Die Auseinandersetzung mit Migration und migrationsbedingter Differenz erfährt in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte große Aufmerksamkeit und konstituiert auch im wissenschaftlichen Diskurs einen Topos, dem sich immer mehr migrationswissenschaftlich orientierte Forschungsarbeiten widmen. Die Geschlechterforschung – entstanden aus der feministischen Forschung – blickt im Vergleich hierzu auf eine länger institutionalisierte Tradition wissenschafts- und gesellschaftskritischer Analyse im deutschsprachigen Kontext zurück, die sich größtenteils im akademischen Diskurs als relevantes Forschungsfeld etabliert hat.
Der Sammelband „Migration und Geschlecht“, herausgegeben von Mechthild Bereswill, Peter Rieker und Anna Schnitzer, widmet sich aus einer kritisch-reflexiven Analyseperspektive dem Versuch, die Intersektionen der beiden sozialen Differenz- und Zugehörigkeitsdimensionen „Migration“ und „Geschlecht“ zu eruieren. Damit verfolgt der Band das Anliegen, Ansätze der Migrations- und Geschlechterforschung, „deren Entwicklungen und Ausdifferenzierungen im deutschsprachigen Kontext zunächst weitgehend nebeneinander“ erfolgt sind (7f), durch eine systematische Verschränkung zu verbinden und nach den „interdependenten Bedeutungsdimensionen von Migration und Geschlecht“ zu fragen (10). Die Verbindung theoretischer Überlegungen mit empirisch fundiertem Material fokussiert ferner darauf, die „programmatischen Prämissen zu Intersektionalität“ zu konkretisieren und zu problematisieren (10).
Den Beiträgen mit inhaltlich unterschiedlichen Akzentsetzungen liegt die übergreifende Frage zugrunde, welche strukturierenden, aber auch transformierenden Effekte „Migration“ und „Geschlecht“ mit Blick auf Bildungsbewegungen und Selbstverständnisse von Subjekten besitzen. Zugleich untersuchen die Beiträge das Verhältnis dieser beiden Dimensionen in Bezug auf die Konstitution und Transformation sozialer Zugehörigkeiten und korrespondierenden Aspekte „gesellschaftlicher Partizipation, Ausgrenzung und Ungleichheit“ (10).
Die Autorinnen und Autoren der zehn Beiträge nähern sich hierfür aus sozialisations- und biographietheoretischen Forschungszugängen, mit Ansätzen postkolonialer Kritik, queertheoretischen Überlegungen, anhand ethnographisch orientierter Perspektiven und nicht zuletzt mithilfe von Konzeptionen zur Transmigration und der Herausbildung transnationaler Räume ihren Fragestellungen. Hierfür stellen die Autorinnen und Autoren in den Beiträgen eigene, umfangreiche Studien und Forschungsprojekte vor und verbinden unter Rekurs auf ein ausgewähltes Segment ihrer Untersuchung theoretische Zugänge mit empirischen Befunden.
So zeigt der Beitrag von Birgit Behrensen und Manuela Westphal, wie Bildungsaspirationen und ihre Realisation von migrierten Frauen und Frauen aus der zweiten Generation durch individuelle, familiäre, soziale und unterstützende Partnerinnen- und Partnerschaftsbeziehungen ermöglicht werden. Gleichzeitig weisen die Autorinnen auf die behindernden Effekte institutioneller Diskriminierung hin, die die Bildungswege erschweren und nicht durch familiäres Einwirken entschärft werden können (69). Susanne Gerner bestimmt in ihrer Auseinandersetzung insbesondere die Familie als einen Ort möglicher Transformationen von Geschlechterverhältnissen im Zuge von Migration. Die Autorin konstatiert geschlechtsspezifische Differenzen „erfolgreichen“ und „gescheiterten“ Aufstiegshandelns, die weibliche Personen im Gegensatz zu männlichen eher im Sinne eines sozialen Aufstiegs nutzen können. Auch Elisabeth Tuider setzt sich mit Wandlungsprozessen auseinander und widmet sich transnationaler Migration von Frauen im Raum Mexiko-USA unter der Prämisse, Migrationseffekte auf Gemeinschaft, Geschlechterverhältnisse und Konzepte von Mutterschaft herauszuarbeiten. Der Beitrag von Gülcan Akkaya untersucht Migrationsbewegungen von albanischen Personen in die Schweiz und zeigt dabei, welche komplexen wirtschaftlichen, soziokulturellen und geschlechtsspezifischen Wirkungen die Migration auf die Herkunftsregion Tetovo/Mazedonien besitzt.
Der Beitrag von Janina Zölch, Vera King, Hans-Christoph Koller und Javier Carnicer widmet sich aus einer intergenerationalen Perspektive der Frage, welche Formen intergenerationaler Verknüpfungen, Neuschöpfungen, aber auch Distanzierungen zwischen Vätern und Söhnen rekonstruiert werden können. Schließungs- und Ermöglichungsspielräume thematisiert auch Yvonne Riaño, indem sie sich kritisch mit dem Topos Zwangsheirat auseinandersetzt. Von den Handlungsmöglichkeiten und den Ressourcen der betroffenen Personen und ihren Familien sowie einem multidimensionalen Verständnis ausgehend entwickelt sie einen differenzierten Blick auf eine oftmals verengte Betrachtung dieses Themas. Dabei weist sie u. a. auf die Bedeutung einer Unterscheidung von Zwangsverheiratung und Zwangsehe hin und macht deutlich, dass vielmehr Generationskonflikte und häusliche Gewalt relevante Faktoren sind, die bei einem kulturalisierenden Problemverständnis des Zusammenhangs verstellt werden (186f). Auch Birgit Sauer widmet sich einer gesellschaftlich und wissenschaftlich oftmals pauschalisiert geführten Debatte. Die Autorin untersucht das Tragen des Kopftuchs und seine diskursive Verhandlung unter dem Fokus von „Politiken der (Nicht-)Zugehörigkeit“ (192) und skizziert dabei Aushandlungsprozesse von citizenship, Religion und Geschlecht mit einem vergleichenden Bezug auf Deutschland und Österreich. Tina Spies widmet sich in ihrem Beitrag dem Zusammenhang von Gewalt, Geschlecht und Ethnizität und expliziert unter Rekurs auf eine lebensgeschichtliche Erzählung den „Einfluss gesellschaftlicher Diskurse auf biographische Erzählungen“ (109).
Von einer biographisch orientierten Perspektive ausgehend untersucht Marc Thielen Freiheits-, aber auch Begrenzungserfahrungen iranischer Queers im Zuge ihrer Migrationsprozesse. In seiner Analyse gelingt es ihm dabei, das komplexe Wirken rassistischer und / oder sexualisierter Gewalt- und Ungleichheitsstrukturen nachzuzeichnen und dabei zu zeigen, dass auch und gerade Intimbeziehungen konstitutiv von Machtverhältnissen durchzogen sind. Marko Perels widmet sich abschließend dem in gegenwärtigen Debatten oft unterrepräsentierten Thema prekärer Vergesellschaftung im Zuge von Migration, Geschlecht und Erwerbsarbeit. Er thematisiert in seinem Beitrag u. a. materielle Ungleichheiten und geschlechtsspezifische Selbstkonzepte anhand eines biographischen Fallbeispiels einer alleinerziehenden, türkischstämmigen Frau in Deutschland.
Die Beiträge des Bandes vereint, dass sie in ihrer Vorgehensweise die mehrdimensionale Betrachtung der Gegenstandsbereiche Migration und Geschlecht mit mehrschichtigen methodischen Zugängen verknüpfen. So verbleiben die Analysen nicht auf einer entweder theoretisch oder empirisch orientierten Ebene, vielmehr setzen die Autorinnen und Autoren ihre theoriegenerierten Fragen stets in Bezug zum erhobenen Material. Durch diese konkrete Rückkoppelung in Form einer „empirischen Fundierung“ wird der in der Einleitung des Bandes angestrebten „konzeptionellen Weiterentwicklung“ (10) der Debatte um Intersektionalität Rechnung getragen. Zwar wird das Intersektionalitätsparadigma inzwischen häufig aufgegriffen und rezipiert, jedoch verbleibt ein Großteil dieser Arbeiten auf der Ebene von Notwendigkeitsbekundungen in Bezug auf eine entsprechende Analyse. Meist wird es versäumt, eine Konkretisierung und praktische Umsetzung des geforderten, mehrdimensionalen Blicks zu realisieren. An diesem Desiderat setzen die Herausgeberinnen und der Herausgeber wie die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes an und entwickeln beispielhafte Ansätze einer praktischen Ausgestaltung und (An-)Wendung, die zu „empirisch fundierten […] Ausdifferenzierungen des Zusammenhangs von Migration und Geschlecht“ (10) beitragen.
Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand stellt das in dem Sammelband explizierte Anliegen einer migrations- und geschlechterkritischen Analyse kein Alleinstellungsmerkmal dar. Trotz des Anstiegs an Forschungsarbeiten mit einem kritisch-reflexiven Impetus dominierten und existieren mitunter bis heute in den Augen der Herausgeberinnen und des Herausgebers in „öffentlichen Debatten und Teilen der wissenschaftlichen Diskussion“ (11) Perspektiven, die einer Reifizierung stereotyper und monokausaler Erklärungsansätze nicht explizit entgegenwirken oder diese teilweise durch Forschung selbst mit hervorbringen. Dadurch bleiben ethnisierende Zuschreibungen und dominante Logiken geschlechtlicher Zugehörigkeit wie z. B. das stereotype Bild einer migrantisch und als deviant codierten, jugendlichen Männlichkeit und einer als unterwürfig attribuierten Weiblichkeit (9) in ihrem sozialen Herstellungscharakter unberührt und bleiben weiterhin sozial wirkmächtig. Diese „üblichen Aufmerksamkeitslogiken“ (10) und „dichotomen Projektionen“ (9) gesellschaftlicher wie partiell auch wissenschaftlicher Diskurse zu überwinden, zeichnet ein weiteres Anliegen des Bandes aus (10f). Strukturierende und beschränkende Mechanismen geschlechtlicher Ordnungszuweisungen und migrationsbedingter Machtverhältnisse werden ebenso thematisiert, wie widerständige und eigensinnige Momente herausgearbeitet werden, die als Verschiebung von dominanten Differenzordnungen Macht entfalten. Der Band kann somit die heterogenen Effekte in Geschlechter- und Migrationsregimen explizieren und dominante gesellschaftliche wie wissenschaftliche Diskurse in ihrem schematischen Darstellungscharakter durch einen kritisch-reflexiven Umgang mit Kategorien kontrastieren.
Kritisch zu bemerken bleibt, dass der formulierte Intersektionalitätsanspruch in dem Band nur bedingt eingelöst werden kann: Wie bereits der Titel verdeutlicht, bewegen sich die Betrachtungen mehrheitlich in der dominant gewordenen Forschungstrias „race-class-gender“ und beziehen hierbei den Aspekt sozialer Klassenzugehörigkeit, sexueller Orientierungen sowie Dimensionen von (Inter-)Generationalität teilweise, jedoch nicht systematisch mit ein. Dieser implizit erfolgte Anschluss an das hegemoniale „race-class-gender“-Paradigma wird nicht thematisiert. In diesem Zusammenhang wäre es auch wünschenswert, die mitunter ungebrochene Übernahme und Weiterführung heteronormativer Konzeptionen in den eigenen Überlegungen zu thematisieren – gerade wenn es um eine kritische Auseinandersetzung mit normierten und normativen Bildern von Geschlechtlichkeit und Migration geht.
Der Sammelband ist keinem genuinen Forschungszusammenhang zuzuordnen. Den Herausgeberinnen und dem Herausgeber gelingt es jedoch, durch die Zusammenführung theoretischer und empirischer Zugänge die Debatte um Intersektionalität im Sinne einer qualitativen Blickerweiterung weiterzuführen. Für eine Forschungsperspektive, die eine mehrdimensionale Analyse sozialer Zugehörigkeiten anstrebt und differenziert zu erweitern sucht, bietet der Sammelband ein gelungenes, richtungsweisendes Beispiel und bildet eine fundierte Voraussetzung für nachfolgende Arbeiten.
EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)
Migration und Geschlecht
Theoretische Annäherungen und empirische Befunde
Weinheim / Basel: Beltz 2012
(238 S.; ISBN 978-3-7799-2305-3; 26,95 EUR)
Veronika Kourabas (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Veronika Kourabas: Rezension von: Bereswill, Mechthild / Rieker, Peter / Schnitzer, Anna (Hg.): Migration und Geschlecht, Theoretische Annäherungen und empirische Befunde. Weinheim / Basel: Beltz 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992305.html
Veronika Kourabas: Rezension von: Bereswill, Mechthild / Rieker, Peter / Schnitzer, Anna (Hg.): Migration und Geschlecht, Theoretische Annäherungen und empirische Befunde. Weinheim / Basel: Beltz 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992305.html