Anlässlich des 120. Geburtstags der Hamburger Pädagogin und Psychologin Martha Muchow (1892-1933) unternehmen die beiden Autoren den Versuch, Leben und Werk Muchows in kompakter Form darzustellen. In der Bundesrepublik ist Martha Muchow einem breiteren Fachpublikum durch ihr Buch „Lebensraum des Großstadtkindes“ bekannt geworden, das der 2011 verstorbene Jugendforscher Jürgen Zinnecker und Bruno Schonig 1978 neu herausgeben hatten. Ursprünglich hatte es Muchows jüngerer Bruder, der Jugendforscher Hans Heinrich Muchow (1900-1981), 1935 posthum veröffentlichen lassen. Eine Neuauflage erschien dann nochmals 1998 im Juventa-Verlag. Jürgen Zinnecker ist auch das vorliegende Buch gewidmet und dies mit guten Gründen. Denn Zinneckers eigener Ansatz im Bereich der Jugendforschung wäre ohne die einschlägigen Arbeiten Martha Muchows nur schwer vorstellbar.
Absicht der Autoren ist es, zu zeigen, dass Muchows Werk jedoch breiter angelegt war und sie in der zeitgenössischen Kindheits- und Jugendforschung, in der Sozialpädagogik, der ökologischen Psychologie und der Erwachsenenbildung wahrgenommen wurde. Martha Muchow arbeitete am Psychologischen Institut der Universität Hamburg in unmittelbarer Nähe von William Stern und damit an einem der Zentren der damaligen Kindheits-, Jugend- und Lebenslaufforschung. Stern war es auch, der ihr wissenschaftliches Denken nachhaltig prägte und doch beschritt Martha Muchow in dieser Hinsicht durchaus auch eigene Wege.
Die Autoren haben ihren Band mit dem Abdruck einiger bislang unbekannter Dokumente aus dem Universitätsarchiv Hamburg angereichert und thematisch in vier Kapitel gegliedert. Das erste zeichnet die Lebenslinien Martha Muchows nach − beginnend mit ihrer Schulzeit, ihrer Tätigkeit als Lehrerin, Studentin, wissenschaftliche Hilfsarbeiterin und als Wissenschaftlicher Rat, wie es zeitgenössisch hieĂź. Von 1916 bis zu ihrem Freitod 1933 war sie bei William Stern in einen Arbeitskontext einbezogen, „dem selbst jede Einseitigkeit fremd war, und der gekennzeichnet war durch sich fortsetzende Suche nach ErfahrungsbegrĂĽndung durch vielfältige Formen der Empirie geordnet durch historische und kulturelle Typologie“ (24). Dieses Kapitel enthält zudem biografisch angelegte Hinweise zu Personen, welche die Geschichte der Psychologie in Hamburg geprägt hatten, nämlich zu Ernst Meumann und William Stern, dann aber auch fĂĽr das Jahr 1933 zu dem ĂĽberzeugten Nationalsozialisten Gustav Deuchler.
Das eigentliche Anliegen des Buches ist jedoch weniger biografisch motiviert, sondern theoretischer Art. Die Autoren versuchen Muchow einerseits als produktive Vorläuferin einer lebensweltbezogenen Theorie menschlicher Entwicklung in Erinnerung zu rufen, andererseits herauszuarbeiten, dass es ihr in erster Linie darum ging, kulturelle Phänomene verstehen zu lernen. Auf diese Aspekte konzentriert der Band sich vor allem im zweiten Kapitel. Diskutiert wird jeweils in knapper Form das thematisch breite Spektrum Martha Muchows, etwa ihre Arbeiten zum Begriff von Intelligenz und Begabung, zur Psychologie des Erziehers − Thema ihrer Dissertation 1923 bei William Stern −, dann zu schulpädagogischen Fragen, zur Kindheitsforschung und Fragen der Erziehung im Kindergarten, dann später zur Bedeutung von Lebensraum und Lebenswelt in Kindheit und Jugend.
Die Autoren würdigen Muchows Lebensleistung im dritten Kapitel mit der Einschätzung, sie habe „zentrale Perspektiven der Auseinandersetzung in der Psychologie und der Pädagogik zusammengebracht“ (113), die in aktuellen Diskursen noch immer weiterwirken. Muchows typologisches Denken war darauf ausgerichtet, zwischen Theorie und Empirie zu vermitteln, Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge zu verbinden. Dabei war sie eine Wanderin zwischen wissenschaftlicher Theoriebildung einerseits und engagierter Akteurin in der pädagogischen Fortbildung von Kindergärtnerinnen, Fürsorgern und Lehrern andererseits. In diesem Kapitel zeigen die Autoren, dass Martha Muchow zwar keineswegs zu den vergessenen oder verdrängten Wissenschaftlerinnen zählt, aber in der einschlägigen Literatur doch noch immer zahlreiche Fehlinformationen verbreitet werden (115ff).
Nicht ganz klar erschließt sich dem Rezensenten, warum Muchows Arbeiten noch heute „sehr breit“ (115) beachtet werden, andererseits aber von einer „gehemmten weiteren Wirkung“ (113) die Rede ist. Wie dem auch sei. Für die erste These referieren und zitieren die beiden Autoren mehrere Beispiele aus den aktuellen Diskursen, die sich explizit auf Martha Muchow beziehen. Abschließend weisen sie Perspektiven auf, die auf der Grundlage von Muchows Forschungen über eine kulturtypologische Theorie menschlicher Entwicklung auf gleich mehreren Gebieten neue Forschungsansätze initiieren könnten. In dieser Hinsicht lautet das Fazit des durchaus instruktiven Bandes: „Insgesamt kann Martha Muchow zu innovativen und kreativen Ideen für Lehr- und Forschungsvorhaben mit Blick für gesellschaftlich relevante Probleme bei gleichzeitig wissenschaftlicher Haltung inspirieren. Sie lehrt uns Engagement ohne moralischen Zeigefinger“ (164f). Eine Bibliografie Martha Muchows, die ihr wissenschaftliches Werk in seiner ganzen thematischen Breite seit 1918 erfasst, beschließt den lesenswerten Band.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Lebenswege und Lernräume
Martha Muchow: Leben, Werk und Weiterwirken
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012
(178 S.; ISBN 978-3-7799-2825-6; 16,95 EUR)
Peter Dudek (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Dudek: Rezension von: Faulstich-Wieland, Hannelore / Faulstich, Peter: Lebenswege und Lernräume, Martha Muchow: Leben, Werk und Weiterwirken. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992825.html
Peter Dudek: Rezension von: Faulstich-Wieland, Hannelore / Faulstich, Peter: Lebenswege und Lernräume, Martha Muchow: Leben, Werk und Weiterwirken. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992825.html