Dass Essen mehr ist als bloße körperliche „(Er-)Nährung“ ist offenkundig. Essen ist soziales Setting, in vielerlei Hinsicht Ort von Erziehungs- und Bildungsprozessen. Dass Essen als Forschungsgegenstand bisher hauptsächlich den Ernährungswissenschaften und der Medizin vorbehalten und zugleich von der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung fast stiefmütterlich behandelt wurde, stellt somit eine bedauerliche Tatsache dar. Erst in den letzten Jahren rückt das Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag langsam in das Interesse der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung. Gleichwohl stellt dieses Thema immer noch ein Forschungsdesiderat nicht geringen Umfangs dar. Vicki Täubig nimmt sich dieses Befundes an und versammelt dafür einen großen Teil der im Bereich der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Essensforschung einschlägig bekannten Forscher_innen auf den Seiten ihres Sammelbandes.
Essen bestimmt in hohem Maße den Erziehungs- und Bildungsalltag von Kindern und Jugendlichen. Sowohl in der Familie als auch in öffentlichen Bildungseinrichtungen nehmen Essen und Essenssituationen einen wichtigen Stellenwert ein. Das (gemeinsame) Essen strukturiert den Alltag, bedient (Für-)Sorgeaufgaben und beherbergt Bildungs- und Erziehungsmomente. Während sich familiale Essenssituationen aufgrund von veränderten Lebensbedingungen, der erhöhten zeitlichen Einbindung in Erwerbstätigkeiten und dem damit in Verbindung stehenden Ausbau der öffentlichen Bildungseinrichtungen jedoch immer mehr im Auflösen befinden, gewinnen Bildungseinrichtungen in Bezug auf Essen immer mehr an Bedeutung. Essen ist aus dem pädagogischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Somit gerät das Essen in Bildungseinrichtungen vermehrt in das öffentliche Interesse und zugleich in die Hände verschiedener Akteur_innen.
Dieser organisationalen Ausweitung nehmen sich Täubig und Autor_innen an. In insgesamt zwölf Aufsätzen spannen sie einen weiten Bogen über die aktuelle Forschungslage und gehen zugleich pointiert einzelnen Phänomenen innerhalb dieses Feldes nach. Im Anschluss an zwei Überblicksartikel, die zum einen einen Abriss über den britischen Forschungsstand zum Essen in Erziehung und Bildung mit Bezugnahme auf Machtaspekte geben (Samantha Punch, Ruth Emond, Ian McIntosh, Claire Lightowler) und zum anderen Essen innerhalb der (Sozial-)Pädagogik historisch und global einordnen (Hans Günther Homfeldt), folgen zwei empirische Themenblöcke: Block I befasst sich mit Untersuchungen zum Essen im familialen Kontext, während sich Block II dem Essen im Kontext von öffentlichen Bildungseinrichtungen widmet. Mit Ausnahme eines Beitrags werden in den Aufsätzen qualitative Untersuchungsdesigns vorgestellt, in denen wiederum ethnografische Zugänge überwiegen. Die Beiträge werden durch Einleitung und Ausblick von Vicki Täubig gerahmt. Sie stellt anschaulich dar, in welche Forschungslücken der Band greift – die Erforschung des konkreten Essalltags in Familien und Bildungseinrichtungen – und welche er eröffnet – die Relevanz der Erforschung von Essen in Bezug auf Ungleichheit und Diversity und die Hinwendung einer Essensforschung zu klassischen Blickrichtungen von Organisationsforschung.
Zum Gegenstand in Block I werden die Herstellung des familialen Essalltags in Deutschland und Frankreich (Maike Bauer), die Ritualität des Essalltags in Familien (Kathrin Audehm), die Familienmahlzeit im Kontext von Erziehung und Bildung (Dominik Krinninger) und der Zusammenhang von Familienform und sozioökonomischem Status auf die Qualität der Ernährung (Max Herke, Astrid Fink, Irene Moor, Matthias Richter). In Block II werden in den Blick genommen: die Rolle des Essens in der Kita als Bildungsort (Marc Schulz), Gesundheit als Leitfigur des Schulessens (Rhea Seehaus, Tina Gillenberg), das schulische Mittagessen als von divergenten Anforderungen herausgefordertes Setting (Anna Schütz) und die Funktion der gemeinsamen Mahlzeit in der Heimerziehung (Nora Adio-Zimmermann, Michael Behnisch, Lotte Rose).
Besonders eindrücklich ist die Einteilung der Beiträge in zwei Blöcke nicht nur deshalb, weil diese den zeitlichen Verlauf des Forschungsstandes wiedergibt, sondern weil beim chronologischen Durchgang durch den Band die Verschränkung von Essen in familialen und organisationalen Kontexten sehr gut deutlich wird. Schon innerhalb der einzelnen Beiträge, wird immer wieder auf diese Verflochtenheit hingewiesen, durch die Anordnung der Beiträge wird diese aber noch expliziter. Somit stehen die einzelnen Aufsätze nicht lose nebeneinander, sondern ergänzen sich zu einem komplexen Ganzen.
Durch Verschiebungen der Grenzen von Familie und Schule, kommt es zu einer Veränderung der Zuständigkeiten für Essen und Ernährung, werden Essen und Ernährung aus dem privaten in den öffentlichen Raum verlagert und geraten somit in den Blick vieler Augen. Vermeintlich mangelhafte innerfamiliale Ernährung, soll durch Bildungsinstitutionen ausgeglichen werden, zugleich gilt es den vergemeinschaftenden Charakter von Familienmahlzeiten aufrecht zu erhalten. Der generelle Leistungsanspruch an Mahlzeiten in Bezug auf Erziehung und Bildung, erhält durch organisationale Rahmenbedingungen einen neuen Charakter.
Beim Lesen eröffnet sich die Frage, ob der (Für-)Sorgecharakter von Essen im Bereich der Familie nicht vielmehr als (Für-)Sorge des Gebildes Familie zu sehen ist, wohingegen (Für-)Sorge im Bereich der Bildungsinstitutionen aufgrund ihrer Öffentlichkeit vor allem ausreichende und gesunde Versorgung repräsentieren muss. Einem Innen stünde somit ein Außen entgegen. Auch Täubig verweist darauf, wenn sie in ihrem Ausblick davon spricht, dass sich im Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag sowohl Familie und Bildungsinstitution als auch Gesellschaft widerspiegeln.
Ins Blickfeld gerät in den einzelnen Beiträgen zudem immer wieder die (Re-)Produktion der Differenzlinien Generation, Geschlecht und Klasse in und durch Essen und Essenssituationen. Im Ausblick verweist Täubig zudem auf die Differenzlinien Dicksein und Ethnizität in Zusammenhang mit Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag. Beide stellen über die in den Beiträgen herausgearbeiteten Differenzlinien hinaus höchst aktuelle und wichtige zu erforschende Felder im Bereich der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Essensforschung dar.
Täubigs Band ist eine dringend notwendige Neuerscheinung innerhalb der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung zum Essen in Familie und Bildungseinrichtungen. Dass der Thematik des Essens ein derart breiter Raum als eigenständigem Forschungsschwerpunkt eingeräumt wird, stellt ein absolutes Alleinstellungsmerkmal der Veröffentlichung dar. Sie macht es möglich, sich dem Thema Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag auch über einen Sammelband und nicht nur über verschiedene einzelne Artikel annähern. Somit bietet diese Publikation sowohl Forschenden als auch Studierenden und pädagogisch Professionellen einen umfassenden Überblick über das Thema und eröffnet neue empirische Perspektiven. Er ist anregende Lektüre und bietet Raum für die Entstehung eigener Forschungs- und Handlungsideen. Als Veröffentlichung, die einen konkreten (Forschungs-)Einblick in den Essalltag von Familie und Schule bietet, bleibt zu wünschen, dass der Band eine Vorreiterfunktion einnimmt, an die andere wiederum anknüpfen können.
EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)
Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag
Weinheim: Beltz Juventa 2016
(234 Seiten; ISBN 978-3-7799-3321-2; 29,95 EUR)
Lara Pötzschke (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lara Pötzschke: Rezension von: Täubig, Vicki (Hg.): Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag. Weinheim: Beltz Juventa 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993321.html
Lara Pötzschke: Rezension von: Täubig, Vicki (Hg.): Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag. Weinheim: Beltz Juventa 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993321.html