Der Kinderschutz ist ein zentrales Tätigkeitsfeld für Sozialarbeit und Sozialpädagogik mit Kindern und Jugendlichen und er steht seit gut 15 Jahren unter verschärfter Beobachtung durch Öffentlichkeit, Politik und auch diejenigen Sozialwissenschaften, die sich mit den Risiken, Häufigkeiten und Formen von Gewalt gegen Kinder wie auch den entsprechenden institutionellen und rechtlichen Reaktionen auseinandersetzen. Während sich Praktiker*innen vor allem mit Verfahrensänderungen, interprofessioneller Vernetzung und Neuverteilung professioneller Zuständigkeiten (Frühe Hilfen) konfrontiert sehen, beginnt die akademische Seite der Profession unter dem Stichwort „Kinderzentrierung“ ihre eigenen wissenschaftlichen Wissensbestände zu sichten, auszuweiten und in Teilen auch zu revidieren. Vor diesem Hintergrund wollen Kay Biesel und Ulrike Urban-Stahl – beide arbeiten schon seit Langem zum Thema des Bandes – „einen Basistext zum Kinderschutz zur Verfügung [stellen]“ (12). Den Bezugspunkt stellt Deutschland dar, wobei die Autor*innen darüber hinaus Österreich und die Schweiz als Vergleichsfälle mit einbeziehen. Mit dem Buch sollen die „wissenschaftlichen und professionellen Grundlagen“ (12) vermittelt werden. Die Dualität von akademischem und praktischem Wissen des professionellen Kinderschutzes prägt das Lehrbuch und macht es zu einem bemerkenswerten Dokument genau jenes institutionellen Feldes, in das die Leser*innenschaft eingeführt werden soll.
Die insgesamt 14 Kapitel sind in drei Teile gegliedert: Die ersten sieben Kapitel umfassen „Grundlagen“, Kapitel acht bis zwölf werden als „Vertiefungen“ zusammengefasst und die letzten beiden Kapitel sollen als „Erweiterungen“ verstanden werden.
Die ersten Kapitel zu den Grundlagen entwickeln einen im weitesten Sinne sozialkonstruktivistischen Blick auf die Phänomene Kinderschutz, Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung sowie Familie und kindliche Bedürfnisse. Sie betonen damit die sozialen Bedingungen und Wandlungsprozesse der Phänomene. Demgegenüber orientiert sich die Darstellung der Formen und Folgen von Gewalt sowie ihrer familiären Bedingungen und Ursachen eher an sozialpädagogischen Ansätzen, psychologisch-kriminologischen Theorien und medizinischer Klassifikation. Auch hier zeigt sich der duale Verpflichtungscharakter des Lehrbuchs gegenüber wissenschaftlicher Disziplin und professioneller Praxis. Dabei werden zwar zentrale Begriffe, Texte und Einsichten der gegenwärtigen Fachdiskussion vorgestellt und kritisch diskutiert, die Konsequenzen, die sich daraus für die professionelle Praxis ergeben (könnten), aber kaum expliziert. Hier wird vor allem Zeugnis vom modus operandi des Feldes abgelegt.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den emotionalen Ambivalenzen (Kapitel 8), mit den rechtlichen (Kapitel 9) und organisationalen Rahmenbedingungen (Kapitel 10 und 11) des Kinderschutzhandelns sowie mit dem in Deutschland geltenden Verfahren der Gefährdungseinschätzung (Kapitel 12). Biesel und Urban-Stahl nutzen dafür die Folie des Akteurs-Dreiecks Eltern – Kind – Staat, um in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Hilfe- und Unterstützungskatalog der Kinder- und Jugendhilfe und auch die strafrechtlichen Konsequenzen einzuführen. Die Organisationen des Kinderschutzes werden als gemeinwohl- und klient*innenorientierte personenbezogene Dienstleistungsorganisationen charakterisiert, während die Einbindung weiterer Organisationen und Expert*innengruppen aus dem Umfeld des Kinderschutzes (v.a. Schulen, Polizei, Ärzt*innen und Psycholog*innen) die Handhabung diverser Interventionslogiken mit sich bringt. Das Kapitel zu den Gefährdungseinschätzungen bietet schließlich eine Einführung in die professionelle Praxis bei Verdachtsmeldungen sowie eine Diskussion von Erfassungsbögen.
Der dritte und letzte Teil – „Erweiterungen“ – ist den jüngeren Entwicklungen des Kinderschutzes gewidmet, nämlich der Etablierung der Frühen Hilfen (Kapitel 13) und der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz (Kapitel 14). Beides sind ersichtlich eine Herausforderung professioneller Zuständigkeiten. Biesel und Urban-Stahl sehen die Grenzen der Frühprävention dort, wo sie Kontrolleffekte zu entwickeln droht (und damit den Fachkräften der Sozialdienste das Leben schwer machen könnte), während die Qualitätsentwicklung durchaus positiv als Chance zur Ausbildung einer Fehlerkultur begriffen wird.
Insgesamt wird das Feld thematisch angemessen abgedeckt und verständlich präsentiert. Die einzelnen Kapitel umfassen dabei drei Typen an Wissen, das vermittelt wird: wissenschaftliches Wissen, institutionell-praktisches Feldwissen (Rechtstexte, professionelle Begriffe und Arbeitskonzepte) sowie ein didaktisches Wissen für Lehre und Selbststudium, das über Symbole am Textrand ausgeflaggt wird. Dieses beinhaltet vor allem Anregungen zu Reflexion und Diskussion, Seminarübungen und Rechercheaufgaben. Diese unterschiedlichen Wissenstypen sind in einem Lehrbuch zu erwarten. Die gewählte Darstellung erlaubt es Biesel und Urban-Stahl aber auch, zwischen den Registern der akademischen und praktischen Wissensbestände hin- und her zu wechseln. Ein auflistender Präsentationstil von Konzepten und Theorien verhindert bisweilen allerdings die explizite Verknüpfung der unterschiedlichen Wissensbestände oder macht dies zur didaktischen Aufgabe für die Leser*innenschaft. Mitunter verlassen sich Biesel und Urban-Stahl auch auf situiertes Feldwissen, ohne ihre Behauptungen explizit zu belegen. Der Verweis auf die Einigkeit der Expert*innen muss dann genügen.
Zwei thematische Ausblendungen sind aufzuführen. Auch wenn die Familie den für Kinder gefährlichsten Raum darstellt, bleibt die Einführung in den Kinderschutz erstens weitestgehend auf den privaten Raum beschränkt. Missbrauch in institutionellen Kontexten (z.B. in Kirchen, Vereinen oder Bildungseinrichtungen) wird nur am Rande erwähnt. Zweitens wird zwar die gängige Klassifikation von Misshandlungsformen vorgestellt, es wird aber nicht auf Inzidenzen, Prävalenz- und Rückfallraten für Gewalthandeln eingegangen. Kein Wort etwa zur Polyviktimisierung, zur Gewalt zwischen Geschwistern oder zur Fatalität von Vernachlässigung. Ist bereits die deutschsprachige Forschung zur Viktimisierung nur begrenzt vorhanden, so besitzt dieses Wissen für die professionelle Praxis wohl erst recht keine Relevanz.
Letztlich – und das ist der dokumentarische Charakter dieses Lehrbuches – zeigt sich die normative Verpflichtung auf das professionelle Selbstverständnis und die traditionellen familialistischen Diskurse des Kinderschutzes. Dies zeigt sich in der Naturalisierung des Kindes, die sich trotz des vorangestellten sozialkonstruktivistischen Rahmens immer wieder in die Argumente einschleicht: etwa wenn kindspezifische Bedürfnisse (Grenzen) und Emotionen (die universale Liebe zu den Eltern) unterstellt oder ein bestimmter Erziehungsstil (autoritativ) favorisiert werden. Zweitens besteht eine Schieflage in der Diskussion um Gewalt, in der die einmalige Ohrfeige – ein geradezu unwahrscheinliches Ereignis und im Zweifel Legitimationsrhetorik der Eltern – als Prüfstein für die Inobhutnahme herangezogen wird. Im Kontext häuslicher Gewalt würde man erwachsenen Opfern da gerade vom Verbleib in der Beziehung abraten und darauf verweisen, dass diese Tat kaum die letzte bleiben dürfte. Das Kind wird letztlich nicht als Träger*in individueller Personenrechte gedacht, vor dessen Hintergrund man die bestehenden Strukturen und Rechtsbegriffe hätte problematisieren und als professionelles Entwicklungsprojekt begreifen können.
Insofern wird diese Einführung in den Kinderschutz zwar dem Gegenstand gerecht und bietet den Leser*innen eine solide Grundlage, um sich in den bestehenden Strukturen und Praxisformen zurechtzufinden. Zugleich schöpft das Lehrbuch das bestehende Potenzial vorhandenen wissenschaftlichen Wissens für die Reflexion professioneller Praxis leider nicht aus.
EWR 19 (2020), Nr. 1 (Januar / Februar)
Lehrbuch Kinderschutz
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018
(372 S.; ISBN 978-3-7799-3083-9; 19,95 EUR)
Lars Alberth (LĂĽneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lars Alberth: Rezension von: Biesel, Kay / Urban-Stahl, Ulrike: Lehrbuch Kinderschutz. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 1 (Veröffentlicht am 18.03.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993083.html
Lars Alberth: Rezension von: Biesel, Kay / Urban-Stahl, Ulrike: Lehrbuch Kinderschutz. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 1 (Veröffentlicht am 18.03.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377993083.html