EWR 13 (2014), Nr. 1 (Januar/Februar)

Maria A. Wolf / Maria Heidegger / Eva Fleischer / Elisabeth Dietrich-Daum (Hrsg.)
Child Care
Kulturen, Konzepte und Politiken der Fremdbetreuung von Kindern aus geschlechterkritischer Perspektive
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013
(279 S.; ISBN 978-3-7799-2848-5; 39,95 EUR)
Child Care Die deutschsprachige Fachdiskussion weist in großen Teilen theoretische Desiderate auf, das Thema Kinderbetreuung terminologisch präzise zu klären und zum Gegenstand systematischer Forschung zu machen. Zahlreiche Beiträge reduzieren sich auf Zustandsbeschreibungen oder Programmatiken pädagogischer Praxis. Auf den ersten Blick verspricht der zu besprechende Sammelband „Child Care“ durch seinen Bezug auf den angelsächsischen Sprachgebrauch und die dort fortgeschrittene theoretisch-terminologische Auseinandersetzung mit Sorgearbeit und Sorgeverhältnissen einen Beitrag zur Aufhebung dieses Desiderats zu leisten.

Im Mittelpunkt stehen „Child-Care Kulturen“ bzw. „Kulturen der Fremdbetreuung von Kindern“ und der darin zu verortenden Diskurse der Erwerbstätigkeit von Müttern und der frühkindlichen Bildung, der Formel des Kindeswohls sowie Chancen und Potenziale für Kinder. Das Buch möchte „Modelle, Praktiken und Praxen der Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern“ (7) untersuchen sowie der Frage nachgehen, wie sich die drei genannten Diskurse aufeinander beziehen lassen und welche Differenz- und vor allem Geschlechterverhältnisse identifizierbar sind. Die Entstehung des Buches geht auf eine Initiative des Forschungsnetzwerks „GENDER, CARE and JUSTICE“ zurück, das an der Universität Innsbruck angesiedelt ist und dem die Herausgeberinnen als Mitglieder angehören. Zum thematischen Kern dieses Netzwerks gehört vorrangig die geschlechterkritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Sorgearbeit.

Die Beiträge des Sammelbandes werden drei unterschiedlichen Teilen zugeordnet. Teil I befasst sich mit Politik und Recht der Kinderfremdbetreuung der Gegenwart, Teil II mit Konzepten der Erziehung und Bildung in der Fremdbetreuung von Kindern und Teil III mit Fremdbetreuungskulturen in einer historischen Perspektive. Aus dieser Dreiteilung ausgeklammert und den Beiträgen vorangestellt ist ein erster Beitrag der Mitherausgeberin M. A. Wolf zur Differenz von Selbst- und Fremdbetreuung im Horizont kulturtheoretischer, betreuungs- bzw. care-terminologischer sowie familienhistorischer Konturierung. Vor allem in Bezug auf den zentralen Begriff Betreuung bzw. Care bemängelt die Autorin die fehlenden theoretisch-konzeptionellen Reserven und die unzureichende terminologische Präzision – der Betreuungsbegriff bezeichne lediglich eine Form der Erwerbstätigkeit (9).

Teil I ist mit dem Titel „Politische und rechtliche Konzeption der Fremdbetreuung heute“ überschrieben und mit insgesamt vier Beiträgen ausgestattet. Er befasst sich mit politisch-rechtlichen Regulierungen sowie Strukturdaten zur Fremdbetreuung unter Berücksichtigung nationaler (Österreich sowie vergleichend Deutschland und Finnland) und EU-politischer Diskurse. Bemerkenswert ist dabei, dass E. Fleischer, E. Appelt sowie die Ko-Autorinnen K. Beher, C. Klement und B. Rudolph in ihren Beiträgen systematisch und in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion sonst unüblich zwischen staatlichen Transferzahlungen für die informelle häusliche Betreuung einerseits (z.B. Elterngeld) und einer Strukturpolitik zur Regulierung und Förderung der formalisierten institutionellen Fremdbetreuung andererseits unterscheiden. So zeichnet Fleischer detailreich und regional differenziert die sozialstaatliche und institutionelle Betreuungslandschaft in Österreich nach und beschreibt die Strukturen anhand amtlicher Daten. Die beiden folgenden Beiträge richten hingegen den Blick stärker auf die politischen Einflüsse der EU sowohl in politisch-diskursiver als auch in quantitativ-struktureller Hinsicht auf ausgewählte Nationalstaaten (etwa Europäische Beschäftigungsinitiative, Lissabon-Strategie oder Strategie Europa 2020). Mit Blick auf Kulturen der Fremdbetreuung ist vor allem die Komparatistik des deutschen und des finnischen Wohlfahrtsstaates von Beher u.a. interessant und aufschlussreich. Dieser Vergleich kann nicht nur auf Strukturdaten, sondern auch auf äußerst seltene Informationen zu Einstellungen in der deutschen und finnischen Bevölkerung zurückgreifen.

Die folgenden fünf Beiträge gehören dem Teil II des Bandes an, der mit „Erziehungs- und Bildungskonzepte der Fremdbetreuung“ überschrieben ist. In diesem Teil geht es um Bindungsbeziehungen, Migration und soziale Ungleichheit sowie um Fürsorgeerziehung und die moderne Konstruktion des Kindeswohls. Der erste Beitrag von L. Ahnert, T. Eckstein-Madry und B. Supper widmet sich der entwicklungspsychologischen Thematisierung der Bindungsbeziehungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die moralisch-ideologischen Debatten zu Wohl und Wehe der Fremdbetreuung von Kleinkindern vermutlich am nachhaltigsten beeinflusst hat. Mit einem differenzierenden Blick sowie in Abgrenzung zu den historischen Bindungstheorien, stellen die Autorinnen neuere Forschungsbefunde zu Bindungsbeziehungen zwischen Kindern und ihren Müttern sowie vergleichend zu Personen in pädagogischen Settings der Fremdbetreuung vor (Erzieherinnen und Tagesmütter). Der Beitrag von T. Betz hingegen greift die unbefriedigende Befundlage zu sozialen Ungleichheiten im Vorschulalter auf und diskutiert daran anknüpfend anhand von strukturellen und diskursiven Beispielanalysen zukünftige Forschungsfragen und -probleme. Sie insistiert dabei auf die Berücksichtigung der Intersektionalität von Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht, sozialer und ethnischer Herkunft und betont ferner die Notwendigkeit, politische Diskurse stärker für soziologische und migrationstheoretische Wissensbestände zu sensibilisieren. K. A. Chassé wiederum widmet sich ausgehend von der neuzeitlichen Konstruktion der Kindheit einer historischen Einbettung der programmatischen Formel des Kindeswohls. Die Ankoppelung an die Geschichte der Fürsorgeerziehung führt den Beitrag dann von autoritär-disziplinierender und hoheitlich-eingreifender Fürsorge zur zeitgenössischen Jugendfürsorge als Angebot und Dienstleistung sowie zu den multi-institutionell organisierten „Präventionsketten“ gegenwärtiger Bestrebungen zum Kinderschutz.

Der Teil III mit dem Titel „Kulturen der Fremdbetreuung aus historischer Perspektive“ komplettiert mit weiteren acht Beiträgen den Sammelband. Die Beiträge untersuchen historisch und zum Teil diskursanalytisch eine große Zahl spezieller und zum Teil in der Fürsorgegeschichte sehr sensibler Themen, vor allem – anders als in den Teilen I und II – unfreiwilliger Fremdbetreuung von Kindern. Es handelt sich um im Band nicht chronologisch angeordnete Untersuchungsbeispiele aus Deutschland, Italien und Österreich. Sie gelten den Waisenhäusern für „Jaunerkinder“ aus der Zeit der Aufklärung (DE, der Autorin I. Ritzmann), der normierenden Fürsorgepolitik für nichteheliche (Findel-) Kinder im 19. Jh. (AU, M. Hilber), der naturalistisch verklärten koedukativen Pädagogik der Landerziehungsheime auf der Schwelle zum 20. Jh. (DE, S. Andresen) oder dem gesellschaftlichen Reformprojekt des sozialdemokratischen Wiens nach dem Ersten Weltkrieg (AU, G. Wolfgruber). Hinzu kommen Untersuchungen zu Fürsorgeheimen im Nationalsozialismus (DE, K. Dietzel), zur Heimerziehung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. (AU, H. Schreiber), zum Reformprojekt der Schülerschule gegen die durch die Schule perpetuierten sozialen Machtstrukturen in den 1950er und 60er Jahren (IT, M. Ralser u. B. Sauer) sowie eingangs des Teil III zum politischen Diskurs zu Müttererwerbstätigkeit und Personalmangel im Elementarbereich der Gegenwart (AU, J. Seyss-Inquart).

Trotz der Reichhaltigkeit an disziplinärer, theoretischer und methodischer Perspektiven auf Kulturen der Fremdbetreuung, bleibt nach der Lektüre des Bandes die Frage offen, worin denn die zentrale Perspektive im Sinne einer Gesamtkonzeption des Bandes besteht. Die sehr knappen einführenden Bemerkungen stellen die Darstellung des inneren Zusammenhangs zwar in Aussicht; diesen Zusammenhang über alle Beiträge hinweg herzustellen, obliegt dabei jedoch dem Leser selbst und wird nicht etwa durch den dann folgenden ersten, den drei Teilen theoretisch übergeordneten Beitrag oder einer wünschenswerten Abschlussdiskussion geleistet. Eine geschlechterkritische Perspektive – wie im Titel angekündigt – wird nicht systematisch in allen Beiträgen angewendet und wirkt teilweise in der jeweiligen Argumentation lediglich wie eine nachträgliche Ergänzung.

Ferner ist vor dem Hintergrund der Forschung zu Betreuung/Care fragwürdig, warum in der bisherigen Forschung die Terminologie unpräzise und unzureichend sei (9f). Gerade die Berücksichtigung mehrerer Disziplinen, wie es der Band vornimmt, sowie die Verwendung des angelsächsischen Care-Begriffs, müssten zentrale Bezüge eröffnen. Vor allem in der angelsächsischen Forschung existiert ein reichhaltiger Fundus zur Betreuungskultur, zur politischen Ökonomie und Soziologie von Care wie etwa im Konzept Social Care [1]. Zudem wird die vermutete fehlende Präzision des Betreuungsbegriffs zum Teil auch in der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion bearbeitet, etwa durch M. Brückner zu Care bzw. Sorge oder L. Liegle und H.-J. Laewen zu Betreuung im Verhältnis zu Erziehung und Bildung in der Frühpädagogik. Vor diesem Hintergrund wäre eine Anknüpfung an die anlaufende theoretisch-konzeptionelle Diskussion wünschenswert gewesen.

Dennoch ist die Vielfalt der Themen beeindruckend, die detailreichen Darstellungen und Analysen der Einzelbeiträge bemerkenswert und ihre kritischen Blicke auf den jeweiligen Forschungsstand produktiv. Besonders hervorzuheben für die erziehungswissenschaftliche Diskussion ist zudem der immer wieder deutlich werdende Anspruch der systematischen Darstellung von Betreuungsstrukturen, -diskursen und -praktiken dies- und jenseits von Privatheit. Darin ist eine wichtige Grundlage der theoretisch-analytischen Weiterentwicklung der Diskussion zur Kinderbetreuung zu sehen. Darüber hinaus leistet Teil III mit seinen Einzelanalysen zu mehrheitlich unfreiwilliger Fremdbetreuung einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung sensibler Fragestellungen der Geschichte der Fürsorgeerziehung. In seiner Breite ist der Band damit – je nach Interesse – einem vielfältigen Publikum in Forschung und Lehre sowie in der Betreuungs- und Fürsorgepraxis zu empfehlen.

[1] Daly, M. / Lewis, J.: The concept of social care and the analysis of contemporary welfare states. In: British Journal of Sociology. Vol. 51, 2000, issue 2, pp. 281–298.
Christian Haag (Wiltingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Haag: Rezension von: Wolf, Maria A. / Heidegger, Maria / Fleischer, Eva / Dietrich-Daum, Elisabeth (Hg.): Child Care, Kulturen, Konzepte und Politiken der Fremdbetreuung von Kindern aus geschlechterkritischer Perspektive. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992848.html