Aktuelle Studien zur Qualität von Ganztagsschulen (u.a. SteG) richten ihren Fokus auf die pädagogische Arbeit in außerunterrichtlichen Angeboten sowie auf deren Wirkung und auf die Kooperation zwischen Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigem Personal an Schulen. Die Forschungsarbeit von Sylvia Oehlmann, die auf ihrer Dissertation beruht, thematisiert ebenfalls die Ganztagsschule bzw. die Ganztagsgrundschule. Sie stellt dabei die wissenschaftlich bislang wenig beachtete Frage nach den Bildern vom Kind aus der Perspektive von Lehrkräften und Erzieherinnen in den Fokus und bezieht sich damit auf die pädagogische Praxis in der Ganztagsgrundschule. Entsprechend schließt sich die Folgefrage nach den Wirkungszusammenhängen des Kindbildes für die schul- und sozialpädagogische Ganztagsschulpraxis an, konkret: die Bedeutung der Kindbilder der pädagogischen Fachkräfte mit Blick auf die „multiprofessionelle Kooperation“ (275).
Die ersten ca. 30 Seiten des Buches befassen sich mit der Entwicklung der Ganztagsschule; in einer differenzierten Darstellung werden sowohl allgemeine Ergebnisse der Ganztagsschulforschung als auch auf das Thema der Arbeit fokussierte Fragen zu den Kooperationsmodellen in der Ganztagsschule vorgestellt. Im Besonderen wird herausgestellt, dass im Rahmen der berufsgruppenübergreifenden integrativen Zusammenarbeit an Ganztagsgrundschulen v.a. Lehrkräfte und Erzieherinnen aufeinander treffen.
Zur theoretischen Fundierung der Untersuchung diskutiert die Autorin u.a. das Bild vom Kind und von Kindheit im sozialwissenschaftlichen Diskurs. Unter anderem setzt sich Oehlmann mit dem Kind als ‚kompetentem Akteur‘ im Rahmen der neueren Kindheitsforschung auseinander. Bezogen auf die ‚Kindbildkonstruktionen‘ in der Schule unterscheidet die Autorin zwischen sozial- und schulpädagogischen Perspektiven und konstatiert eine deutliche Trennung. Diese, so die Autorin zusammenfassend, liege in den „zeitlichen Orientierungen“ (80): Sozialpädagogik betrachte das Kind als auf die „Gegenwart biografisch bezogen“ (ebd.), Schulpädagogik sei demgegenüber auf die Zukunft gerichtet. Darüber hinaus leitet sie ab, dass die Schulpädagogik aufgrund dieses Gegensatzes „auf die Hilfe von Sozialpädagogik angewiesen“ (81) sei. Im Anschluss diskutiert die Autorin knapp mögliche Auswege aus dieser Trennung, bspw. die Leipziger Thesen zur Entwicklung der Ganztagsschule, und über einen, die schul- und sozialpädagogische Perspektive, integrierenden Bildungsbegriff. Ebenso knapp führt sie hierbei die Arbeiten von Fuhs zur Annäherung von Schul- und Kindheitsforschung an, bspw. dazu, dass Schule, die ihr Bildungsmonopol verloren hat, kindliche Lebenswelten zum Ausgangspunkt schulischen Lernens machen muss. Oehlmann kommt zu dem Ergebnis, dass dies allesamt „optimistische Vermutungen“ (83) seien und empirische Belege ausstünden. Zudem werde eine institutionelle Sichtweise verfolgt, die die Akteure und deren Bedeutung für die Ganztagsschule ignoriere. Zu betonen ist allerdings, dass die Autorin selbst die Akteursperspektive des Kindes oder Schülers an keiner Stelle einbezieht. Gerade aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen wurde jedoch in den letzten Jahren eine Vielzahl an Untersuchungen vorgelegt, die keine Erwähnung finden.
Die Autorin liegt mit ihrem Resümee, dass es sich bei den Kindheits- und Kindbildern um „unscharfe Begriffe“ (83) handelt, sicher richtig. Jedoch davon zu sprechen, dass diese „empirisch nicht untersucht“ (83) seien und auf „Unterstellungen“ beruhen, ignoriert weitreichende Forschungsarbeiten, wie sie u.a. von Jürgen Zinnecker (der in dieser Arbeit, obwohl einer der prominenten Forscher zu Bildern von Kindheit, keine Erwähnung findet) unternommen wurden. Denkbar wäre z.B. ein Anschluss an den von Zinnecker [1] in die Diskussion gebrachten Ansatz der Selbstsozialisation gewesen; er beschreibt darin die Weiterentwicklung des Sozialisationskonzepts innerhalb der Erziehungswissenschaft, in engem Bezug zur Kindheitsforschung und zur sozialen Konfiguration von Kindheit.
An die bisherigen Ausführungen der Autorin schließt sich eine Beschäftigung mit dem pädagogischen Selbstverhältnis an, das in seiner „Verwobenheit zwischen dem Eigenen und dem Fremden individuelle Kindbilder und spezifische Kooperationsformen“ (86) aufzeigen will. Angesichts der Bedeutung des pädagogischen Selbstverhältnisses in dieser Arbeit, ist der Umfang des Kapitels von nur sechs Seiten, inklusive eines gut einseitigen Exkurses, ein wenig befremdlich. Zudem führt die Autorin in ihrer zusammenfassenden These zum Bild vom Kind und zu den Vorstellungen der Kooperation zwischen Professionen in der Schule aus, dass sie sich auf das psychoanalytische Narzissmus-Konzept von Baecker und Altmeyer stützt. Die Autoren werden jedoch in der theoretischen Diskussion um Narzissmus und Anerkennung nur randständig bzw. im Rahmen eines Exkurses behandelt.
Ziel der sich anschließenden empirischen Untersuchung ist es, die These zu überprüfen, „ob die Kindbilder und pädagogischen Selbstverhältnisse für die Kooperation grundlegend sind“ (92). Die Studie ist explorativ und qualitativ ausgerichtet und basiert auf problemzentrierten Interviews, die 2006 innerhalb einer gebundenen Ganztagsgrundschule geführt wurden (interviewt wurden je 5 Klassenerzieher- und KlassenlehrerInnen). Die Interviews folgen einem Interviewleitfaden, der bis auf eine von 13 Fragen (in der danach gefragt wird, wie sich die Person selbst als Kind in der Schulzeit erlebt hat), nach den Vorstellungen von Kindern (im Plural) fragt.
Ausgewertet wurden die Interviews mit dem Interpretationsverfahren der Objektiven Hermeneutik. Die Autorin entfaltet detailreich und differenziert auf gut 160 Seiten (der insgesamt gut 300 Seiten starken Arbeit) die Befunde zu ausgewählten Fallanalysen. Für die Leserin war es jedoch nicht durchgängig nachvollziehbar, ob es sich um eine fallspezifische Interpretation, einen Vergleich der Fälle oder gar um eine Typenbildung handelt, da bis zum Schluss ein Rückbezug auf die Einzelfälle erfolgt.
In der Ergebnisdiskussion wird u.a. herausgestellt, dass das Kind von allen InterviewpartnerInnen als Teil einer Gruppe beschrieben wird: „Die Heterogenität individueller Kinder tritt in den Beschreibungen der Fachkräfte hinter die Dynamik der Einheit einer Gruppe zurück“ (277). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass, wie die Leitfragen ausweisen, gar nicht nach dem ‚Kind‘ gefragt wurde, sondern ‚Kinder‘ im Plural im Zentrum standen. Dies könnte eine spezifische Sicht auf die Gruppe von vornherein gelenkt haben.
Als ein zentraler Befund wird herausgestrichen, dass die untersuchten Fachkräfte auf der Grundlage von „[b]erufsunabhängigen Bildern vom Kind“ (275) arbeiten. Es gibt also keine typischen Merkmale von Erzieherinnen oder Lehrkräften in Bezug auf ihr Bild vom Kind.
Abschließend führt die Autorin aus, dass die pädagogischen Fachkräfte ihr „verinnerlichtes Selbstbild mit ihren Bildern von den Kindern verknüpfen“ (300) können. Dies sind interessante Befunde, die es verdient hätten, genauer analysiert und eingeordnet zu werden. Mit Bezug auf Bernfeld führt Oehlmann lediglich aus, dass das Schulwesen „Wirkungen hat, die über den eigentlichen Unterricht hinausreichen. Die Schule – als Institution – erzieht“ (300). Dass Schule mehr als Unterricht ist, wurde bereits in Studien zum heimlichen Lehrplan oder zum Hinterbühnengeschehen [2] an Schule deutlich und wirkt als abschließendes Fazit ein wenig banal.
Dahinter treten die interessanten Ansätze der Bilder vom Kind zurück, die sozusagen als pädagogische Haltung sowohl der LehrerInnen wie auch der Erzieherinnen nicht nur etwas über deren Sichtweise aussagen, sondern deren einzelne pädagogische Handlungen anleiten und Kooperationsformen bestimmen. Dies hätte, dem Titel und der Fragestellung des Buches entsprechend, stärker aufgegriffen werden können.
Eine Arbeit, die sich mit ‚Kindbildern‘ im Rahmen einer Ganztagsschule und aus der Perspektive zweier Professionen beschäftigt, hätte zur Kontrastierung und Konturierung solcher Bilder auch das Spannungsverhältnis von Schüler und Kind aufgreifen müssen. Zwei Perspektiven, die aus der professionellen Praxis von Lehrkräften und weiterem Personal unterschiedliche Bilder evozieren dürften.
Abschließend betrachtet legt die Autorin mit ihrer Studie eine überaus interessante Fragestellung vor, die sie jedoch – da über weite Strecken theoretisch wie auch empirisch wenig konsistent und an einigen Stellen zu sehr verdünnt – nicht vollständig beantwortet.
Der gute Grundgedanke, zusätzliche Informationen als Exkurse zu setzen, um damit die Einheitlichkeit der Arbeit zu wahren, wird durch ein ‚Zuviel‘ an Ergänzungen und Informationen (gut 20 Exkurse sind auf über 20 Seiten zu finden) konterkariert.
[1] Zinnecker, Jürgen (2000): Selbstsozialisation – Essay über ein aktuelles Konzept. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 20. Jg., 3, S. 272-290
[2] Zinnecker, Jürgen (1975): Der heimliche Lehrplan. Weinheim und Basel: Beltz
EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)
Kindbilder von pädagogischen Fachkräften
Eine Studie zu den Kindbildern von Lehrkräften und Erzieherinnen
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012
(312 S.; ISBN 978-3-7799-2257-5; 34,95 EUR)
Sabine Maschke (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Maschke: Rezension von: Oehlmann, Sylvia: Kindbilder von pädagogischen Fachkräften, Eine Studie zu den Kindbildern von Lehrkräften und Erzieherinnen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992257.html
Sabine Maschke: Rezension von: Oehlmann, Sylvia: Kindbilder von pädagogischen Fachkräften, Eine Studie zu den Kindbildern von Lehrkräften und Erzieherinnen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992257.html