Tragische Todesfälle von Säuglingen und jüngeren Kindern haben in den letzten zehn Jahren eine gesamtgesellschaftliche Diskussion zum Umgang der Jugendhil-fe mit Kinderschutzfällen ausgelöst. Vernachlässigte oder zu Tode gekommene Kinder rückten in den Fokus der Öffentlichkeit, der Fachöffentlichkeit und der Poli-tik. Gesetzliche Neuregelungen trugen unter anderem in Deutschland dazu bei, dass Jugendämter ihr Wächteramt wesentlich deutlicher wahrnehmen und sich häufiger in der Verpflichtung sehen, insbesondere jüngere Kinder in Obhut zu nehmen, um das Kindeswohl sicher zu stellen. Inzwischen haben Jugendämter zahlreiche Verfahren entwickelt, mit denen ein strukturiertes Vorgehen der Prüfung von Kindeswohlgefährdungen ermöglicht werden soll.
Die Studie von Marion Pomey wurde in der Schweiz durchgeführt und von der Uni-versität Zürich als Dissertation angenommen. Für die deutsche Leserin ist es inte-ressant, dass in der Schweiz im Gegensatz zur Zunahme der Inobhutnahmen in Deutschland in den letzten Jahren kein Anstieg der Kinderschutzmaßnahmen fest-gestellt werden kann (102). Pomey erklärt den Unterschied der quantitativen Ent-wicklung mit den unterschiedlichen Rechtslagen der beiden Länder (22), wobei dieser nicht Fokus ihrer Untersuchung ist. Trotz der Unterschiede sind Kinder-schutz, Inobhutnahme und Fremdunterbringung in der frühen Kindheit sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz Bereiche, in denen sich die öffentliche Auf-merksamkeit auf Familien verstärkt hat und zunehmend im Zentrum des fachlichen Handelns steht.
Pomey untersucht in ihrer Arbeit die sozialpädagogische Praxis bei Entscheidungs-prozessen über (Fremd-)Unterbringung von Säuglingen und Kleinkindern sowie deren Legitimation. Es geht ihr vor allem um die Frage, wie eine sozialpädagogische Entscheidung zur Unterbringung eines von Kindeswohlgefährdung betroffenen Kindes gefällt und begründet wird, ob Gründe zur Reproduzierung von sozialer Un-gleichheit sichtbar gemacht werden können und inwieweit zum Beispiel die Balan-ce zwischen Hilfe und Kontrolle sowie Ermächtigung und Entmachtung von Fami-lien im Hilfeverlauf bei einer Inobhutnahme eine entscheidende Rolle spielen. Mit Blick auf Konzepte der Vulnerabilität bestimmt die Autorin „Kindeswohlgefährdung als Vulnerabilität von Kindern“ (S. 54). Kindeswohlgefährdung wird als familiale Kri-se verstanden, die durch eine sozialpädagogische Krisenintervention bearbeitet wird. Mit Blick auf eine umfassende Auswertung zum Forschungsstand sozialpäda-gogischer Interventionen in der frühen Kindheit resümiert Marion Pomey, dass es weiterer Forschung bezüglich der Kontextgebundenheit sozialer Interaktionen bei Entscheidungen sozialpädagogischer Interventionen bedarf, wobei insbesondere der Einfluss der Adressaten und Adressatinnen (in ihrer Studie vor allem der Ein-fluss von Müttern) von Interesse sein könnte.
Vor diesem Hintergrund begründet Pomey die ethnographisch-prozessrekonstruktive Ausrichtung ihrer Studie. Auf der Grundlage einer teilneh-menden Beobachtung (unter anderem in einer Gruppe der Krisenintervention) legt die Untersuchung relevante Orte der Entscheidungsfindung fest. Aus Beobach-tungsprotokollen, Berichten, internen Protokollen und transkribierten Gesprächs-aufnahmen werden insgesamt zwölf Verläufe von Fremdunterbringungen unter Rückgriff auf das theoretische Sampling analysiert. Aus dem Material werden fünf Verlaufstypen von Fremdunterbringungsprozessen nachgezeichnet. Diese werden wie folgt beschrieben: 1. Zunehmende elterliche Entmachtung und Exklusion, 2. Scheitern elterlicher Ermächtigung und Partizipation, 3. Machtunterschiedenheit und Interventionsverlängerung, 4. Entmachtende Ermächtigung und elterlicher Be-treuungswechsel und 5. Elterliche Ermächtigung. Die Rekonstruktion der ersten beiden Verlaufstypen wird mit Hilfe des umfangreichen Datenmaterials ausführlich vorgestellt und begründet. Die Leser bzw. die Leserin kann so anhand zwei unter-schiedlicher Fallverläufe spannende Aspekte wie die Entstehung von Machtbalan-cen und Machverschiebungen sowie die entscheidungsrelevanten expliziten und impliziten Themen und Bedingungen am Material nachvollziehen.
Zunächst überrascht es nicht, dass auch diese Studie die Norm-, Kontext- und Situ-ationsgebundenheit von Entscheidungsprozessen im Kinderschutz zeigt (Hinweise hierzu finden sich z.B. auch bei Seckinger 2012 [2]; Schone 2012 [1]). Auch ist es nicht verwunderlich, dass die Wirkmächtigkeit des Familienideals für die Entschei-dungspraxis (noch immer) als zentral herausgearbeitet wird. Die Studie von Pomey zeigt, dass sich kindeswohlsicherndes Verhalten mit einer Idealvorstellung von für-sorglicher Elternschaft verknüpft. Interessant ist jedoch, dass dieses als Begrün-dung angeführt wird, warum die Mehrdeutigkeit von Fällen vereindeutigt wird. Pro-fessionelle Deutungen, Praktiken und Routinen alltäglicher Situationen vereindeu-tigen demnach Fälle und treffen auf dieser Basis Entscheidung, was zugleich Eti-kettierungs- und Zuschreibungsprozesse befördert. Letztlich, so die Argumentation von Marion Pomey, sind die Entscheidungsprozesse vor allem davon abhängig, inwieweit eine Distanzierung vom normativen Deutungsmuster stattfindet. Dieses führt in den nachgezeichneten Fällen eher zur elterlichen Exklusion und Entmach-tung. Bei einer Annäherung bzw. Entsprechung der Vorstellungen von „guter El-ternschaft“ kann dagegen eher eine Ermächtigung bzw. Partizipation der Adressa-ten bzw. Adressatinnen festgestellt werden. Beim Gleichbleiben im Sinne einer Persistenz und Stagnation können schließlich häufig Machtunentschiedenheit, eine partielle Mitbestimmung und mitunter Interventionsverlängerungen beobachtet werden. Auffällig ist zudem, dass neuen Informationen und damit der Möglichkeit den Fall neu zu verhandeln, eher nicht nachgegangen wird. Die Chance, zu offe-nen revisionsfähigen Deutungen zu gelangen, wird somit kaum genutzt.
Insgesamt handelt es sich um eine sehr lesenswerte Studie, die die Vulnerabilität von Kindern im Kindesschutz in den Blick nimmt und auf die Erfahrung weiterer Vulnerabilität während des Verlaufes der (Fremd-)Unterbringung aufmerksam macht. Die Analyse der Entscheidungsprozesse liefert neue Erkenntnisse zur Wirkmächtigkeit des Familienideals, zur Vulnerabilität von Kindern in Fremdunter-bringungen und der Vereindeutigung von Mehrdeutigkeit in Entscheidungsprozes-sen. Der Studie gelingt es, analytisch aufzuzeigen, wie und in welchen komplexen und anspruchsvollen Handlungsbedingungen die Professionellen im Bereich des Kinderschutzes mit all seinen Ungewissheitsbedingungen und normativen gesell-schaftlichen Erwartungen agieren und entscheiden. Vor diesem Hintergrund ist auch die abschließende Forderung der Studie nach mehr Forschung zur Perspekti-ve von Kindern zu unterstützen, die für die sensiblen Entscheidungsprozesse hilf-reich sein könnte. Hinzugefügt werden sollte, dass neben der Vulnerabilität von Kindern in Fremdplatzierungsprozessen auch die Vulnerabilität von Eltern nicht auszuschließen ist und auch in diesem Bereich Forschungsdesiderate anzugehen sind (vgl. Gies u.a. 2016 [3]). Die vorliegende Studie zeigt letztlich anschaulich, dass sich über das Konzept der Verwundbarkeit eine Typologie von Fremdunterbrin-gungssprozessen entwickeln lässt, die auch für weitere Forschung hilfreich ist.
[1] Schone, R. (2012): Rolle und Aufgabe des Jugendamts/ASD im Kontext von Kindeswohlgefährdung, in: Schone, R./Tenhaken, W. (Hg.), Kinderschutz in Ein-richtungen und Diensten der Jugendhilfe, Weinheim/Basel: Juventa, S. 53-83.
[2] Seckinger, M. (2012): Kinderschutz in der Migrationsgesellschaft – Fachliche Rahmungen, in: Jagusch, B./Sievers, B./Teupe, U. (Hg.), Migrationssensibler Kin-derschutz, Regensburg: Wahlhalla Fachverlag, S. 26-36.
[3] Gies, M./Hansbauer, P./Knuth, N,/Kriener, M./Stork, R. (2016): Mitbestimmen, mit-gestalten: Elternpartizipation in der Heimerziehung, hrsg. von Evangelischer Erzie-hungsverband e.V. (EREV), Beiträge zu Theorie und Praxis der Jugendhilfe 15, Hannover: Schönworth Verlag.
EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)
Vulnerabilität und Fremdunterbringung
Eine Studie zur Entscheidungspraxis bei Kindeswohlgefährdung
Weinheim: Beltz Juventa 2017
(300 S.; ISBN 978-3-7799-3472-1; 34,95 EUR)
Nicole Knuth (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Knuth: Rezension von: Pomey, Marion: Vulnerabilität und Fremdunterbringung, Eine Studie zur Entscheidungspraxis bei Kindeswohlgefährdung. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993472.html
Nicole Knuth: Rezension von: Pomey, Marion: Vulnerabilität und Fremdunterbringung, Eine Studie zur Entscheidungspraxis bei Kindeswohlgefährdung. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993472.html