Der Bildungserfolg hängt in der Bundesrepublik stark von der sozialen Herkunft ab. Der PISA-Schock hat wieder die Diskussion über das mehrgliedrige Schulsystem ausgelöst. Die Hauptschule stand im Fokus der bildungspolitischen Aufmerksamkeit. Es gibt einerseits die These der öffentlichen Stigmatisierung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern bzw. der Krisenhaftigkeit dieser Schulform. Andererseits wird die Hauptschule vom bayrischen Kulturministerium in einer Werbebroschüre (2008) als „Schule der Zukunft“ bezeichnet. Die Berufsbiografien der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sind hauptsächlich praxisorientiert. Somit werden Schülerinnen und Schüler, die zu einem stark überdurchschnittlichen Anteil aus sozial benachteiligten Elternhäusern stammen, auf Ausbildungen für jene Berufe vorbereitet, die in der Konkurrenz mit Realschülerinnen und -schülern bzw. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten übrig bleiben. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die soziale Schichtzugehörigkeit durch die Wahl des Schultyps Hauptschule zur Selbst-Reproduktion tendiert. Internationale Vergleiche zeigen, dass das deutsche Schulsystem wenig in der Lage ist, soziale Herkunftseffekte zu kompensieren.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es in Deutschland eine Flucht aus der Hauptschule gegeben. Derzeit besuchen 16 Prozent die Hauptschule, wobei es regionale Unterschiede gibt. Viele Hauptschulstandorte müssen aufgegeben werden. Die Grundsatzfrage nach der Schulstruktur in Deutschland erhält dadurch eine neue Aktualität.
Die vorliegende Dissertation untersucht, warum welche Reformen der Schulstruktur im Jahrzehnt nach den ersten PISA-Veröffentlichungen vorgeschlagen wurden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den Lebenslagen und den Zukunftsperspektiven der bisherigen Bildungsverliererinnen bzw. -verlierer, was sie sich durch Schulstrukturreformen erhoffen können. Dabei stellt sich die Frage, wie hoch der ungleichheitskompensierende Effekt einer sozialen und demokratischen Schulstrukturreform überhaupt sein kann. Maßnahmen werden in ihrer Wirkung oft überschätzt. Es wird nach den Implikationen gefragt, die mögliche Schulstrukturreformen insbesondere für die bisherigen Bildungsverliererinnen bzw. -verlierer haben. Sie erleben Bildungsinstitutionen als Orte der Beleidigung und Demütigung. Die Zeugnisse bestätigen ihnen scheinbar objektiv, unterhalb des Leistungsdurchschnittes gelandet zu sein. Die Schule tut jedoch auch nicht den Besten unter ihnen unbedingt gut. Sie hat die Funktion der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, die auf die Eigenheiten und Lernvoraussetzungen ihrer Schülerinnen und Schüler wenig Rücksicht nehmen kann bzw. darf.
Eine Prämisse der Dissertation von Anke Clasen ist, dass das deutsche Schulsystem in der Vergangenheit und in der Gegenwart stark selektiv gewirkt hat bzw. wirkt. Es sind erhebliche soziale Disparitäten wirksam: Zum Beispiel haben Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status immer noch geringere Chancen auf den Besuch eines Gymnasiums, ebenso hinsichtlich der kognitiven Grundfähigkeiten und kulturellen Grundqualifikationen. Außerdem wird von der Autorin zum Ausdruck gebracht, dass Schulsysteme kapitalistischer Gesellschaften nicht so ungleichheitsfördernd sein müssen wie das deutsche Schulsystem. Zum Beispiel beeinflusst der sozioökonomische Status in skandinavischen Ländern (Finnland, Norwegen, Island) den Bildungserfolg nur sehr schwach, während dies in Deutschland noch immer sehr stark der Fall ist und er sogar über dem Durchschnitt aller OECD-Staaten liegt. Demnach sind Schulsysteme in der Lage, die Zusammenhänge von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu minimieren. Weiter ist es von Bedeutung zu wissen, dass ein politischer Reformprozess zwischen der theoretischen Möglichkeit eines sozial wenig selektiven Schulsystems und seiner faktischen Realisierung liegen muss. Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse sind im Bereich der Schulpolitik stark wahrnehmbar.
Das Hauptaugenmerk der Dissertation richtet sich auf das gegliederte Schulsystem und somit die äußere Schulorganisation. Die Autorin weist daraufhin, dass die brisanten schultheoretischen Fragen der inneren Schulorganisation weitgehend ausgeklammert bleiben. Die Arbeit ist wissenschaftssystematisch im Interaktionsbereich von mindestens drei akademischen Disziplinen angesiedelt: Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Bildungssoziologie. Ein Thema der Politikwissenschaft ist die Fragestellung nach der Zukunft der Hauptschule und ihrer Schülerinnen und Schüler. In diesem Zusammenhang meint Anke Clasen, dass der Kreis an Akteurinnen und Akteuren in diesen Debatten umfangreich sein soll: Interessensverbände, Medienvertreterinnen und -vertreter, Schülerinnen und Schüler, wobei kulturelle Traditionslinien und amorphe Standesinteressen auch eingebunden werden sollen. Die Erziehungswissenschaft liefert interessante Beiträge zur Aufklärung der Ursachen und Folgen der Hauptschulkrise und zu den schulstrukturellen Säulen. Im Bereich der Bildungssoziologie können Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit dargestellt, Diskriminierungserfahrungen ausgewertet, Kompetenzniveaus quantifiziert und Annahmen über die Linearität von Lehr-Lernverhältnissen verifiziert bzw. falsifiziert werden. Die empirische Bildungsforschung hat in den letzten Jahrzehnten analytische Instrumentarien zur Durchführung nationaler und internationaler Schülerleistungsstudien entwickelt: PISA, TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study), LAU (Lernausgangslagenuntersuchung), IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung). Damit können der Status quo von Schülerkompetenzen und die Leistungsfähigkeit ganzer Schulformen und -systeme erfasst werden. Die Befunde vom engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg erschütterten Meinungen, die bisher von der Leistungsgerechtigkeit des Schulsystems stark überzeugt waren.
Für Anke Clasen ist in der Arbeit die Formulierung gut begründeter, jedoch immer auch streitbarer Thesen sehr wichtig. Theoretische Konzepte und politische Programmatiken werden nicht allein nach ihrer immanenten Stimmigkeit, sondern danach befragt, welche politischen und ökonomischen Vor- und Nachteile mit ihnen für spezifische gesellschaftliche Interessengruppen verbunden sind. Die scheinbaren Selbstverständlichkeiten müssen ideologiekritisch aufgeklärt werden.
Anke Clasen setzt sich in ihrer Forschungsarbeit mit folgenden Thesen auseinander: Die finale Krise, in der sich die Hauptschule befindet, verurteilt Versuche zur restaurativen Stärkung dieser Schulform zum Scheitern. Die schärfste Opposition gegen egalitäre Schulstrukturreformen wird von der breiten Mittelschicht artikuliert, weil sie die gymnasiale Schulbildung ihres Nachwuchses als ein Mittel sozialer Statusverteidigung sieht. Reformen der Schulstruktur sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Verringerung sozialer Ungleichheit, denn Hierarchien in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung beseitigen auch die am ehesten egalitären Schulsysteme nicht.
Anke Clasen bettet ihre umfangreichen Analysen zur Hauptschulgeschichte in die Entwicklung des Bildungssystems und in den Verlauf des öffentlichen Medien- und Fachdiskurses darüber ein. Sie versucht Veränderungen im Bildungssystem durch komplementäre Entwicklungen auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene zu erklären. Die Schulform Hauptschule steht im Blickfeld ihrer Arbeit: Ursachen der Krise der Hauptschule, Umgang der betroffenen Schülerinnen und Schüler mit der Stigmatisierung der Bildungsverliererinnen bzw. -verlierer und Lösungsmöglichkeiten für diese Krise. Anke Clasen argumentiert stets auf der Basis profunder Quellen, formuliert präzise und pointiert. Laut Clasen ist die deutsche Hauptschule ein Auslaufmodell, denn sie befindet sich in einer Existenzkrise.
EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)
Bildung als Statussymbol
Hauptschule und Schulstrukturen nach PISA
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014
(342 S.; ISBN 978-3-7799-2956-7; 39,95 EUR)
Erika Rottensteiner (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erika Rottensteiner: Rezension von: Clasen, Anke: Bildung als Statussymbol, Hauptschule und Schulstrukturen nach PISA. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992956.html
Erika Rottensteiner: Rezension von: Clasen, Anke: Bildung als Statussymbol, Hauptschule und Schulstrukturen nach PISA. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992956.html