Umwelt zeigt, dass die theoretische und methodische Entwicklung der Pädagogik in Widersprüche mit den kommunistischen Vorhaben der politischen Führung gerät. Aber selbst dann, wenn die Erziehungsforschung der Ideologie des Systems folgt, gibt sie ihre eigene Forschungslogik auch gegen den Einspruch der Politik nicht auf.
Mit den im 63. Beiheft der „Zeitschrift für Pädagogik“ publizierten Beiträgen findet eine folgenreiche Verschiebung in der Analyse von bildungspolitischem und erziehungswissenschaftlichem Wissen statt. Während Oelkers und Tenorth zu Beginn der 1990er Jahre im 27. Beiheft der „Zeitschrift für Pädagogik“ unter dem Titel „Pädagogisches Wissen“ die Funktionen, Strukturen und Charakteristika der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Wissen beschrieben und Möglichkeiten der Verbesserung von pädagogischem Wissen aufgezeigt haben, geht es nun um die historische Analyse der Wissensproduktion. Protokollen und Materialien über die Arbeit in politischen und pädagogischen Ausschüssen und Institutionen wird so eine größere Bedeutung eingeräumt. Eine solche Sichtweise hat drei Konsequenzen: Erstens lassen sich neue Akteure erziehungswissenschaftlicher Wissensproduktion identifizieren, wie etwa bei Reh beurlaubte Lehrer_innen, die durch ihre Sonderstellung als wissenschaftliche Mitarbeiter_innen neue Wissensformen hervorbringen, oder, so bei Glaser oder Grube, Institutionen, die als wissenschaftliche Akteure jenseits der Universitäten zur Etablierung neuer Typen von Wissen beitragen. Das führt, zweitens, dazu, dass externalistische und internalistische Momente der Wissensproduktion, wie beispielsweise Tenorths Beitrag zeigt, aufeinander bezogen werden. Drittens kann nicht von einem bestehenden Begriff des erziehungswissenschaftlichen Wissens ausgegangen werden, sondern die Rekonstruktion des Wissensbegriffs ist ein zentraler Bestandteil der Analyse von Wissensproduktionen. Die im Beiheft enthaltenen Arbeiten machen deutlich, wie die Perspektive der Wissensgeschichte in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin dazu beitragen kann, unterschiedliche wissenserzeugende Akteure, widerstreitende und parallele Entwicklungen sowie Brüche und Kontingenzen in der Wissensproduktion sichtbar zu machen. Gleichzeitig eröffnet ein wissensgeschichtlicher Zugang die Thematisierung der Funktion und Legitimität unterschiedlicher Wissensformen.