EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Falk Radisch
Qualität und Wirkung ganztägiger Schulorganisation
Theoretische und empirische Befunde
Weinheim: Juventa 2009
(192 S.; ISBN 978-3-7799-2152-3; 21,00 EUR)
Qualität und Wirkung ganztägiger Schulorganisation Nur wenige bildungspolitische Reformvorhaben der Gegenwart genießen so viel Akzeptanz in der Öffentlichkeit wie die Einrichtung ganztägiger Schulangebote. Die Ganztagsschule verheißt die Lösung vieler Systemprobleme, auf welche die large-scale-assessments der empirischen Bildungsforschung hinweisen. Ganztagsschulische Angebote sollen die individuelle Förderung besonders leistungsschwacher wie leistungsstarker Schüler/innen verbessern, sie sollen die Bildungschancen schulferner Milieus mehren und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Aus reformdidaktischer Sicht soll im Ganztag mehr und anderes Lernen stattfinden, Ganztagsangebote sollen zur Öffnung von Schule und zur Professionalisierung des pädagogischen Personals beitragen und so insgesamt den veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen gerecht werden. Vor diesem Hintergrund weitreichender Wirkungserwartungen wurden in den letzten Jahren große Investitionen in den Angebotsausbau getätigt, von denen auch die empirische Bildungsforschung profitiert hat. Es wurde ein Forschungsprogramm installiert, das belastbare Daten zu den ganztagsschulischen Entwicklungsprozessen und deren Effekten liefern soll. Bislang steckt eine Qualitäts- und Wirkungsforschung zu Ganztagsschulen noch in den Kinderschuhen – ebenso wie die faktische Entwicklung ganztagsschulischer Angebote selbst, die zumeist als Additum zum Halbtag in offener oder allenfalls teilgebundener Form betrieben werden.

Die hier zu besprechende Dissertation von Falk Radisch (ehem. Mitarbeiter der Forschungsgruppe StEG und nun als Leiter am Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie an der Pädagogischen Hochschule der Zentralschweiz in Zug tätig) liefert einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Frage, welche Qualitätsmerkmale Ganztagsschulen auszeichnen und wie ihre Wirkungen zu modellieren sind. Radischs Gegenstand in diesem Forschungszusammenhang sind Effekte äußerer, d.h. struktur- und organisationsbezogener Merkmale des Ganztagsangebots auf die Lesekompetenz und nicht-leistungsbezogene Wirkungsbereiche. Empirische Basis sind Sekundäranalysen der beiden großen Studien IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) und StEG (Studie zur Entwicklung der Ganztagsschule). In den ersten Kapiteln der Arbeit entwickelt Radisch ein differenziertes theoretisches Modell ganztagsschulspezifischer Qualitätsmerkmale und ihrer Effekte. Aus der Perspektive des mit Helmut Fend und Wolfgang Klafki pädagogisch informierten schultheoretischen Funktionalismus ergeben sich für Radisch die zentralen Fragen einer „pädagogischen Wirkungsforschung“ (Fend). Er weist darauf hin, dass für eine Rekonstruktion der Wirkungen ganztägiger Schularrangements die theoretischen Differenzierungen Fends zu schlicht auf unterrichtliche Arrangements und damit auf das Setting der Halbtagsschule fokussiert sind. Das Problem besteht also darin, dass wir zwar bereits viel aus der empirischen Bildungsforschung über Schulqualität und -effektivität wissen, dieses Wissen aber nicht einfach auf die neu entstehenden Ganztagsschulen übertragen können, ohne deren Besonderheiten aus dem Auge zu verlieren. Radisch schlägt daher weiterführend vor, als Kontexte sowohl außerunterrichtliche Lern- und Freizeitangebote zu berücksichtigen als auch nicht nur – wie Fend – fachspezifische und -übergreifende Wirkungen, sondern darüber hinaus als dritten eigenständigen Bereich fachunabhängige Wirkungen zu unterscheiden. Auch bei der Diskussion der Schuleffektivitätsforschung stellt sich das Problem, ob die theoretischen Modellierungen von school-effectiveness den erweiterten Lernangeboten und Erfahrungsräumen des Ganztags angemessen sind. An seine schultheoretischen Überlegungen anknüpfend kommt Radisch zum Schluss, dass sich zwar insbesondere die die Schulebene betreffenden Faktorenkomplexe der Effektivitätsforschung eignen, um empirische Kontraste zwischen Halb- und Ganztagsschulen aufzuhellen, dass aber „die Effektivität von Schule nur dann wirklich begriffen werden kann, wenn sie durch Indikatoren für alle unterschiedlichen Wirksamkeitsbereiche erfasst“ (37) und nicht auf kognitive Leistungserträge reduziert wird. Um diesbezügliche Hypothesen generieren und ein erweitertes Modell ganztagsschulischer Qualität konstruieren zu können, sichtet Radisch dann im dritten Kapitel seiner Studie Befunde der nationalen und internationalen Ganztagsschulforschung. Es handelt sich hierbei um einen wertvollen und informationsreichen Literaturüberblick. Zwar müssen einige Studien wegen methodischer Mängel in ihrer Aussagekraft relativiert werden, als Globalerkenntnis lässt sich allerdings festhalten, dass allein die zeitliche Ausdehnung von Schule auf den Nachmittag keine hinreichende Voraussetzung für eine größere Schuleffektivität ist – ein Befund, den Radisch später in seinen eigenen Auswertungen erhärten kann. Um die Defizite einer unzureichenden Modellierung ganztagsschulischer Qualität auszugleichen, legt Radisch dann im vierten Kapitel mit Bezug auf amerikanische Studien zu after-school-programs und die Überlegungen der vorherigen Kapitel Hypothesen und ein eigenes Modell vor, das weit über die Ebenen und Dimensionen der etablierten Effektivitätsforschung hinausgeht (87, Abb. 4-3). Einbezogen werden in dieses Modell Umfeldfaktoren, die Programm- und Angebotsstruktur selbst, Prozessmerkmale der Angebotsgestaltung und individuellen Nutzung sowie die entsprechend ausdifferenzierten Wirkungen (fachbezogen, -übergreifend und -unabhängig).

Das Datenmaterial der IGLU-Studie (Kap. 5), in deren Erhebungen gar nicht zwischen Ganz- und Halbtagsschulen differenziert wurde, ergänzt Radisch um eine Nacherhebung in Form von Schulleiterbefragungen zu organisationsstrukturellen und inhaltlichen Eckpunkten möglicher Ganztagsangebote. Mit der Nacherhebung kann vor allem geklärt werden, ob der Besuch des Ganztagsangebots und dessen Ausmaß (Anzahl der Wochentage) in Bezug auf die Leseleistung und überfachliche Wirkungen einen Unterschied machen. Die Darstellung der verwendeten Konstrukte und Datenanalysen zeugt von großer Sorgfalt und sichert den intersubjektiven Nachvollzug. Für die IGLU-Studie kommt Radisch zum Ergebnis, dass viele der Ganztagsgrundschulen über ein respektables extracurriculares Angebot verfügen. Insbesondere Schulen mit einem konzeptionell in den Vormittag integrierten Angebot sowie einem Angebotsumfang von mindestens drei Ganztagen in der Woche zeichnen sich durch ein breites Förderangebot aus. Für die eigene Fragestellung nach den Effekten der o.g. organisationsstrukturellen Merkmale stellt Radisch fest, dass kein Einfluss auf die Leseleistung zu erkennen ist. Auch die Chancengleichheit (gemessen über den Zusammenhang zwischen Migrations- und sozioökonomischem Hintergrund und den Leseleistungen) wird allein durch den Besuch einer Ganztagsschule nicht positiv tangiert. Allerdings muss die Geltung der Ergebnisse eingeschränkt werden, denn wesentliche Qualitätsmerkmale der inneren Ausgestaltung der Angebote wie auch die jeweils unterschiedliche individuelle Nutzung der Angebote durch die Schüler/innen bleiben als wesentliche Faktoren in dieser zudem querschnittlichen Analyse eben außer Acht. Demgegenüber besteht der Vorteil in der Analyse der Daten aus der StEG-Studie (Kap. 6), die sich auf alle Schulstufen erstreckt, darin, dass auch Aussagen über die individuelle Teilnahmeintensität und spezifische Angebotspräferenzen (an welchen Angeboten wird teilgenommen?) möglich sind. In der Tat sind für die Wirkungen von Ganztagsschulen Merkmale der individuellen Teilnahme bedeutsam. Die Teilnahme an freizeitorientierten Angeboten zeitigen vor allem – erwartbare – positive Effekte im sozioemotionalen Bereich (Schulfreude und prosoziales Verhalten), geringer sind die Auswirkungen der fachbezogenen Angebote auf das akademische Selbstkonzept, ein Skalenkonstrukt, das generalisierte Einschätzungen der eigenen Fähigkeiten erfasst.

Der wesentlichste Befund der Studie Radischs ergibt sich aber aus den insgesamt geringen Effekten der Merkmale der Schulorganisation, also der äußeren Angebotsstrukturmerkmale. Denn diese untermauern nochmals einen Zentralbefund der Schulqualitäts- und -effektivitätsforschung der 1980er und 1990er Jahre, nämlich dass sich nicht linear von außer- und innerschulischen Kontextmerkmalen auf die Qualität und Effekte von Schule und Unterricht schließen lässt, sondern dass ausschlaggebend für die Wirksamkeit und Güte die jeweils einzelschulspezifisch hervorgebrachte Lernkultur ist, also das, was in den Schulen aus den Rahmenbedingungen gemacht wird. Radisch empfiehlt daher, „verstärkt Merkmale der pädagogischen Ausgestaltung von Ganztagsbetrieb und Ganztagsangeboten in den Mittelpunkt zu rücken“ (161). Der Wert seiner Arbeit ist so weniger in den ernüchternden, aber zugleich kaum erwartungswidrigen empirischen Befunden zu sehen, sondern vor allem darin, dass er mit seinem Entwurf eines ganztagsschulspezifisch erweiterten Qualitätsmodells der zukünftigen Ganztagsschulforschung quantitativer Provenienz wichtige theoretische und konzeptuelle Impulse geliefert hat.
Till-Sebastian Idel (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Till-Sebastian Idel: Rezension von: Radisch, Falk: Qualität und Wirkung ganztägiger Schulorganisation, Theoretische und empirische Befunde. Weinheim: Juventa 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377992152.html