EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)

Roland Lutz / Veronika Hammer (Hrsg.)
Wege aus der Kinderarmut
Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze
Weinheim / München: Juventa Verlag 2010
(248 S.; ISBN 978-3-7799-1889-9; 23,00 EUR)
Wege aus der Kinderarmut Im Mittelpunkt des Buches steht die Frage, wie „Kinder, die jetzt in Armut sind oder in Armut geraten, gegen die Folgen dieser Lebenslage geschützt“ (7) bzw. gestärkt werden können. Dieser Perspektive folgend zielen, im ersten der zwei Teile des Bandes, fünf Beiträge darauf, die gesellschaftliche Handlungsebene näher zu beleuchten und abgeleitet von zentralen Lebenslagenbereichen von Kindern „einschlägige Aufgaben in unterschiedlichen Politikfeldern, sozusagen als politischen Rahmen zum Abbau von Kinderarmut“ (8), zu diskutieren. Der Schwerpunkt liegt auf dem zweiten Teil mit insgesamt elf Beiträgen. Angelehnt an den „capability approach“ von Amartya Sen untergliedert sich dieser Teil in politische und ökonomische sowie soziale und kulturelle Chancen und Aspekte des sozialen Schutzes von Kindern in Armut. Mit Blick auf die lokale Handlungsebene der Sozialen Arbeit sollen die „ganz praktischen und alltäglichen professionellen Maßnahmen und Handlungen zur Schaffung von Ermöglichungsbedingungen“ für Kinder in Armut herausgearbeitet werden (8).

Die Autorinnen und Autoren richten sich mit dem Band neben Studierenden in erster Linie an Praktikerinnen und Praktiker, die im Bereich Kindheit, Jugend und Familie tätig sind. Dieser Lesergruppe soll die Kombination aus Gesellschaftsanalyse und fachlichen Anregungen „eine Handreichung für tägliches professionelles Handeln“ bieten (8).

Der Teil zur gesellschaftlichen Handlungsebene wird durch einen überblickartigen Beitrag von Christoph Butterwegge eingeleitet. Der Autor sieht (Kinder-)Armut als „Folge der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung“ (11). Differenzierter und damit erkenntnisfördernder ist seine weiterführende Argumentation, Kinderarmut im Spannungsfeld zwischen einem Rückgang des Normalarbeitsverhältnisses, einer Erosion traditioneller Familienstrukturen und dem derzeitigen Sozialstaatsabbau zu situieren. Aus dieser Multikausalität leitet er ein mehrdimensionales Vorgehen gegen Kinderarmut ab, das Veränderungen in verschiedenen Politikbereichen umschließen und mit einem Sozialstaatswandel vom derzeit „schlanken“ zu einem „interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat“ (19) einhergehen soll.

Vertieft wird die Analyse der gesellschaftlichen Handlungsebene durch Veronika Hammers Auseinandersetzung mit der derzeitigen Bildungspolitik. Die Autorin konstatiert, dass Chancengleichheit in der Bildung für arme Kinder in Deutschland „eher eine Illusion als eine Realität“ darstellt (25). Ihre Kritik richtet sich primär gegen die „hohe soziale Selektivität“ (26) in (Hoch-)Schulen und Weiterbildungsmaßnahmen, während sie die Gelegenheit ungenutzt lässt, auch die an den frühkindlichen Bildungsbereich herangetragenen Hoffnungen zu überprüfen.

Andreas Klocke stellt die Bedeutung sozialen Kapitals als „Mediatorvariable zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit“ (41) heraus und verdeutlicht die „protektive Kraft dieser Ressource für die Gesundheitsbiographie“ von Kindern und Jugendlichen in Armut (40). Offen bleibt, welche spezifischen Implikationen daraus für die Ausgestaltung gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen abgeleitet werden können.

Mit der Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik greift Monika Alisch eine im Kinderarmutsdiskurs seltener behandelte Debatte auf. Obwohl der Beitrag nur bedingt eine spezifisch auf Kinderarmut fokussierte Perspektive einnimmt, wird deutlich, dass Alisch in den Instrumenten der sozialen Stadtentwicklung ein wesentliches Potenzial zur Verbesserung der Situation armer Kinder sieht.

Barbara König geht der Frage nach „warum der Wandel von der Familienförderung zur Kinderförderung möglich und notwendig ist“ (60). Die Autorin stellt heraus, dass die deutsche Politik bis dato verpasst hat, an „die pädagogischen und soziologischen Debatten vergangener Jahrzehnte“ (61) anzuknüpfen. Daher wird eine Familienpolitik verfolgt, die Kinder lediglich als „Anhängsel“ ihrer Eltern begreift und zu wenig auf ihre eigenständigen Persönlichkeitsrechte fokussiert ist (61). Als Ausweg aus den derzeitigen Problemen der monetären Sicherung von Kindern plädiert sie auf der Maßnahmenebene für eine eigenständige Kindergrundsicherung als Parallelum zu Infrastruktur- und Bildungsmaßnahmen.

Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Ronald Lutz mit einem konzeptionell ausgerichteten Beitrag zur Etablierung von „Verwirklichungskulturen in sozialen Räumen“ (76) als Modell der kommunalen Armutsprävention. In seinem progressiv argumentierenden Beitrag kritisiert Lutz die Fixierung kommunaler Armutsprävention auf die Gruppe „armer“ Bevölkerungsteile und befürwortet eine Ausweitung des Zugangs, da Gruppen oberhalb der Armutsgrenze „mitunter auch Unterstützung, Förderung und Aktivierung im Alltag benötigen“ (83). Um sich von der „Privilegierung der Armut“ (85) zu entfernen und dennoch „Chancen für arme Menschen, und insbesondere auch für Kinder, zu ermöglichen“ (85) verweist der Autor auf die Schaffung von Verwirklichungskulturen als „Aufgabe des lokalen Sozialstaates“ (93) und plädiert für ein vernetztes Zusammenspiel mehrerer Module, die u. a. aufsuchende Hilfen für Familien, Präventionsketten, Unterstützungsleistungen durch Familienzentren sowie lebensweltorientierte Freizeit- und Kulturangebote für Kinder umschließen sollen.

Die politischen und ökonomischen Verwirklichungschancen von Kindern werden durch die Beiträge von Stefanie Debiel sowie von Kay Bourcarde und Ernst-Ulrich Huster näher beleuchtet. Debiel fokussiert auf die Frage, „wie Partizipation als Aktivierung von Kindern auf sozialräumlicher Ebene dazu beitragen kann, strukturelle und individuelle Benachteiligungen von Kindern abzubauen“ (105). Die Autorin leitet die Notwendigkeit der Partizipation von Kindern aus der UN-Konvention über die Rechte des Kindes ab und bündelt bisherige Erkenntnisse der Partizipationsforschung zu Anregungen für eine kommunalpolitische Beteiligungspraxis.

Bourcarde und Huster thematisieren finanzielle Hilfen für Kinder in Armut, wobei sie neben kleineren Einblicken in kommunalpolitische Prozesse vor allem die im ersten Teil des Buches angerissene Analyse des Familienlastenausgleichs und der Sozialgesetzgebung für Kinder fortführen.

Den quantitativ größten Themenblock des Sammelbandes mit sechs Beiträgen bilden die sozialen und kulturellen Verwirklichungschancen von Kindern. Louise Mummert und Ulrich Gintzel ergänzen die von Lutz konzeptionell geführte Debatte kommunaler Handlungsoptionen zur Bekämpfung von Kinderarmut um best-practice-Beispielen in Städten wie Monheim am Rhein, Dormagen etc. Darauf basierend entwerfen sie einen programmatischen Anforderungskatalog für kommunalpolitisches Handeln, wobei sie der Leitidee des Bandes folgen, derzufolge „integrierte kommunale Strategien und Konzepte“ (130) entstehen müssen, um der Multidimensionalität von Kinderarmut gerecht zu werden.

Anschließend greift Margherita Zander mit ihrem Plädoyer für Resilienzförderung als Bestandteil einer kommunalen Kinderarmutsprävention ein in der Kinderarmutsforschung mittlerweile fest verankertes Thema auf. Differenziert nach verschiedenen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern erörtert sie, wie sich Bemühungen zur Resilienzförderung von Kindern in risikobelasteten Lebensumständen „auf möglichst breiter Ebene an die Praxis herantragen lassen“ (147).

Eine hervorzuhebende Bereicherung des Kinderarmutsdiskurses erbringt Dagmar Brand mit ihrem Beitrag zur spezifischen Problematik von Kindern mit Behinderungen, die in Einelternfamilien leben. Brand verdeutlicht, dass diese Gruppe von Kindern von einer mehrfachen Marginalisierung betroffen ist. Zum einen sind die Rahmenbedingungen des Aufwachsens erschwert, da alleinerziehende Eltern von Kindern mit Behinderungen u. a. größere Schwierigkeiten bei der Aufnahme einer Erwerbsarbeit haben, psychisch, physisch und finanziell stärker belastet sind und stärker auf institutionelle Unterstützungsleistungen zurückgreifen müssen als andere Elterngruppen. Zum anderen stellen aus der Sicht der Autorin die Lebensumstände dieser Kinder auch einen blinden Fleck in der Kinderarmutsforschung dar, so dass die Gefahr einer doppelten „Vernachlässigung durch Forschung und Politik“ (165) besteht.

Auch Bernd Schulz lenkt mit seinem Beitrag zur Frage, was Soziale Arbeit für die Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund leisten kann, das Augenmerk auf Heranwachsende, die hinsichtlich zentraler Lebensbereiche benachteiligt und „in einem höheren Maße Armutsrisiken ausgesetzt sind als einheimische Gleichaltrige“ (177). Der Beitrag befruchtet die in der Kinderarmutsforschung geführte Debatte vor allem durch den Verweis darauf, dass zu der Gruppe der Migrantinnen und Migranten u. a. auch Flüchtlinge sowie (nicht anerkannte) Asylbewerber/innen und deren Kinder zählen. Dabei geht der Autor in seinem Beitrag zwar nicht weiter auf diese Differenzierung ein; aber er reißt dadurch eine besonders gravierende rechtlich-institutionelle Marginalisierung und einen anhaltenden blinden Fleck der Kinderarmutsforschung zumindest an.

Abgerundet wird der Themenblock durch die Beiträge von Uwe Sandvoss und Kathrin Kramer sowie Silke Mardorf et al., in denen das kommunalpolitische Handeln des „Dormagener Modells“ und die lokalen Strategien gegen Kinderarmut in Hannover en detail vorgestellt werden.

Im Abschnitt zum sozialen Schutz von Kindern als Teil einer lokalen Handlungsstrategie gegen Kinderarmut argumentiert Sabine Wagenblass, dass frühe Hilfen und soziale Frühwarnsysteme strukturell „die Folgen von Armutslagen nicht aufheben“ (229), aber auf der individuellen Ebene die Folgen von Armut in Teilbereichen abfedern können. Auch in ihrem Beitrag ist ein deutliches Plädoyer für eine frühzeitige, koordinierte, system- und lebensphasenübergreifende sowie entsäulte Ausgestaltung von Unterstützungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Zusammenarbeit mit anderen Hilfesystemen deutlich erkennbar.

Abschließend geht Michael Borg-Laufs der Frage nach, inwiefern die Befriedigung „psychischer Grundbedürfnisse bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen durch die Armutslage gefährdet ist“ (237), wobei der Autor bisherige Forschungserkenntnisse zu Interventionsansätzen Sozialer Arbeit gewinnbringend zusammenfasst.

Auch wenn das Gros der Beiträge in diesem Band primär bestehendes Wissen bündelt und nur vereinzelt neue konzeptionelle Pfade beschritten werden, illustrieren die Beiträge spezielle Forschungsdesiderate, sensibilisieren für anhaltende Marginalisierungen und zeigen alternative Handlungsoptionen im lokalen Bereich auf. Vor allem mit den zwei letztgenannten Aspekten erreichen die Autorinnen und Autoren ihr Ziel, Praktikerinnen und Praktikern der Sozialen Arbeit interessante Anregungen und Diskussionspotential zu übermitteln.

Als Anregung bzw. als Ausblick kann angemerkt werden, dass das Buch zwar durchgängig von der Idee der Notwendigkeit weit reichender gesamtgesellschaftlicher Veränderungen durchzogen ist, damit einhergehende Fragestellungen werden jedoch nur randständig behandelt. Dabei formuliert u. a. Zander die entsprechende Leitfrage explizit: „Warum bloß finden die zahlreich kursierenden Vorschläge und Konzepte, die im Kleinen bereits erprobten praktischen Ansätze, letztlich so wenig Beachtung bei jenen, welche die Macht haben“ (142)? Eine stärkere Anbindung an diesbezügliche diskursive Blickrichtungen hätte dazu beitragen können, den in den einzelnen Beiträgen postulierten politischen Forderungen nach institutionellem Wandel mehr analytische Schärfe zu verleihen. Möglicherweise wäre hierdurch auch der Zielsetzung des ersten Buchteils stärker Genüge getan, mit den gesellschaftlichen Analysen, „tragfähiges sozialwissenschaftliches Basiswissen und ausgewählte politisch-rechtliche Bezüge“ (8) zu formulieren.
Maksim Hübenthal (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maksim Hübenthal: Rezension von: Lutz, Roland / Hammer, Veronika (Hg.): Wege aus der Kinderarmut, Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und sozialpädagogische Handlungsansätze. Weinheim / München: Juventa Verlag 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991889.html