Vor nahezu 20 Jahren formulierte die UNESCO-Konferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ im spanischen Salamanca grundlegende Forderungen und Ziele für eine integrative schulische Pädagogik. Eines der Leitprinzipien beinhaltete dabei, „dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen“ [1]. Indirekt sind die Adressaten jener Erklärung nicht nur die angesprochenen Bildungseinrichtungen und deren Akteure in den einzelnen Ländern. Die Erklärung ist auch Ausdruck dafür, dass Mechanismen der Benachteiligung im Bildungswesen auf gesellschaftlicher Ebene verwurzelt sind.
Aus dieser Argumentation heraus begründet sich der interdisziplinär aufgestellte Sammelband von Eiko Jürgens und Susanne Miller, dem eine Ringvorlesung im Wintersemester 2010/11 an der Universität Bielefeld vorausging. Die Herausgeber erheben den Anspruch, „Fragen nach der Entstehung, Entwicklung und Veränderung bzw. Überwindung sozialer Ungleichheiten“ (7) nachzugehen. Die Bearbeitung erfolgt auf drei verschiedenen Betrachtungsebenen in jeweils fünf Kapiteln. So wenden sich die Autoren des ersten Teils Bildung und sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft zu, im zweiten Teil werden schulstrukturelle Analysen herangezogen, während im dritten Teil schließlich die Akteure von Schule bzw. eine Überwindung von Ungleichheit in der Praxis thematisiert werden.
Eingeleitet werden die insgesamt 16 Kapitel von den Herausgebern mit einer knappen Skizzierung sozialer Ungleichheit, den davon besonders betroffenen Gruppen, aktueller Studien sowie derjenigen Stellen im Bildungssystem, an denen der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg sichtbar wird.
Christoph Butterwegge setzt sich mit der medialen Rezeption von Kinder- und Jugendarmut auseinander. Dabei wird deutlich, dass nach einer zunächst vernachlässigten Thematisierung dieses gesellschaftlichen Problems seitens der Medien, selbiges meist nur auf zwei verschiedene Arten dargestellt wird: entweder als Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland, in dem „Humankapital“ verloren geht, oder als emotional geprägte und wenig aussagekräftige Einzelfallschilderung. Fragwürdig bleibe dabei, ob so die Ursachen und Probleme von (Bildungs-)Armut adäquat der Öffentlichkeit vermittelt werden können. Die beiden folgenden Beiträge von Sighard Neckel und Oskar Negt nähern sich dem Thema eher in sozialphilosophischer Betrachtungsweise. Während erstgenannter Beitrag eine Zusammenfassung im Laufe der Jahre gewonnener Analysen des Autors darstellt und der Ausweitung und „Aushöhlung“ (51) des Leistungsprinzip auf den Grund geht, ist letzterer, „Politische Bildung und Demokratie“, die Verschriftlichung von Negts Hauptvortrag beim DGfE-Kongress 2010, in dem er die Notwendigkeit politischer Bildung in den zunehmend von sozialer Haltlosigkeit und schwindendem Zusammenhalt gekennzeichneten modernen Gesellschaften betont. Die darauf folgenden Artikel zeigen noch einmal zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Analyse von Ungleichheit in der Gesellschaft. Willy Lemke, seit 2008 Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden, gibt einen Überblick sowohl über die verschiedenen Projekte und Ziele der UN als auch über die Potentiale, die sportliche Tätigkeiten und Großveranstaltungen auf individueller Ebene bieten und die einen Beitrag zu Inklusion leisten können. Ernst Rösner beendet schließlich den ersten Teil mit einer differenzierten Betrachtung sozialstruktureller Veränderungen und deren Auswirkungen auf Schülerzahlen und Schulwahlverhalten.
Dass das deutsche Bildungssystem in Bezug auf die Herstellung von Chancengleichheit einen großen Aufholbedarf hat, zeigten nicht zuletzt die großen nationalen und internationalen Leistungsstudien. Andreas Schleicher weist in seinem Beitrag darauf hin, dass es sich durchaus lohnt früh zu investieren, nicht nur, weil das mit 15 Jahren erreichte Kompetenzniveau später schwer korrigierbar ist, sondern auch, um die Kosten geringer zu halten, die durch Chancenungleichheit und damit verbunden niedrigeren Leistungsniveaus bei benachteiligten Gruppen zu späterer Zeit verursacht werden. Wenn das Kompetenzniveau aller Schüler der OECD-Länder um ein Jahr stiege – so wie es in Polen der Fall war – „dann würde das über den Lebenszeitraum dieser Schüler einen volkswirtschaftlichen Zugewinn von etwa 115 Trillionen US-$ ausmachen“ (110). Im Kontext von Chancengleichheit erscheint auch der vieldiskutierte Zeitpunkt des Übergangs in die Sekundarstufe ein wichtiger zu untersuchender Aspekt, der in den beiden folgenden Texten von Ludger Wößmann und Klaus-Jürgen Tillmann aufgegriffen wird. Beide untersuchen, ob mit einem späteren Übergang in die verschiedenen Schulformen bei Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen familiären Hintergründen Vor- oder Nachteile in Bezug auf das Leistungsniveau verbunden sind und kommen dabei zu vergleichbaren Ergebnissen. In den beiden letzten Artikeln des zweiten Teils werden schulformspezifische Problematiken aufgegriffen. Während Dagmar Hänsel die Idee der Grundschule als einer Schule für alle Kinder der der Sonderschule als Schule für besondere Kinder in ihrem historischen Kontext gegenüberstellt, beschäftigt sich Ulf Preuss-Lausitz in seinem Beitrag mit der Produktivität gemeinsamen Lernens behinderter und nicht behinderter Schülerinnen und Schüler. Die Förderung in der Gemeinschaft erscheint hier nicht zuletzt als ein humanistisch fundiertes Recht auf Solidarität und Partizipation (175), das durch Aussonderung verletzt wird.
Wie nun all diese Ansprüche und wünschenswerten Ziele in die Praxis umgesetzt werden können, versuchen die Beiträge des dritten Teils zu beantworten. Nicht zu unterschätzen sind hier die Sichtweisen der Lehrkräfte auf Heterogenität und das ihnen zugrunde liegende Menschenbild. Beide haben einen nicht zu leugnenden Einfluss auf die Umsetzung von Bildungsgerechtigkeit im Schulalltag, indem sie individuelle Erfahrungen in handlungsleitende Kategorien transformieren. Auf die mit Vorurteilen verbundenen Gefahren und darauf welche Wichtigkeit Humanität, gegenseitige Achtung, Toleranz und Anerkennung im Bildungs- und Erziehungsauftrag zukommt und zukommen sollte, geht Jutta Standop ein. Eiko Jürgens führt dies mit 19 Thesen weiter, die seiner Meinung nach zu einer fairen Gestaltung von Unterricht, Lernprozessen und Leistungsmessung beitragen. Die Sicht der Lehrkräfte auf Heterogenität wird schließlich von Susanne Miller aufgegriffen. Sie erläutert in Rückgriff auf quantitative Daten und die Darstellung zweier Fallportraits, in welchen Bereichen Lehrkräfte Chancen als auch Schwierigkeiten im gemeinsamen Lernen aller Kinder sehen, schließlich ist es nur möglich in Rückgriff auf solche Informationen „den unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden“ (249) und nicht ausschließlich Professionsinteressen einer Seite zu folgen. Reinhard Stähling, Schulleiter der Grundschule Berg Fidel in Münster, und Ulrike Kegler, Schulleiterin der Montessori-Oberschule in Potsdam, schildern den Sammelband abschließende konkrete Praxiserfahrungen bei der Umsetzung ihrer Konzepte und Leitbilder. Gemeinsam ist beiden Beiträgen die direkte Zuwendung, die jedem einzelnen Schüler zukommt, und der Anspruch mit ihrer Arbeit einen Teil zur Bildungsgerechtigkeit beizutragen, indem humanistische Grundüberzeugungen, und hier findet sich ein Rückgriff auf die bereits in den Artikeln zuvor thematisierten Thesen, von jedem Schulakteur getragen werden.
Alles in allem wird der Sammelband seinen Ansprüchen gerecht. Vor allem der zweite die Schulstruktur analysierende und der dritte auf die Praxis fokussierte Teil zeigen einen breiten Zugang, ohne aber den roten Faden vermissen zu lassen. Der erste Teil steht dabei hinten an, da nicht deutlich wird, mit welchem Ziel genau diese Beiträge ausgewählt wurden; auch die Vorbereitung bzw. die möglichen Anknüpfungspunkte an die beiden darauffolgenden thematischen Blöcke sind schwer zu finden. Wünschenswert wären daneben zum Teil auch aktualisierte Fassungen von zuvor schon erschienenen Beiträgen gewesen. Zusammenfassend eignet sich das Werk jedoch gut dafür, einen ersten umfassenden Einblick in das Feld Bildungsgerechtigkeit und Inklusion zu erlangen.
[1] UNESCO (Hg.) (1996): Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Abrufbar unter: http://www.unesco.at/bildung/basisdokumente/salamanca_erklaerung.pdf [09.07.2013].
EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)
Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule
Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2013
(282 S.; ISBN 978-3-7799-2806-5; 29,95 EUR)
Michaela Krüger (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michaela Krüger: Rezension von: Jürgens, Eiko / Miller, Susanne (Hg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule, Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992806.html
Michaela Krüger: Rezension von: Jürgens, Eiko / Miller, Susanne (Hg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule, Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992806.html