Der auf zwei Tagungen zurückgehende Band verfolgt die übergreifende Frage, „ob und inwieweit Essen und Nahrung als Gaben oder sogar als Bildungsgaben begriffen werden können, [...] für Bildung und Bildungsprozesse bedeutsam sind und wie das Verhältnis von Bildung und (Nahrungs-)Gabe zu begreifen ist“ (9). Somit kreist der hier in unterschiedlichen Artikeln und Perspektiven abgebildete Diskurs um die Fragen, was Nahrung, Essen und Mahlzeiten – und eben nicht nur Nahrung, wie es der Titel vermuten ließe – mit den daran beteiligten Subjekten machen bzw. welche Bedeutungen und Funktionen darin jeweils eingelagert sind. Vor allem Gabe-Modelle fungieren in den Auseinandersetzungen mit diesen Fragen als Scharnier für die Verknüpfung von Nahrung und Bildung, fixiert die Gabe doch ein grundlegendes, bildungsrelevantes Alteritätsverhältnis. Das Geben und Nehmen von Nahrung wird als In-Verhältnis-Setzung verstanden, die die Angewiesenheit des Subjekts auf den Anderen betont. Daraus resultieren weiterführende Fragen danach, wer wem eigentlich was gibt, welche pädagogischen Verhältnisse dabei entstehen und welches Gabenverständnis bzw. welche Gabentheorie dem anthropologischen Zusammenhang von Nahrung und Bildung zu Grunde zu legen ist.
In drei Schritten werden diese Fragen bearbeitet: Im Kapitel „Nahrung als Gabe“ wird der Gegenstand bestimmt, um dann Aspekte der „Moral und Ethik der Nahrungsgaben“ zu diskutieren und abschließen bildungs- und erziehungsrelevante Felder hinsichtlich des jeweils spezifischen und allgemeinen Bedeutungsgehalts des Essens und von Essenssituationen zu beleuchten. Die Zuordnung der Beiträge zu diesen Abschnitten ist jedoch keinesfalls trennscharf.
In einem zugleich einführenden und systematisierenden Beitrag rekonstruiert Schmidt drei Bedeutungsebenen von Essen und Nahrung. Sie differenziert eine körperfunktionale, eine kulturelle und eine soziale Bedeutungsebene, die in der Versorgungsgabe, der Gesundheitsgabe und in enkulturalisierende Kultur-Gaben zum Ausdruck kommen und sozio-kulturelle Zuordnungen und Positionierungen ermöglichen. Die anschließenden Beiträge vertiefen diese Systematik. Einerseits wird im Blick auf das vergemeinschaftende Moment gemeinsamen Essens und vor allem Trinkens als anthropologische Konstante auf die soziale Bedeutung der historisch eher funktional-strategischen Symbolisierung von friedlichen Beziehungen bzw. der gegenwärtigen Funktion gemeinsamen Speisens als Begründung und Stützung von Freundschaften verwiesen (Althoff). Andererseits auf die kulturalisierende Funktion in der Performativität von Mahlzeiten, die bspw. Vorstellungen von Weiblichkeit und Mütterlichkeit reproduzieren und auch in die professionellen Selbstverständnisse von Lehrer_innen hineinregieren (Althans). Mit dem Blick auf Nahrungstabus zeichnet Kolmer nach, wie kulturelle Grenzen markiert und somit Ordnungen konstituiert werden. Foerste et al. erweitern etwas weiter hinten im Band dieses Spektrum der Bedeutungsebenen, wenn sie entlang ethnologischer Beschreibungen eindrücklich die Verschränkung von Kultur, Bildung und Ernährung und dabei auch die politische Funktion von Ernährung als Form der Tradierung und Reproduktion kulturellen Wissens aufzeigen.
Zentral für die Debatte der Anbindung an Gabentheorien ist der Beitrag von Zirfas, der den Aspekt des leiblichen Empfangens der Gabe anerkennungstheoretisch fundiert ausführt. In der Zusammenschau mit Althans` Beitrag erscheint vor allem seine Einschätzung der Anschlussfähigkeit gängiger ethnologischer, philosophischer, soziologischer Gabentheorien (Mauss, Bataille, Derrida u.a.) produktiv für eine dezidiert pädagogische Fassung der Nahrungsgabe. Seine These lautet, dass vor allem die „radikale, generative Asymmetrie“ (78) zwischen gebendem Erwachsenen und nehmendem Kind die für Bildungsprozesse zentrale Fremdheitserfahrung darstellt. Seichter spinnt diesen Faden weiter, betont den Aspekt der Einverleibung einer normativen Ordnung und beschreibt eindrücklich, dass „Ernährung zum Turngerät der Disziplinierung und Domestizierung des Kindes“ (104) werde. Am „Kampfplatz Esstisch“ (107) gehe es darum, das „Kind durch Ernährung [zu] erziehen“ (105). Sie entwickelt überzeugend die These, dass mit der institutionellen Gemeinschaftsversorgung eine Funktionalisierung und eine Depädagogisierung der Situation einhergeht, wenn die pädagogische Arbeit auf die Versorgung der Kinderkörper reduziert würde, statt das essende Kind als Adressaten ernst zu nehmen. Somit sei vor allem die Spannung von Selbst- und Fremdbestimmung in den Blick zu nehmen. Ihr Beitrag macht in der Auseinandersetzung um die Anschlussfähigkeit der Gabentheorien – auch Seichter bezieht sich auf Mauss – zudem deutlich, dass die Beschreibung der Bezugnahmen entlang der Nahrungsgabe eben doch eine empirische bleibt, die in unterschiedlichen Kontexten auszubuchstabieren ist.
Die folgenden Beiträge nehmen den Faden auf und fokussieren unterschiedliche institutionelle Rahmungen und Settings der Nahrungsgabepraxis. Das subjektivierungsrelevante Thema der Selbst- und Fremdbestimmung wird dabei hinsichtlich der unterschiedlichen Kontexte durchdekliniert. Suzuki verweist auf eine Herausforderung der Ernährungspädagogik, durch praktisches Lernen Erfahrung ermöglichen zu wollen und diese zugleich in ihrer Bedeutung für die Entwicklungssubjekte zu reflektieren. Und Schulz beschreibt das spannungsreiche Feld der kindlichen Er- und Entmächtigung, wenn Nahrung im Kindergarten als „geistige Spiel- und Bildungsgabe“ und als „versorgende Nahrungsgabe“ (125) auftritt. Er betont, dass vor allem private Gaben ermächtigendes Potenzial zur Positionierung von Kindern gegenüber öffentlicher Institution und peers besitzen. Tull diskutiert hinsichtlich der Zeit für die Mahlzeit im Vergleich von KiTa und Schule, inwiefern hier ent- und ermächtigende Potenziale eingeschrieben sind. Und während Standop mimetische Prozesse und Rituale des Essens per se als „werthaltige Bildungsgabe“ bezeichnet und für die Etablierung gemeinsamer, ritualisierter Essenssituationen von Lehrer_innen und Schüler_innen in der Schule plädiert, rekonstruieren Rose/Seehaus eine Gabenkonstellation zwischen Schüler_innen, die versorgt werden müssen, und der Schule als Institution mit „Ernährungsmonopol“ (Heindl 2011, 177). Die u.a. von Zirfas, Seichter und Standop eröffnete Debatte wird hier fortgeführt, indem am empirischen Material auch die in die Gabensituation eingebundene Paradoxien der institutionellen Skripte beschrieben und diskutiert werden. Gezeigt werden Beziehungs- und Anerkennungskonflikte und es wird die Frage aufgeworfen, ob dies qua Gestaltung der Essenssituation bspw. als „generationsübergreifender Kulturraum“ (161) zu bearbeiten wäre. Jedoch sei das Schulessen eingespannt zwischen dem Modus eines „Erziehungsarrangements“ (162) mit hierarchischen Positionierungen entlang der generationalen Differenz und dem Modus eines gewerblichen Konsumarrangements, in dem die Kinder die durchaus mächtige Position der Konsument_innen einnehmen. Laut Rose/Seehaus führen beide Arrangements zu einer Entpersönlichung der Nahrungsgabe, da die vermeintlich gebenden Akteur_innen auf die Ausgabefunktion reduziert und die Gabe so der mausschen Symbolik entzogen werde. Methfessel betont, dass es bei der Bedienung des Menschen an den Gaben der Natur um die Entwicklung von „Kulturkompetenz“ (192) gehe, woraus folge, dass Essen gelernt und im Kontext der „globalisierten Konsumgesellschaft“ (196) reflektiert werden müsse. So werde es zur pädagogischen Aufgabe, die Wahrnehmung der Nahrung als Gabe zu befördern. Auch sie markiert eine gabentheoretische Grenze, denn die Schule als Gastgeber könne zwar indirekt eine Gegengabe erwarten, unterlaufe das aber, wenn Essen als „konsumatorische Dienstleistung“ (201) gestaltet werde, die statt personalen Beziehungen zu etablieren auf die Organisationsaufgabe reduziert wird. Damit stützt sie die Thesen von Seichter und Rose/Seehaus. Allerdings nennt Methfessel dann die KiTa-Praxis als Vorbild ohne jedoch den grundlegenden Unterschied zu reflektieren, was zu der Frage führt, ob die herausgearbeiteten Schwierigkeiten in Schule lediglich als Manko von Willen und Bereitschaft interpretiert werden können oder ob bei solchen Diagnosen vielmehr auch schultheoretische Blindheit besteht. Seehaus/Gillenberg verweisen dann auch darauf, dass die (angestrebten) Settings hinsichtlich der hier hervorgebrachten Sozialität bzw. sozialen Ordnung und ihrer Möglichkeitsräume zu reflektieren sind und entsprechend einer eigenen Pädagogik und Pädagogikreflexion bedürfen.
Nahrung bildet, das ist die geteilte Prämisse des Bandes, die theoretisch und empirisch gefüllt wird. Schwieriger gestaltet sich die Positionierung hinsichtlich der Pädagogik von Nahrung im Kontext öffentlicher Bildungseinrichtungen. Hinsichtlich der Frage nach der Gestaltung von Essenssettings in pädagogischen Kontexten findet sich die Linie der reformpädagogischen Argumentation einer Anpassung des Settings an dezidiert kindliche Bedürfnisse und die Argumentation entlang der institutionellen Grenzen und Spannungsverhältnisse, in die die Settings zugleich eingespannt sind. So wird an mancher Stelle eine Funktionalisierung oder Depädagogisierung ausgemacht, der qua Aufwertung der Gabe und der personalen, pädagogischen Beziehung entgegenzuwirken sei (u.a. Seichter, Rose/Seehaus, Methfessel). Mit Tull und Schulz ließe sich noch eine andere Wendung denken, nämlich die einer Entpädagogisierung der Situation zugunsten peergesellschaftlicher Öffnung. Das gemeinsame Essen als ein Ort der peers, der Distinktion und Positionierung im Kontext von Gruppen und Freundschaften mit dementsprechenden bildenden Potenzialen. Die aus den Auseinandersetzungen wiederum resultierenden pädagogischen Konzepte v.a. der Partizipation, der Gestaltung von Essenssituationen und der Auseinandersetzung mit Nahrung sind hinsichtlich ihrer blinden Flecke zu hinterfragen entlang der Linien der Generationalität, der Differenzen zwischen Individuum und Gruppe/Gesellschaft, Privatheit und Öffentlichkeit sowie der peers und der institutionellen Rollen der Akteur_innen. Hier bedarf es einer weiteren Debatte der von Schmidt formulierten Frage, ob Gaben vorstellbar sind, die nicht zwangsläufig Mittel der Durchsetzung spezifischer hegemonialer Deutungen und machtvoller Positionierungen sind – eine Frage die in pädagogischen Kontexten nur allzu vertraut sein dürfte. Für die weitere Debatte scheint es produktiv, das auf Ebene der Empirie fortzuführen, ist doch zu definieren, wer – v.a. in institutionellen Kontexten – welche Position im Spiel von Gabe und Gegengabe von Nahrung einnimmt und zu schärfen, welche Implikationen dies dann für die Relationierung von Nahrung und Bildung bzw. eben auch Erziehung und Sozialisation mit sich trägt. Der Band gibt hierfür einige Denkanstöße und es ist zu hoffen, dass er dem Diskurs um die bildenden Potenziale von Nahrung, Essen und Mahlzeit eine breitere Öffentlichkeit verschafft.
Heindl, I.: Schulkultur und Gastlichkeit. In: Wierlacher, A. (Hrsg.): Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinaristik. Berlin: Lit-Verlag 2011, 177-184.
EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)
Nahrung als Bildung
Interdisziplinäre Perspektiven auf einen anthropologischen Zusammenhang
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014
(219 S.; ISBN 978-3-7799-2951-2; 39,95 EUR)
Anna SchĂĽtz (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna SchĂĽtz: Rezension von: Althans, Birgit / Schmidt, Friederike / Wulf, Christoph (Hg.): Nahrung als Bildung, Interdisziplinäre Perspektiven auf einen anthropologischen Zusammenhang. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992951.html
Anna SchĂĽtz: Rezension von: Althans, Birgit / Schmidt, Friederike / Wulf, Christoph (Hg.): Nahrung als Bildung, Interdisziplinäre Perspektiven auf einen anthropologischen Zusammenhang. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992951.html