LAU, PISA, KESS, IGLU, ELEMENT, BIJU und viele weitere groß und auch klein angelegte Untersuchungen im deutschen und internationalen Raum haben die Mär von den Bildungserfolgen, die ausschließlich auf die Schülerleistung zurückführbar sind, längst auffliegen lassen. So ist weitgehend bekannt, dass in kaum einem anderen Land die Schulerfolge so stark von der sozialen Herkunft abhängen wie in Deutschland.
Umso wichtiger ist es, dass zukünftige Lehrerinnen und Lehrer über diese Sachverhalte informiert sind und deren Zusammenhänge, Entstehung und Folgen erkennen. Dies ist das Anliegen, welches Wulf Hopf in seinem Buch vertritt und zu erreichen versucht. So richtet es sich explizit an Lehrer/-innen und Studierende, die „fachlich qualifizierte, ihren Schülern zugewandte, an ihnen interessierte und verantwortliche Erwachsene sowie menschlich integre Personen“ werden wollen (28).
Dem Anspruch folgend, nach den großen Schulleistungsstudien der letzten Jahre sowohl ein Zwischenfazit zu wagen als auch den aktuellen Forschungsstand möglichst umfassend wiederzugeben und zu lokalisieren, ist das Werk in zwei Teile untergliedert, die, dem Autor nach, unabhängig voneinander gelesen werden können. In der ersten Hälfte werden Bildungsungleichheiten auf der Ebene des Kollektivs sowie deren Wandel im Laufe der Zeit betrachtet, im zweiten Teil widmet sich Hopf hingegen den familialen und sozialisatorischen Bedingungen der Entstehung von Bildungsdisparitäten, also der Ebene des individuellen Schul- und Lebensverlaufs. Vorweg ist hierbei anzumerken, dass das Buch aus Hopfs Vorlesung an der Universität Göttingen, an der er jahrelang als Professor tätig war, hervorgegangen ist. Dementsprechend gestalten sich auch Aufbau und Arrangement des gesamten Buches sowie die Strukturierung der insgesamt 13 Kapitel (Vorstellung von Konzepten, Theorie und Empirie und deren Verknüpfung).
Zentral sind vor allem zwei Fragen, denen bei der Erarbeitung des Themas nachgegangen werden soll. Zum einen fragt Hopf danach, ob sich historisch, vor allem im Zuge der Bildungsexpansion, die Bindung zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft gelockert hat. Die zweite große Frage lautet, wie sich diese Kopplung im Speziellen ergibt, d.h. welche Mechanismen oder Prozesse, die zu Vor- und Nachteilen beim Bildungserwerb führen, produktiv werden.
Die Beantwortung beider Fragen beginnt mit einer langfristigen Betrachtung der Bildungspartizipation unterschiedlicher Schichten in Deutschland. Dabei wird deutlich, dass sich mit dem Wandel von Bildung als Privileg zur Bildung als Massenphänomen ein ebenso deutlicher Wandel der Legitimation von Bildungszugängen vollzogen hat, nämlich von der ständischen zur meritokratischen. Damit ist jedoch noch nicht von einer Beseitigung der Ungleichheit zu sprechen, die Frage laute vielmehr, ob sich mit der Verschiebung zu Leistung und freier Wahl als Grundlage für Bildungswege diese Ungleichheiten vom öffentlichen in den privaten Raum verlagert haben.
Darauf aufbauend bieten die folgenden Kapitel eine Klärung begrifflicher Definitionen (u.a. Chancengerechtigkeit vs. Chancengleichheit) im Blickwinkel verschiedener Disziplinen sowie eine erste Heranführung an die Messbarkeit von Bildungsungleichheit als Grundlage für die Darstellung komplexerer Studien im nächsten Teil. In dieser ersten Annäherung sind es vor allem einfache bivariate Zusammenhänge sowie odds-ratios, die einen ersten Einblick in die Möglichkeit quantitativer Erfassung von Bildungsdisparitäten geben sollen.
Nach Schaffung dieser Grundlagen schreitet Hopf sukzessive zur Beantwortung der ersten Hauptfrage, d.h. wie konnten unterschiedliche Schichten die Bildungsexpansion für sich nutzen, wie haben sie das getan und resultierten aus ihr Veränderungen in Hinblick auf Bildungschancengleichheit. Mit Rückgriff auf komplexere statistische Analysen, lässt sich hier zeigen, dass die These der „Reproduktion der Ungleichheit auf höherem Niveau“ (111) wenig haltbar ist, wenngleich die Befunde zu den Teilfragen aufgrund der Datenlage eher von begrenzter Aussagekraft sind.
Nicht zu leugnen ist indes eine Homogenisierung der Schülerschaft an deutschen Hauptschulen, welche sich im Zuge der Bildungsexpansion immer mehr verstärkte. Schüler/-innen an Hauptschulen stehen vor allem vor zwei Problemen: Das erste Problem betrifft die in Bezug auf Bildung „anregungsärmere“ soziale Herkunft (im Vergleich zu Gymnasiasten), das zweite meint in Anschluss daran, die weniger vorhandenen Chancen auf Kompensation dieser Defizite durch das schulische Umfeld. Hier bröckelt der Putz des Leistungsprinzips: Inwiefern können Bildungszertifikate auf der Grundlage von Leistungen vergeben werden, wenn schon durch den institutionellen Rahmen, d.h. Organisationsformen des Schulsystems, Bedingungen in Form „schulformspezifischer Unterpopulationen“ (124) geschaffen werden, die mit verschiedenartigen Lernmilieus assoziiert sind?
An diesen Punkt knüpft Teil 2 an. Auf der Ebene des individuellen Bildungsverlaufs werden Fragen nach der Verbindung von Sozialschichtzugehörigkeit und Schulerfolg gestellt aber auch schulische Bedingungen differenzierter in ihrer Wirkung in die Betrachtung aufgenommen. Um die angesprochenen Zusammenhänge zu fassen, greift Hopf vor allem auf drei Theorien zurück: auf die Theorie der schichtspezifischen Sozialisation, das kulturelle Kapital nach Bourdieu und das Rational-Choice-Modell nach Boudon. Diese Theorien werden aufgrund ihrer eigenen Schwerpunktsetzung und Akzentuierung unterschiedlicher Wirkungsmechanismen zusammen mit empirischen Befunden in unterschiedliche Kontexte projiziert und dort in ihrer Erklärungskraft überprüft. So wird anhand des Rational-Choice-Ansatzes und der primären und sekundären Herkunftseffekte das Entscheidungsverhalten an den „Gelenkstellen der Bildungslaufbahn“ (139) zu erläutern versucht. Die Eignung des Kapitalienmodells Bourdieus wird hingegen anhand des Einflusses von Prozess- und Strukturmerkmalen der Familie auf den Bildungserfolg überprüft, die Darstellung des Effekts von Erziehungsstilen und familialen Beziehungen erfolgt unter Zuhilfenahme der schichtspezifischen Sozialisationstheorie. Die Stärken und Schwächen jeder Theorie werden hierbei in Relation zueinander gesetzt und mit Daten größerer Untersuchungen hinter- oder widerlegt.
Das Werk endet schließlich in Rückblick auf die besprochenen Ergebnisse mit einer Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Verantwortungsübernahme und einer damit verbundenen „Politik der Chancengleichheit“ (27) sowie einer Vorstellung verschiedener politischer und pädagogischer Programme und Projekte, die sich für bildungsbenachteiligte Gruppen einsetzen.
Hopf erhebt mit seinem Buch keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung von Befunden zum Thema Bildungsungleichheit, dafür sind diese auch in zu großer Zahl vorhanden. Dennoch gelingt es ihm, ein Verständnis für die Grundproblematik zu vermitteln, indem er exemplarisch für bestimmte Hauptbefunde stehende Studien ausführlicher erläutert. Die Gliederung ist aufgrund der Vorlesungsgrundlage an einigen Stellen gewöhnungsbedürftig, auch ist die Aufteilung in zwei Teile an manchen Stellen weniger deutlich, was jedoch vor dem Hintergrund der Getrennt-Lesbarkeit beider Abschnitte nachvollziehbar ist.
Der große Gewinn liegt vor allem in der Verknüpfung der dargebotenen Befunde. Hervorzuheben ist dabei insbesondere die Vielfalt von Datenquellen und -grundlagen, die Vorführung möglicher Untersuchungsdesigns und das Anführen des Nutzens aber auch der Grenzen statistischer Werte und Praktiken. So stellt das Buch letztendlich dreierlei dar: 1. eine Sensibilisierung für das Thema der Bildungsungleichheit, 2. eine Wiedergabe des nationalen und internationalen Forschungsstandes sowie 3. eine Heranführung an die Möglichkeiten empirischer Methoden.
Ob zukünftige und gegenwärtige Lehrer_innen nun den Kontext ihres direkten schulischen Umfeldes verlassen möchten, um einen Blick auf gesellschaftliche Entstehungsmechanismen sozialer Ungleichheit im Bildungsbereich zu werfen, hängt sicherlich in vielen Teilen von ihnen selbst ab, jedoch wird ihnen mit Hopfs Werk dafür zumindest eine Tür angeboten.
EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)
Freiheit – Leistung – Ungleichheit
Bildung und soziale Herkunft in Deutschland
Weinheim und München: Juventa 2010
(268 S.; ISBN 978-3-7799-2174-5; 19,95 EUR)
Michaela Krüger (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michaela Krüger: Rezension von: Hopf, Wulf: Freiheit – Leistung – Ungleichheit, Bildung und soziale Herkunft in Deutschland. Weinheim und München: Juventa 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992174.html
Michaela Krüger: Rezension von: Hopf, Wulf: Freiheit – Leistung – Ungleichheit, Bildung und soziale Herkunft in Deutschland. Weinheim und München: Juventa 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992174.html