Im Jahr 1999 begann eine gröĂer angelegte Studie zu den Themen sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gewalt, gefördert vom Bundesministerium fĂŒr Familie, Senioren, Frauen und Jugend, auf der die vorliegende Veröffentlichung basiert. Der vorliegende Reader versteht sich dabei nicht als klassischer wissenschaftlicher Abschlussbericht, sondern als eine Art âLesebuchâ, das sich an die vielfĂ€ltige Gruppe der TĂ€tigen im Bereich der Behindertenhilfe wendet.
In sieben Kapiteln werden von einem, in seiner Zusammensetzung wechselnden, Autorenkollektiv die Ergebnisse der so genannten Berlin-Rostock-Studie zusammengefasst dargestellt. Hintergrund der Studie bildet eine Befragung von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Mitarbeiterinnen und Mitabeitern aus zwei Institutionen der Behindertenhilfe, dem Pastor-Braune-Haus in Berlin und dem Michaelshof in Rostock zu den im Buchtitel angegebenen Themen.
Nach einer Einleitung wird die Studie in Kapitel 2 zunĂ€chst ausfĂŒhrlich vorgestellt.
Die Ergebnisse einer ersten groĂe Teilstudie, die die Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner zu sexueller Selbstbestimmung und sexualisierter Gewalt in den Mittelpunkt rĂŒckt, sind Gegenstand von Kapitel 3. Es folgt die Darstellung der Sicht des Fachpersonals auf sexuelle Selbstbestimmung (Kapitel 4), woran sich ein Exkurs zur Sicht des Fachpersonals auf HomosexualitĂ€t anschlieĂt.
Kapitel 5 widmet sich den erzielten Ergebnissen bezĂŒglich der Sicht des Fachpersonals auf sexuelle Gewalt und schlieĂlich wird in den Kapiteln 6 und 7 der Forschungsprozess insgesamt reflektiert bzw. ein resĂŒmierender Ausblick erstellt.
TatsĂ€chlich ist mit dieser gewĂ€hlten Dokumentationsform ein Reader entstanden, den man nicht Kapitel fĂŒr Kapitel durchlesen muss, um ihn zu verstehen. Ein âSpringenâ in andere Kapitel ist durchaus möglich. Wer sich wie der Rezensent jedoch vor allem fĂŒr die Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner interessiert, wird sich aber recht schnell in Kapitel 3 fest lesen, was einerseits mit der sehr differenzierten und einfĂŒhlsam dokumentierten Vorgehensweise der Interviewerinnen, andererseits aber auch mit den teilweise sprachlos machenden AusfĂŒhrungen der Befragten zu tun hat.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Autorenkollektiv als ein wesentliches Ergebnis festhĂ€lt, dass es auch bezĂŒglich der Themen âsexuelle Selbstbestimmungâ und âsexualisierte Gewaltâ noch erhebliche Unterschiede zwischen gesetzlich verankerten und in der Behindertenhilfe als Konsens betrachteten GrundsĂ€tzen (Stichwort Selbstbestimmung) und der gelebten Praxis gibt. Die Autorinnen und Autoren stellen schlieĂlich fest, dass sich durch die Studie die Fragen von Autonomie und Selbstbestimmung, aber auch die Frage des Schutzes der Betroffenen auf zwei Ebenen konkretisiert habe: Einerseits auf der Ebene des individuellen Selbstwertes und der eigenen Selbstwahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung und andererseits im Bereich der Autonomieförderung unter institutionellen Bedingungen. Umso unverstĂ€ndlicher ist die im ResĂŒmee aufgeworfene Diskussion der Problematik von institutionellen Bedingungen, die in recht verkĂŒrzter Form Bezug nimmt auf die Anti-Psychiatriebewegung Italiens (vgl. 440) und das Fehlen eines Verweises auf eine Diskussion um De-Institutionalisierung in diesen ZusammenhĂ€ngen. Dass sich die Autorinnen und Autoren dieser Diskussion an dieser Stelle verschlieĂen und Institutionen âin Schutzâ nehmen, will hier nicht recht einleuchten, da es nicht von der Hand zu weisen ist, dass deinstitutionalisierte Bedingungen Autonomiebestrebungsprozesse eher fördern als institutionelle Bedingungen dies vermögen.
Die KomplexitĂ€t des Readers ist an vielen Stellen schlicht ĂŒberwĂ€ltigend und man merkt den Autorinnen und Autoren das BemĂŒhen an, so umfassend wie möglich die erhobenen Daten darzustellen. Leider fehlt den einzelnen Kapiteln ĂŒber die beschriebenen Teilbereiche hinaus eine einheitliche Struktur der Darstellung, was aber ob der Unterschiedlichkeit des dokumentierten Materials vielleicht kaum durchfĂŒhrbar erscheint. Insgesamt liegt mit dieser Veröffentlichung ein wertvoller Beitrag zu einer Reihe höchst problematischer, tabuisierter und wenig erforschter Aspekte vor und stellt eine solide Grundlage fĂŒr weitere Forschungsvorhaben dar. ErwĂ€hnenswert und von hohem praktischen Nutzen sind drei BegleitbĂ€nde, die im Rahmen des Modellprojekts entstanden sind: Die Materialsammlung âIch bestimme mein LebenâŠund Sex gehört dazuâ stellt eine wertvolle ErgĂ€nzung und ein sehr praxistaugliches Instrumentarium dar, das einer Erweiterung der Kompetenzen aller Beteiligter dienlich sein kann [1].
[1] Jörg M. Fegert, Barbara BĂŒtow, Anette E. Fetzer, Cornelia König und Ute Ziegenhain (Hrsg., 2007). Ich bestimme mein Leben ⊠und Sex gehört dazu. Geschichten zu Selbstbestimmung, SexualitĂ€t und sexueller Gewalt fĂŒr junge Menschen mit geistiger Behinderung. Begleitband fĂŒr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wohneinrichtungen fĂŒr geistig behinderte junge Frauen und MĂ€nner, deren Eltern sowie deren gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer. Umgang mit sexueller Selbstbestimmung und sexueller Gewalt in Wohneinrichtung mit Menschen mit geistiger Behinderung. Kurzfassung des Forschungsberichts zum Modellprojekt. Vgl. http://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/Kliniken/Kinder_Jugendpsychiatrie/
Praesentationen/Bestellschein_Ich_bestimme_mein_Leben.pdf
EWR 7 (2008), Nr. 2 (MĂ€rz/April)
Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gewalt
Ein Modellprojekt in Wohneinrichtungen fĂŒr junge Menschen mit geistiger Behinderung
Weinheim/MĂŒnchen: Juventa 2006
(544 S.; ISBN 978-3-779-91883-7; 37,00 EUR)
Erik Weber (GieĂen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erik Weber: Rezension von: Fegert, Jörg M. / Jeschke, Karin / Helgard, Thomas / Lehmkuhl, Ulrike (Hg.): Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gewalt, Ein Modellprojekt in Wohneinrichtungen fĂŒr junge Menschen mit geistiger Behinderung. Weinheim/MĂŒnchen: Juventa 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991883.html
Erik Weber: Rezension von: Fegert, Jörg M. / Jeschke, Karin / Helgard, Thomas / Lehmkuhl, Ulrike (Hg.): Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gewalt, Ein Modellprojekt in Wohneinrichtungen fĂŒr junge Menschen mit geistiger Behinderung. Weinheim/MĂŒnchen: Juventa 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991883.html