EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)

JĂŒrgen Budde / Nina Blasse / Andrea Bossen / Georg Rißler (Hrsg.)
HeterogenitÀtsforschung
Empirische und theoretische Perspektiven
Reihe: Edition Erziehungswissenschaft
Weinheim: Beltz Juventa 2015
(344 S.; ISBN 978-3-7799-2953-6; 34,95 EUR)
HeterogenitĂ€tsforschung Der Begriff HeterogenitĂ€t wird im Kontext von Schule und Unterricht zentraler Gegenstand der Diskussion. Im theoretischen Diskurs, in der empirischen Forschung sowie in der Schulpraxis wird der Begriff in unterschiedlicher Weise mit je divergenten Konzeptionierungen verwendet. Ob Differenzen nun als Herausforderung und / oder Chance begrĂŒndet werden: ihnen kommt offensichtlich eine hohe erziehungswissenschaftliche und schulpĂ€dagogische Relevanz zu. Der Sammelband betrachtet Schule nicht als neutrales Feld, in dem „Differenzen zur AuffĂŒhrung kommen“ (10), sondern sieht Schule selbstaktiv an der Genese von Differenzen und der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten beteiligt. Der Fokus wird dabei auf die impliziten und institutionellen Konstruktionsmechanismen von Differenzen und sozialen Ungleichheiten gelenkt. Durch einen praxistheoretischen Zugang wird dem pĂ€dagogischen Handeln und dem prozesshaften Charakter von Unterricht in diesem Sammelband in besonderer Weise Rechnung getragen.

Die 14 BeitrÀge des Bandes sind in eine Einleitung und drei thematische Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt (Theoretische Grundlegungen) wird Differenz aus unterrichts- sowie ungleichheitstheoretischer Perspektive betrachtet. Im zweiten Abschnitt (Theoretische Perspektiven auf empirische Daten) wird in deduktiver Weise empirisches Material auf Grundlage von verschiedenen Theoriekonzeptionen analysiert. In Abgrenzung werden dazu im dritten Abschnitt (Empirische Perspektiven auf Differenzkonstruktionen) aus empirischen Daten theoretische Aussagen rekonstruiert. Im Folgenden werden exemplarisch einzelne BeitrÀge nÀher vorgestellt.

Nach einer Einleitung folgt im ersten Teil ein Beitrag von JĂŒrgen Budde. Er prĂ€zisiert den Begriff „HeterogenitĂ€tsorientierung“ als aktuelles Paradigma der deutschen Schule und weist dabei auf die Problematik der VerkĂŒrzung des Begriffs „HeterogenitĂ€t“ hin. Hierin liegen ein gemeinsamer Ausgangspunkt und die zentrale Argumentationslinie ĂŒber die einzelnen BeitrĂ€ge hinweg. Entlang der Mikro-, Meso- und Makroebene werden zentrale Erkenntnisse und Desiderate der Schul- und Unterrichtsforschung systematisiert und eine empirisch abgeleitete Topografie unterrichtsbedeutsamer Dimensionen von Differenzkonstruktionen entwickelt. HeterogenitĂ€t sei, so die zentrale These des Beitrags und des Sammelbandes, nicht auf einen singulĂ€ren Begriff zu reduzieren, sondern als antinomisches und spannungsreiches Konzept in der Trias von IndividualitĂ€t, Differenz und UniversalitĂ€t zu analysieren. Damit gelingt es Budde, ein theoretisch fundiertes Modell zu eröffnen, das die empirische Analyse von Differenzkonstruktionen in Schule und Unterricht erlaubt.

Im Anschluss schließt Rolf-Thorsten Kramer an einen Befund des HeterogenitĂ€tsdiskurses an, indem er die VerĂ€nderung des Umgangs mit HeterogenitĂ€t in AbhĂ€ngigkeit zur Transformation von Lehrerinnen- und LehrermentalitĂ€ten und der damit in Beziehung stehenden Strukturgenese des deutschen Schulsystems sieht. Auf der Basis einer eingehenden Darstellung von zentralen Theorieaspekten Pierre Bourdieus schließt der Beitrag mit dem Ausblick ab, dass eine VerĂ€nderung der Denkfigur „HomogenitĂ€t“, gefasst als Habitusformation, auf eine ineinandergreifende Änderung von Strukturen, Funktionsmechanismen und Habitus angewiesen ist. Ein Vorschlag, wie sich die „Durchsetzung der Denkfigur HeterogenitĂ€t“ (57) gestalten könnte, wĂ€re an dieser Stelle interessant gewesen, ist allerdings nicht Anspruch des Beitrags.

Unterschiedliche Argumentationslinien und Herangehensweisen in ein stimmiges Gesamtformat zu gießen, ist eine grundsĂ€tzliche Herausforderung in SammelbĂ€nden. Auch vorliegend zeigt sich dies zumindest partiell, wie an der Einordnung des Beitrags von Norbert Wenning sichtbar wird. Wenning beleuchtet, am Beispiel der Kategorie „Migrationshintergrund“ als Form der Erfassung von Differenz, die Diskrepanz von HeterogenitĂ€tsvorstellungen und empirischer Wirklichkeit. Es ist fraglich, ob dieses Vorgehen unter dem thematischen Abschnitt „Theoretische Grundlegungen“ treffend platziert ist.

Albert Scherr schließt diesen Teil des Bandes ab, indem er sich der Systematisierung von soziokultureller HeterogenitĂ€t und sozialstrukturellen Ungleichheiten widmet. Scherr plĂ€diert fĂŒr ein VerstĂ€ndnis von Diskriminierung als Verwendung sozial etablierter Unterscheidungen zur Herstellung, BegrĂŒndung sowie Rechtfertigung von Ungleichheiten und leistet damit einen Beitrag zur Überwindung dieser Aufspaltung.

Den zweiten Teil des Sammelbandes eröffnet Michael Sertl mit einer soziologisch-diskursanalytischen Perspektive. Er fragt auf Grundlage von Theoriebausteinen Basil Bernsteins danach, wie das soziale Feld konstruiert ist, das den Topos HeterogenitĂ€t produziert. Sertl verweist beispielhaft anhand der Hamburger Schulreform auf die kulturelle Reproduktion der Bildungseliten und schließt mit der Frage ab, wie die HeterogenitĂ€ts- und Individualisierungsformen zum Leitmotiv fĂŒr die allgemeine Schule, also zum hegemonialen Diskurs im pĂ€dagogischen Feld werden können.

Ebenfalls in Bezugnahme auf die Theorie des pĂ€dagogischen Diskurses von Basil Bernstein analysiert Johanna Geßler in ihrem Beitrag „Hausaufgabenkontrolle im Unterricht“ ethnografische Unterrichtsprotokolle aus drei unterschiedlichen Schulformen. Im Ergebnis kommen drei unterschiedliche Gruppen von Praktiken in der Kontrollsituation von Hausaufgaben im Unterricht zum Tragen: organisatorische, erzieherische und inhaltlich-vermittelnde. Zudem konnten schulformspezifische Divergenzen festgestellt werden. Sie eröffnet damit einen möglichen Zugang zu einem Forschungsgebiet, das bislang eher vernachlĂ€ssigt wurde.

Anschließend betrachtet Bettina Fritzsche die praxistheoretische Perspektive und deren Potenzial bei der Analyse von Differenzproduktionen in der Schule. Durch die ausfĂŒhrliche theoretische Herleitung des Begriffs der Praktiken und die daraus resultierenden methodologischen Konsequenzen, trĂ€gt Fritzsche zur theoretischen SchĂ€rfung des Begriffs bei, die bis dahin in diesem Band zu kurz kam. In Ihren AusfĂŒhrungen verweist sie allerdings nicht auf die Herausforderung rekonstruktiver ForschungsansĂ€tze, von mikroskopisch generierten Beobachtungen, gefasst als Praktiken, auf makrostrukturelle PhĂ€nomene sozialer Ungleichheit zu schließen.

Nadine Rose fragt anknĂŒpfend an die theoretischen Überlegungen von Judith Butler in ihrem Beitrag, wie soziale Positionierungen als Resultat von immanenten Anrufungen im Unterricht produziert werden. Anhand des Auszugs eines biografisch-narrativen Interviews legt sie die Verwobenheit von „Doing SchĂŒler“ und „Doing AuslĂ€nder“ offen und wirft einen empirischen Blick darauf, wie ethnisch markierte Vorstellungen in der Schule wirksam werden. Diesen Teil des Sammelbandes schließt Georg Rißler mit einem praxistheoretischen Zugang ab. Dabei bilden zentrale Elemente der Theoriearchitektur von Theodore R. Schatzki das Fundament, mit welchem Rißler anhand eines Fallbeispiels das komplexe VerhĂ€ltnis zwischen sozialer und rĂ€umlicher Position aufzeigt.

Kerstin Rabenstein, Till-Sebastian Idel und Norbert Ricken eröffnen den dritten Teil und fragen in ihrem Beitrag danach, was genau in geöffneten Unterrichtsformen als Leistung gelten kann. Auf Grundlage von empirischen und theoretischen Befunden einer ethnografischen Studie kommen sie zu dem Befund, dass es in individualisierten Unterrichtsformen, die als Antwort auf eine zunehmend heterogen wahrgenommene SchĂŒlerschaft und das Problem der Bildungsungleichheit gesehen werden kann, zu einer Verschiebung der Leitdifferenz „Leistung“ kommt. Die Praktiken der Leistungshervorbringung werden abschließend mit der (Re-)Produktion sozialer Bildungsungleichheiten in Verbindung gebracht. Andrea Bossen betrachtet in ihrem Beitrag ebenfalls die Transformation der Konstruktion des Leistungsbegriffs. Sie fragt danach, wie schulische Leistung im Portfolio als Form alternativer Leistungsbewertung hergestellt wird.

Aus der SchĂŒlerinnen- und SchĂŒlerperspektive rekonstruieren Wiebke Waburg und Leonie Herwatz-Emden in ihrem Beitrag das Zusammenspiel von HomogenitĂ€tserwartungen und HeterogenitĂ€tskonstruktionen. Damit wird in diesem Band auch dem Blickwinkel der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler Rechnung getragen. Die Autorinnen arbeiten aus einer Gruppendiskussion mit SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern mittels der Dokumentarischen Methode implizite WissensbestĂ€nde heraus.

Nina Blasse stellt in ihrem Beitrag erste Analysen vor, wie sich Unterricht im Anspruch der Inklusion herstellt. Dazu analysiert sie nachvollziehbar ethnografisch erhobene Unterrichtssequenzen. Ihre Analysen fußen auf der These, dass Unterricht als soziales Interaktionsgeschehen ĂŒber das Anliegen der Inklusion in einen Transformationsprozess gerĂ€t. Blasse formuliert aufgrund ihrer Ergebnisse die These, dass die Heterogenisierung der Lern- und Lehrgruppe mit einer Heterogenisierung von Unterricht einhergeht. Damit wird der HeterogenitĂ€tsdiskurs um einen unterrichtstheoretischen Beitrag bereichert.

Mit Ausnahme der wenigen Limitationen gelingt dem Band eine systematische, empirische und theoretische Auseinandersetzung mit Schule als einer gesellschaftlichen Institution, die selbst an der (Re-)Produktion von sozialen Ungleichheiten beteiligt ist. Erste theoretische ErklĂ€rungsmodelle zur Konstruktion von HeterogenitĂ€t im schulischen Feld und die verschiedenen rekonstruktiven ForschungszugĂ€nge bieten viele interessante AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr erziehungswissenschaftlich Interessierte und Studierende.
Lena Brinkmann (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lena Brinkmann: Rezension von: Budde, JĂŒrgen / Blasse, Nina / Bossen, Andrea / (Hrsg.), Georg Rißler (Hg.): HeterogenitĂ€tsforschung, Empirische und theoretische Perspektiven Reihe: Edition Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz Juventa 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992953.html