EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Sammelrezension zum Thema: Schule – PĂ€dagogik – Geschlecht

JĂŒrgen Budde / Barbara Scholand / Hannelore Faulstich-Wieland
Geschlechtergerechtigkeit in der Schule
Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur
Weinheim; MĂŒnchen: Juventa 2008
(288 S.; ISBN 978-3-7799-1698-7; 24,00 EUR)
Nicola DĂŒro
Lehrerin – Lehrer: Welche Rolle spielt das Geschlecht im Schulalltag?
Eine Gruppendiskussionsstudie
Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich 2008
(259 S.; ISBN 978-3-86649-195-3; 24,90 EUR)
Hannelore Faulstich-Wieland / Katharina Willems / Nina Feltz / Urte Freese / Katrin Luise LĂ€zer
Genus – geschlechtergerechter naturwissenschaftlicher Unterricht in der Sekundarstufe I
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008
(147 S.; ISBN 978-3-7815-1603-8; 28,00 EUR)
Michael Matzner / Wolfgang Tischner (Hrsg.)
Handbuch Jungen-PĂ€dagogik
Weinheim; Basel: Beltz 2008
(413 S.; ISBN 978-3-407-83163-7; 39,90 EUR)
Katharina Willems
Schulische Fachkulturen und Geschlecht
Physik und Deutsch – natĂŒrliche Gegenpole?
Bielefeld: transcript 2007
(309 S.; ISBN 3-89942-688-6; 30,80 EUR)
Geschlechtergerechtigkeit in der Schule Lehrerin – Lehrer: Welche Rolle spielt das Geschlecht im Schulalltag? Genus – geschlechtergerechter naturwissenschaftlicher Unterricht in der Sekundarstufe I Handbuch Jungen-PĂ€dagogik Schulische Fachkulturen und Geschlecht Die fĂŒnf Publikationen, die sich dem Thema Geschlecht, Schule und PĂ€dagogik stellen, spiegeln den derzeitigen Diskurs in der Geschlechterforschung und -theorie wider. Als Hauptstrang lassen sich jene Felder der Geschlechterforschung ausmachen, die aus der kritischen Frauenforschung hervorgegangen sind. Der Fokus der Analyse richtete sich zunĂ€chst auf MĂ€dchen bzw. Frauen, die Herausarbeitung von deren „Besonderheiten“ und Defiziten in Kontrastierung mit Buben bzw. MĂ€nnern. Nach ausgiebiger Abarbeitung der Differenzen zwischen den beiden Geschlechtergruppen in Studien mit primĂ€r quantitativ orientierten Forschungsdesigns (1970er und 1980er Jahre) erfolgte eine Hinwendung zu interaktionistisch-konstruktivistischen AnsĂ€tzen, die den Fokus auf die Herstellungsmechanismen des Systems der Zweigeschlechtlichkeit bzw. der Entwicklung der GeschlechtsidentitĂ€t von MĂ€dchen und Buben richteten. Das „doing gender“-Konzept lĂ€sst sich in diesem Bereich als Leitkonzept diagnostizieren, das den Bereich der Schulforschung stark prĂ€gte. Zahlreiche Studien wurden durchgefĂŒhrt, der forschungsmethodische Schwerpunkt lag dabei auf qualitativen Methoden, und da v. a. auf ethnographischen AnsĂ€tzen und dem Einsatz von mehr oder weniger offenen Interviews. Derzeit sind die einschlĂ€gigen Forschungsarbeiten stark auf eine VerschrĂ€nkung des Geschlechterdiskurses mit anderen theoretischen Konzepten angelegt, wie z.B. aus dem Bereich der Professionalisierung, InterkulturalitĂ€t, Schulentwicklung oder Schul-/Fachkultur(en), und es gelangen zunehmend elaboriertere und innovative Forschungsmethoden zum Einsatz. Insgesamt ist die Forschungslandschaft in diesem Bereich nach wie vor stark von Wissenschaftlerinnen dominiert.

Als Folge von TIMSS, PISA und anderen internationalen Leistungsstudien entwickelte sich parallel dazu in den letzten Jahren eine Debatte um die „Jungen als Bildungsverlierer“. Das gab der Forschung im Bereich MĂ€nnlichkeit starken Aufschwung, was sich auch in einer Zunahme der Publikationen deutlich zeigt. Die Jungen-/MĂ€nnerforschung beginnt jedoch – mit wenigen Ausnahmen – dort, wo die Frauenforschung in den 1970er Jahren begonnen hat: mit einem Blick auf Differenzen gegenĂŒber den MĂ€dchen bzw. Frauen und der Herausarbeitung der Besonderheiten bzw. Defizite der Jungen bzw. MĂ€nner, wobei auch Ergebnisse der Hirnforschung und Biologie zur Untermauerung verwendet werden. Die Forschungsdesigns sind stark am quantitativen Paradigma orientiert und versuchen die Differenzen zwischen den beiden Genusgruppen in unterschiedlichen Feldern herauszuarbeiten. Interaktionistisch-konstruktivistische AnsĂ€tze werden teilweise abgelehnt bzw. gelangen nur vereinzelt zum Einsatz. Die Buben-/MĂ€nnerforschung wird von Wissenschaftlern dominiert.

Vor diesem hier skizzenhaft aufgespannten Hintergrund sind auch die vorliegenden BĂŒcher zu rezensieren und zu bewerten. ZunĂ€chst werden jene vier Werke vorgestellt, die sich dem Hauptstrang zuordnen lassen, der Sammelband zu JungenpĂ€dagogik beschließt die Sammelrezension. Um einen Überblick zu erhalten, wird zunĂ€chst auf den Entstehungszusammenhang verwiesen und das Ziel der jeweiligen Publikation umrissen. Anhand des Aufbaus werden zentrale Aussagen gebĂŒndelt, bevor eine abschließende EinschĂ€tzung und Hinweise fĂŒr das Lesepublikum vorgenommen werden.

In den ersten beiden Werken richtet sich der Blick zunÀchst auf die Fachkultur(en).


Katharina Willems (2007): Schulische Fachkulturen und Geschlecht. Physik und Deutsch – natĂŒrliche Gegenpole?

Die Publikation von Katharina Willems ist aus einem DFG-Projekt (1998-2004) unter der Leitung von Hannelore Faulstich-Wieland hervor gegangen. Drei Schulklassen der Mittelstufe eines deutschen Gymnasiums wurden ĂŒber einen Zeitraum von drei Jahren von einem großen Forscher/innenteam begleitet. Ziel war es, nicht nach Differenzen zwischen den Geschlechtern zu suchen, sondern die Herstellungspraxis von Geschlecht am Schauplatz Schule zu analysieren. Dabei wurden viele Daten gesammelt, und zwar durch teilnehmende Beobachtung, Audio- und Videomitschnitte, Konstruktinterviews, eine standardisierte Befragung von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern, Memos, die Analyse von Dokumenten sowie Fotografien.

Willems wĂ€hlt zwei Perspektiven fĂŒr ihre Untersuchung des Physik- und Deutschunterrichts: „doing gender“ und damit die Frage, wie Geschlecht in und durch die Fachkulturen am Schauplatz Schule hergestellt werden, sowie „doing discipline“ und damit die Frage, welche fachkulturellen Strukturen in den beiden ausgewĂ€hlten GegenstĂ€nden wirken, wie diese durch die handelnden Akteure und Akteurinnen (re)produziert werden und welche disziplinĂ€ren Charakteristika Geschlechterdifferenzen aktivieren oder nicht aktivieren. Ihre These geht von einer VerschrĂ€nkung dieser beiden Perspektiven aus.

Das Buch lĂ€sst sich in vier Teile gliedern: Theoretischer Hintergrund – Forschungsdesign – Ergebnisse im Detail – ZusammenfĂŒhrung und Fazit.

Die theoretische AnnĂ€herung erfolgt ĂŒber drei StrĂ€nge:

‱ (1) (Fach-)Kulturen: ZunĂ€chst wird die Zwei-Kulturen-These von Charles Percy Snow vorgestellt. Diese geht von einem Nebeneinander der literarisch-geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlich-technischen Kultur aus, von denen die Bearbeitung unterschiedlicher gesellschaftlicher Aufgaben erwartet wird. Die beiden Kulturen sind binĂ€r angeordnet und lassen sich den Gegensatzpaaren weich – hart, angewandt – rein, nicht messbar – messbar u.a.m. zuordnen. Die schulischen Fachkulturen Deutsch und Physik bauen auf diesen Traditionen auf. Willems zeichnet deren historische und gegenwĂ€rtige Verankerung im FĂ€cherkanon nach.
‱ (2) Geschlechtertheorie: Das „doing gender“-Konzept wird kurz erlĂ€utert und mit den fachkulturellen AusfĂŒhrungen in Beziehung gesetzt, sowohl allgemein als auch bezogen auf die SchulgegenstĂ€nde.
‱ (3) Als theoretischer Überbau fungieren die AusfĂŒhrung von Pierre Bourdieu zu Habitus, Feld und Illusio. Mit diesem begrifflichen Instrumentarium sollen der dialektische Zusammenhang zwischen den Strukturen und den Bedingungen des Handelns auf der einen Seite und den Dispositionen der Individuen auf der anderen Seite erfasst werden. Im Zentrum stehen die konkreten Handlungspraktiken, durch die und in denen sich die (Re-)Produktion von Strukturen vollzieht und Sinn, „Illusio“, erzeugt wird. Den Bourdieu’schen Feldbegriff spitzt sie auf die unterschiedlichen Fachkulturen zu und versteht diese in diesem Sinn als „eigene ‚Universen‘ mit jeweils eigenen Logiken“ (103). ErgĂ€nzt wird dieser Feldbegriff durch die Kategorie Raum, der auf seine sozialisatorische Wirkung und als (an)ordnendes Prinzip zu betrachten ist.

Im zweiten Teil werden das Forschungsfeld, die Schule und die Schulklassen, sowie das Forschungsdesign genauer vorgestellt. Der ethnografische Zugang ermöglicht den Einsatz unterschiedlicher Methoden, die im Sinne einer Methodentriangulation eine mehrperspektivische Erfassung des Feldes und der darin agierenden Personen zulassen.

Der dritte Teil ist den Ergebnissen gewidmet. Diese werden um einzelne Themenfelder gebĂŒndelt, die Darstellung wird damit spannend und gut lesbar. ZunĂ€chst wird der binĂ€ren Konstruktion der beiden SchulfĂ€cher Deutsch und Physik aus der Sicht der SchĂŒler/innen und Lehrpersonen nachgegangen. Mit Hilfe von Aussagen und Befragungsergebnissen werden Inklusions- und Exklusionsmechanismen der Fachkulturen in VerschrĂ€nkung mit gendering nachgezeichnet. Am untersuchten Gymnasium wird auch bilingualer Physikunterricht angeboten. Willems sieht genauer hin und fragt, ob sich die festgestellte Dichotomisierung durch die VerschrĂ€nkung von Naturwissenschaft und Sprache aufheben lĂ€sst. Ihr Ergebnis: Trotz einiger FreirĂ€ume spiegeln sich auch im bilingualen Physikunterricht die Denk- und Handlungsmuster der allgemeinen Physikillusio wider. Als drittes Themenfeld wird der Raum bearbeitet: ZunĂ€chst werden die Unterrichtsorte (KlassenrĂ€ume, PhysikrĂ€ume) vorgestellt, dann wird auf einzelne Aspekte (Pult, Offenheit versus Zugangsbarrieren, Sitzordnungen) genauer eingegangen und ihr Beitrag zur Konstruktion der dichotomen Fachkulturen herausgearbeitet.

In einem letzten Kapitel wird die jeweilige Illusio der beiden SchulfĂ€cher Physik und Deutsch und deren VerschrĂ€nkung mit der Geschlechterkategorie verdichtet dargestellt. Dazu wird nochmals auf den theoretischen Rahmen verwiesen, in den die eigenen Erkenntnisse eingebettet werden. Das ResĂŒmee der Autorin: Gender ist eine, aber entscheidende Dimension, die die Prozesse des „doing discipline“ prĂ€gt. Das Handeln der Lehrpersonen ist geprĂ€gt durch Bilder ĂŒber die Buben bzw. die MĂ€dchen, die den Blick auf Unterschiede innerhalb der beiden Genusgruppen verstellen. Die Ausrichtung der beiden Fachkulturen ist jedoch jeweils eine andere. WĂ€hrend sich das Fach Deutsch der Dimension IndividualitĂ€t verpflichtet fĂŒhlt, ist Physik auf ExklusivitĂ€t ausgerichtet. Fachkultur(en) und Geschlecht verbindet damit zweierlei: Es sind soziale Konstruktionen, die dem Handeln zugrunde liegen, und diese zeigen sich in der vermittelten Kultur. Kultur wird dabei nicht als Norm begriffen, sondern als gelebte Praxis im Sinne von „doing culture“.

In Summe: Eine wissenschaftliche Arbeit mit hohem Innovationswert! Das Bourdieu’sche Konzept wird als ĂŒbergreifende Klammer genutzt und darin die VerschrĂ€nkung von fachkulturellen und geschlechtertheoretischen AnsĂ€tzen eingebettet. Durch deren Herauslösung aus den bisherigen wissenschaftlichen Zugangskontexten erhalten diese eine neue Wendung, die zu interdisziplinĂ€ren Diskursen anregt. Willems gelingt ein Schreibstil, der das Buch auch fĂŒr Praktiker/innen anregend macht und zu umfassenden Reflexionen bezogen auf das Fach, die Gestaltung von SchulrĂ€umen und die (Re-)Produktion von Geschlechterstereotypen einlĂ€dt.


Hannelore Faulstich-Wieland / Katharina Willems / Nina Feltz / Urte Freese / Katrin Luise LĂ€zer (2008): Genus – geschlechtergerechter naturwissenschaftlicher Unterricht in der Sekundarstufe I

GENUS – Geschlechtergerechter naturwissenschaftlicher Unterricht in der Sekundarstufe I – war ein vom EuropĂ€ischen Sozialfonds finanziertes Projekt (Laufzeit: 2005-2007). Beteiligt waren das Hamburger Landesinstitut fĂŒr Lehrerbildung und Schulentwicklung, die UniversitĂ€t Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, und sieben Projektschulen (Haupt- und Realschulen, Gymnasien). Die einzelnen BeitrĂ€ge werden von den genannten Autorinnen gestaltet, sind aber in ihrem Aufbau sinnhaft aufeinander bezogen.

In ihrem Einleitungsbeitrag gibt Faulstich-Wieland zunĂ€chst eine Definition von Geschlechtergerechtigkeit, die bestimmend fĂŒr die weiteren AusfĂŒhrung ist und ĂŒber einen auf Differenz angelegten Gerechtigkeitsbegriff (Motto: „Den Geschlechtern gerecht werden.“) hinaus verweist. Geschlecht soll nicht dramatisiert werden, sondern diese Kategorie wird als Ansatzpunkt betrachtet, um Gerechtigkeit in allen Richtungen mit Blick auf die Vielfalt der Differenzen zu verwirklichen. Es geht den Autorinnen daher um eine Entdramatisierung von Geschlecht und um die BerĂŒcksichtigung von Geschlechtergerechtigkeit als Haltung, die in die schulische Praxis einfließen muss. Um diesen RĂŒckfluss zu ermöglichen, mĂŒssen die handelnden Akteure und Akteurinnen zunĂ€chst Genderwissen haben, erst dann können Differenzen ĂŒberhaupt wahrgenommen werden. FĂŒr eine Weiterentwicklung in Richtung einer „geschlechtergerechten Schule“ muss jedoch dann eine kritische Reflexion der beobachteten Differenzen einsetzen. Dem Dreischritt „Dramatisierung – Reflexion – Entdramatisierung“ folgt auch der weitere Aufbau dieses Buches. Das heißt, es werden zunĂ€chst Untersuchungsergebnisse vorgestellt, in denen sich der Fokus auf die Geschlechterkategorie richtet. Diese Ergebnisse laden zur Reflexion ein, zielen aber – unter Hinzuziehung von weiteren Perspektiven – auf eine Entdramatisierung von Geschlecht ab. Willems stellt – in diesem Sinne – als weitere Perspektive theoretische Überlegungen an: bezogen auf die Fachkultur Physik und die Illusio, die dem Unterrichtsfach Physik zugrunde liegt. Diese Einbettung erfolgt als geraffte Darstellung jener Überlegungen, die sie in ihrer eigenen Untersuchung (siehe oben) sehr ausfĂŒhrlich formuliert.

Um der MehrdimensionalitĂ€t der theoretischen Überlegungen auch forschungsmethodisch gerecht werden zu können, wurden in den einzelnen Untersuchungen unterschiedliche Forschungsmethoden eingesetzt. In den folgenden BeitrĂ€gen werden diese und die daraus resultierende Ergebnisse prĂ€sentiert.

Besonders interessant sind die von Hannelore Faulstich-Wieland und Urte Freese vorgenommenen Analysen des Physik- und Chemieunterrichts anhand von ethnographischen Protokollen ĂŒber ausgewĂ€hlte Unterrichtseinstiege, geschlechterdifferente Bewertungen und Zuschreibungen von Leistung oder Verhalten, Geschlecht dramatisierende Szenen, Unterrichtseinheiten, die in geschlechtshomogenen Settings durchgefĂŒhrt werden, und schließlich das Experiment als besondere Form im Chemieunterricht. Anhand von Ausschnitten aus den Unterrichtsprotokollen wird die forschungsmethodische Vorgangsweise dokumentiert. Das gewĂ€hrleistet die Nachvollziehbarkeit der Analyse und der Ergebnisse, ermöglicht aber auch das Hinterfragen von didaktischen Konzepten, schulischen Normen und Handlungsmustern, die den handelnden Personen wahrscheinlich keineswegs bewusst sind. So zeigt beispielsweise die kritische Analyse der Unterrichtseinstiege, dass es den Lehrpersonen kaum gelingt Neugier und Interesse fĂŒr das Fach Physik zu wecken.

Ein innovativer Zugang zur Gedankenwelt der SchĂŒler/innen wird mit der GENUS-Fotomethode gezeigt (Autorinnen: Katharina Willems und Nina Feltz). Sie bestand darin, dass SchĂŒler und SchĂŒlerinnen Fotos zu/mit/ĂŒber Physik machten, die im Anschluss den Forscherinnen prĂ€sentiert wurden. Ziel war es, das FachkulturverstĂ€ndnis von Physik zu eruieren und VerĂ€nderungspotential auszuloten. VerblĂŒffend waren die große Bandbreite an GegenstĂ€nden, die die Jugendlichen auswĂ€hlten, wobei der erlebte Unterricht die Auswahl (mit)prĂ€gte, das Interesse an Funktionsweisen und AblĂ€ufen sowie die Tatsache, dass ein Transfer in die außerschulische Lebenswelt durchaus gelingen kann. Das Fachimage von Physik und Chemie ist geprĂ€gt durch GefĂ€hrlichkeit und die Begriffe objektiv, eindeutig, rational und unbelebt. Den SchĂŒlern und SchĂŒlerinnen fĂ€llt es schwer, die Physik-Fachsprache anzuwenden – ein Hinweis auf die ExklusivitĂ€t des Faches. Zuletzt wird skizziert, wie die fĂŒr Forschungszwecke genutzte Foto-Methode auch im Regelunterricht eingesetzt werden könnte.

Schließlich werden die Ergebnisse einer SchĂŒler/innenbefragung vorgestellt (Autorin: Katrin Luise LĂ€zer). Diese sind großteils wenig ĂŒberraschend, runden aber das Gesamtbild ab. Fazit: MĂ€dchen und Buben beurteilen den Physikunterricht in Ă€hnlicher Weise, Buben fĂŒhlen sich aber dennoch hĂ€ufiger angesprochen als MĂ€dchen. Ein guter Unterricht ist fĂŒr alle Befragten dadurch gekennzeichnet, dass die EinfĂŒhrungen in die Unterrichtsthemen interessant gestaltet, anschauliche Beispiele prĂ€sentiert und ein Alltagsbezug hergestellt werden. „Ein guter Physikunterricht ist fĂŒr Jungen und MĂ€dchen hilfreich“ (116). Um speziell MĂ€dchen fĂŒr das Unterrichtsfach zu motivieren, mĂŒsste jedoch an deren Beteiligung im Unterricht speziell gearbeitet werden.

Zum Abschluss werden die beteiligten Schulen vorgestellt und erste didaktische und methodische Anregungen gegeben.

Dieser Band ist eine gute EinfĂŒhrung in die konkrete Arbeit von Bildungsforscher/inne/n, erweitert die Betrachtungsperspektiven, ermöglicht damit der Debatte um Geschlechtergerechtigkeit sich aus ihrer oft als einseitig empfundenen Denkrichtung herauszulösen und ist fĂŒr Praktiker/innen an der Schulen eine Hilfe bei der (Weiter-)Entwicklung ihrer eigenen Reflexions- und DifferenzfĂ€higkeit.


JĂŒrgen Budde / Barbara Scholand / Hannelore Faulstich-Wieland (2008): Geschlechtergerechtigkeit in der Schule

Diese Publikation ist aus einer ethnographischen Studie hervorgegangen, die an einem österreichischen Gymnasium durchgefĂŒhrt wurde. In vier Klassen wurde in drei ca. vierwöchigen Feldphasen im Schuljahr 2005/06 vielfĂ€ltiges Material gesammelt, um die an diesem Standort existierende Schulkultur in ihrer ganzen Vielfalt erfassen zu können: ethnographische Protokolle ĂŒber den Unterricht bzw. außerunterrichtliche AktivitĂ€ten (z.B. Sportfest), Interviews mit den LehrkrĂ€ften, Leistungstests, Schulnoten und Anmeldestatistiken, Homepage, Flyer, Informationen zum Schulprofil. Theoretischer Hintergrund ist ein aus den Überlegungen von Werner Helsper und Pierre Bourdieu abgeleiteter (Schul-)Kulturbegriff, wobei sich zwei GedankenstrĂ€nge wie ein roter Faden durch das Buch ziehen: die Herausarbeitung des ImaginĂ€ren, das sich in den formulierten AnsprĂŒchen, in der Illusio, zeigt, und des Realen, das auf Basis der Analyse der Handlungspraxis beobachtet werden soll.

Ausgangspunkt ist das Faktum, dass der untersuchten Schule Geschlechtergerechtigkeit als großes Anliegen gilt. In der Studie wird kritisch der Frage nachgegangen, welches Bild von Geschlechtergerechtigkeit die Akteure und Akteurinnen tatsĂ€chlich haben, welches VerstĂ€ndnis sich in der Schulkultur, im Unterricht, in der Handlungspraxis rekonstruieren lĂ€sst und welche Chancen bzw. Blockaden mit der Umsetzung des Anspruchs einhergehen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: EinfĂŒhrung in die ausgewĂ€hlte Projektschule – differenzierte Darstellung der „Besonderheiten“ dieser Schule – ResĂŒmee.

Das Spezifische des Gymnasiums wird im historisch-systematischen Kontext des österreichischen Schulwesens herausgearbeitet. Dazu werden die bildungspolitischen Maßnahmen zur Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit bzw. Gleichstellung der letzten Jahre ebenso dargestellt wie die Geschichte des Standortes. Dem Profil der Schule wird mit Hilfe vorhandener Dokumente der Selbstdarstellung nachgegangen. Schließlich werden der Raum Schule inkl. der untersuchten KlassenrĂ€ume sowie die einbezogenen Schulklassen, die LehrkrĂ€fte und die zu Schulbeginn gesetzten Maßnahmen zur Eingliederung in die neue Schule vorgestellt. Fazit: An der Schule zeigt sich ein „bunter Mix“ aus geschlechterdifferenzierenden und -separierenden Maßnahmen und gleichzeitigen Gleichstellungsbestrebungen. Solche sind zwar im Leitbild, auf der Ebene des ImaginĂ€ren, festgehalten, doch nicht an prioritĂ€rer Stelle. Konflikte mit anderen Schulschwerpunkten, v.a. dem Umweltthema und dem sozialen Schwerpunkt, scheinen verdeckt zu existieren.

Um die Ebene des Realen zu erfassen werden in den folgenden acht Kapiteln einzelne Aspekte sehr genau und differenziert abgearbeitet. Dabei werden in vier Kapiteln die spezifischen und im Sinne der Gleichstellung an dieser Schule gesetzten Maßnahmen vorgestellt (konkret: der KoKoKo-Unterricht [1], die Verhaltenspyramide [2], Streithilfe, MĂ€dchen- und Jungenbeauftragte) und mit den Beobachtungen der Forschungsgruppe kontrastiert. Ein Kapitel geht dem Geschlechterbild der Lehrpersonen nach, ein weiteres vergleicht die Zeugnisnoten mit den Ergebnissen der Leistungstests. Besonders interessant sind die Blicke auf zwei UnterrichtsgegenstĂ€nde: Sport und Bewegungserziehung, technisches und textiles Werken. Diese werden mit Hilfe der ethnographischen Protokolle genau beschrieben und die der Handlungspraxis zugrunde liegenden stereotypen Grundannahmen dekonstruiert bzw. Prozesse des „undoing gender“ herausgearbeitet.

In einem elften Kapitel werden diese vielfĂ€ltigen Ergebnisse gebĂŒndelt und zugespitzt. Wesentliche Botschaft an die Schule ist, dass trotz gegenteiliger BemĂŒhungen Geschlecht nach wie vor als „zentraler Platzanweiser“ (273) fungiert. Das Lehrpersonal und die Schulleitung sind nicht auf einem gleichen Bewusstseinsstand und in der Folge existieren verschiedene Geschlechterdiskurse nebeneinander. Es wurde bisher verabsĂ€umt, die unterschiedlichen Handhabungen und Einstellungen in einem gemeinsamen Diskussionsprozess zu verhandeln. Folglich existieren entdramatisierende und dramatisierende Maßnahmen und Praktiken nebeneinander. Das Forschungsteam empfiehlt, die bestehende Illusio in Bezug auf den Genderschwerpunkt zu prĂ€zisieren und zu verĂ€ndern, und zwar unter Einbeziehung aller am Schulleben beteiligten Akteure und Akteurinnen. Durch regelmĂ€ĂŸigen Austausch mĂŒsste eine gemeinsame „Genderillusio“ (278) hergestellt werden, sodass es nicht dem einzelnen ĂŒberlassen bleibt, ob und wie zu handeln ist.

Insgesamt ein interessantes Buch, das Fallstricke bei der Umsetzung einer geschlechtssensiblen Schulkultur aufzeigt und daher v.a. LehrkrĂ€ften an Schulen zu empfehlen ist. Die forschungsmethodische Vorgangsweise kann anhand der großen Zahl an Beispielen gut nachvollzogen werden und veranschaulicht die Interpretationsarbeit, zeigt dabei gleichzeitig den Akteuren und Akteurinnen wie subtil stereotype Wahrnehmungen und traditionelle Handlungsmuster wirken und zum Ausdruck gelangen. Ein Einladungsbuch zum Nachdenken.


Nicola DĂŒro: Lehrerin – Lehrer (2008): Welche Rolle spielt das Geschlecht im Schulalltag?

Ziel dieser qualitativen Studie ist es die „subjektiven, kollektiv geteilten Wahrnehmungen der LehrerInnen zum Thema ‚Relevanz des Geschlechts im Lehrberuf‘“ (10) zu erfassen. Der theoretische Bezugsrahmen wird durch drei thematische Schwerpunkte aufgespannt: Geschlechterkonstruktionen, ProfessionsverstĂ€ndnis und Generationendifferenz.

Eine multidisziplinĂ€re Arbeitsgruppe der UniversitĂ€t Bielefeld hat mit dem Forschungsprojekt begonnen, das nun von der Autorin verschriftet und zum Abschluss gebracht wurde. Datenbasis sind 15 Gruppendiskussionen mit ausgewĂ€hlten Gruppen, teilweise waren das Realgruppen (d.h. Teil-Kollegien von Schulen), teilweise Ad-hoc-Gruppen. An den Diskussionen nahmen jeweils sechs bis 14 Personen teil. Zehn der vorliegenden Transkripte wurden fĂŒr die Analyse ausgewĂ€hlt und bearbeitet. Als Auswertungsverfahren wird die dokumentarische Methode nach Bohnsack gewĂ€hlt.

Das Buch besteht aus drei Teilen. ZunĂ€chst wird der theoretische Bezugsrahmen aufgespannt (Kapitel 2). Dazu werden die wesentlichen TheoriestrĂ€nge aus den gewĂ€hlten Schwerpunkten angerissen. Jeder Theoriestrang wird mit seinen vorliegenden Konzeptionen und zentralen Aussagen skizziert und auf seine Relevanz fĂŒr das Feld der Studie abgeklopft. Erste VerschrĂ€nkungen werden angedacht. Die folgenden zwei Kapitel sind den Forschungsmethoden gewidmet. ZunĂ€chst wird die Erhebungsmethode Gruppendiskussion vorgestellt, anschließend die DurchfĂŒhrung und die methodische Auswertung der Transkripte kritisch reflektiert (Kapitel 3). Das Auswertungsverfahren wird ausfĂŒhrlich erlĂ€utert (Kapitel 4).

Kapitel 5 bis 7 widmen sich der Ergebnisdarstellung. ZunĂ€chst werden Fallbeschreibungen prĂ€sentiert. Anhand von ausgewĂ€hlten Gruppendiskussionen wird die Forschungsarbeit sehr ausfĂŒhrlich und nachvollziehbar dargestellt (Kapitel 5). Provokante Aussagen und Fragen, wie „Frau zu sein an der Schule Ă€ußert sich [...] jeden Tag.“ oder „Wie weit reicht und wo endet unsere ProfessionalitĂ€t?“, helfen den roten Faden in der Darstellung zu erkennen. Die Vorgangsweise ist durch folgende Schrittfolge gekennzeichnet: Charakterisierung der Gruppe, Diskursbeschreibung und Bearbeitung der in den Diskussionen abgearbeiteten Themen, Zusammenfassung. Das ermöglicht einen sehr genauen Nachvollzug der forschungsmethodischen Arbeit. In einer komparativen Analyse (Kapitel 6) werden die Aussagen von je zwei Gruppen (berufspolitisch-aktive Frauengruppen, Schulleitungsgruppen) kontrastiert. Dazu werden die eingangs aufgespannten inhaltlichen Konzeptionen genutzt. Kapitel 7 bĂŒndelt nun die Ergebnisse und arbeitet die kollektiven Orientierungen in den Bereichen Geschlechterkonstruktionen, Professions- und GenerationenverstĂ€ndnis heraus. ZusĂ€tzlich wird die Relevanz von Geschlecht bei der Berufswahl und in professionellen Beziehungen thematisiert.

Was ist nun das Fazit dieser umfangreichen und detailreich beschriebenen Auswertungsarbeit? Zentral ist die offensichtlich bestehende WirkmĂ€chtigkeit der Differenztheorie. „Es gibt keinen Ergebnisbereich im Rahmen dieser Studie, der nicht von dieser vorherrschenden Lesart der Geschlechter beeinflusst wĂ€re. Als kollektive Orientierung beeinflusst der Differenzansatz die Berufswahl, das Erleben verschiedener beruflicher Beziehungen und die Ausgestaltung der professionellen Rolle“ (240). Was jedoch den meisten Diskussionsteilnehmer/inne/n nicht bewusst ist, ist ihre eigene Mitarbeit an der Reproduktion der Geschlechterdifferenzen bzw. des Differenzansatzes. Eine solche Reflexion gelingt nur wenigen und blitzt nur punktuell in den Diskussionen auf. Stattdessen werden ein reflexives Nachdenken ĂŒber die Geschlechterfrage und die eigenen Verstrickungen tendenziell abgelehnt und auch institutionell eher tabuisiert. Neben dieser zentralen Erkenntnis werden die Ergebnisse zum Professions- und GenerationenverstĂ€ndnis zu NebenschauplĂ€tzen.

Die Autorin kĂ€mpft in ihrer Darstellung mit zwei AnsprĂŒchen: zum einen die Nachvollziehbarkeit der Forschungsarbeit zu gewĂ€hrleisten, zum anderen Lesbarkeit sicher zu stellen. Auch wenn man interessiert ist und die Sequenzen gut ausgewĂ€hlt sind, hat man es angesichts der DatenfĂŒlle nicht leicht, den roten Faden und die DiskursstrĂ€nge im Auge zu behalten. Insofern sind die Teilzusammenfassungen in den Kapiteln sehr nĂŒtzlich. Diese und die zunehmende Verdichtung helfen bei der Erfassung der zentralen Erkenntnisse. Ein wissenschaftliches Publikum ist damit sicher zufrieden und kann aufgrund der genauen Darstellung fĂŒr die eigene Forschungsarbeit daraus Gewinne schöpfen, fĂŒr Praktiker/innen sind jedoch andere Verschriftlichungsformen und Textsorten anzudenken, damit diese zur Reflexion des eigenen Verhaltens angeregt werden.


Michael Matzner; Wolfgang Tischner (Hg.) (2008): Handbuch Jungen-PĂ€dagogik

Anlass fĂŒr die Herausgabe dieses umfangreichen Sammelbandes mit 27 EinzelbeitrĂ€gen ist der von den Medien diagnostizierte „Krise der Jungen“-Diskurs, die „Demontage des Ansehens“ der MĂ€nner und der von den beiden Herausgebern daraus abgeleitete Handlungsbedarf im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit. Allerdings legen sie ihr VerstĂ€ndnis dieses Begriffs an keiner Stelle explizit offen. Es geht ihnen v.a. darum, einen Kontrapunkt zu den „egalisierenden, geschlechternivellierenden Bestrebungen, wie sie sich besonders von der Gendertheorie herleiten“ (14) zu setzen. Sie verstehen das Handbuch als „promĂ€nnlich orientiert“ (ebd.). Den Jungen soll durch eine entsprechende Gestaltung der Rahmenbedingungen ermöglicht werden, „wieder zu ihren Ressourcen und StĂ€rken zu finden und ihre Potenziale in grĂ¶ĂŸtmöglichem Umfang auszuschöpfen“ (ebd.).

Matzner und Tischner orten in der derzeitigen Geschlechterdebatte eine Ignoranz gegenĂŒber Forschungsergebnissen aus Soziobiologie, Gen- und Hirnforschung, Endokrinologie und Evolutionspsychologie. Durch einen „simplen Trick“ wĂŒrde Geschlecht als biologische Tatsache „aus dem Verkehr gezogen“, indem sex durch gender als soziales Geschlecht ausgetauscht und sex selbst zur sozialen Konstruktion erklĂ€rt wird. Um solche FehlschlĂŒsse hintan zu halten, plĂ€dieren sie fĂŒr einen interdisziplinĂ€ren Zugang und haben fĂŒr das vorliegende Handbuch 19 Autoren und fĂŒnf Autorinnen eingeladen aus ihrer Perspektive zur JungenpĂ€dagogik Stellung zu nehmen. (De)konstruktivistische geschlechtertheoretische Standpunkte fehlen allerdings. So gibt es beispielsweise keine BeitrĂ€ge von Vertreter/inne/n der „doing gender“ und/oder – fĂŒr diesen Fall passender – „doing masculinity“-Konzepte. Diese werden kritisiert (siehe weiter unten), ohne ihnen jedoch die Möglichkeit einer eigenen Stellungnahme einzurĂ€umen. Damit wird der Anspruch an InterdisziplinaritĂ€t nur teilweise eingelöst.

Der Band gliedert sich in vier Teile.

‱ (1) ZunĂ€chst werden in vier BeitrĂ€gen biologische, psychologische und soziologische Grundlagen einer JungenpĂ€dagogik ausgebreitet.
‱ (2) Über die Situation von Jungen in pĂ€dagogischen Institutionen berichten elf BeitrĂ€ge, fĂŒnf davon richten den Blick auf die Schule, einer auf Kindergarteneinrichtungen, fĂŒnf auf sozialpĂ€dagogische Einrichtungen und Angebote.
‱ (3) Zehn weitere Autor/inn/en widmen sich pĂ€dagogischen Einzelfragen wie Jungen und Gesundheit, SexualitĂ€t, Gewalt u.a.m., aber auch Geschlechterpolitik und Gender Mainstreaming werden unter dem Fokus der Bildungsbenachteiligung von Buben thematisiert.
‱ (4) In den Schlussfolgerungen werden im Bereich der Forschung Desiderata und Probleme benannt sowie AnsĂ€tze fĂŒr eine JungenpĂ€dagogik zusammenfassend dargestellt. So wird vorgeschlagen, die unterschiedlichen biologischen, psychologischen und sozialisatorischen Voraussetzungen der Jungen mehr zu berĂŒcksichtigen, Hilfestellungen bei der Entwicklung einer „stabilen mĂ€nnlichen IdentitĂ€t“ zu geben oder die mĂ€nnliche Peergroup verstĂ€rkt pĂ€dagogisch zu nutzen.

Dieser Sammelband ist als Kontrastprogramm zu den anderen vorgestellten Studien zu verstehen. Die Quintessenz aus diesen aufgreifend, lĂ€sst sich feststellen: Der rote Leitfaden dieses Sammelbandes ist die „Differenz-Illusio“, d.h. nur in wenigen BeitrĂ€gen klingen auch andere AnsĂ€tze an bzw. werden differenztheoretisch orientierte Überlegungen kritisch reflektiert. Es ist aber anzunehmen, dass den Herausgebern ihre Rolle bei der Konstruktion der binĂ€ren Geschlechterkategorien durchaus bewusst ist. In fast allen AufsĂ€tzen wird auf „die“ Jungen bzw. „die“ MĂ€dchen Bezug genommen, damit werden die beiden Genusgruppen als homogene Gruppen konstruiert. Differenzen innerhalb der Geschlechtergruppen werden hingegen systematisch ausgeblendet bzw. nur am Rande erwĂ€hnt.

Zu einigen Autoren muss kritisch angemerkt werden, dass sie die Diskussion Ă€ußerst verkĂŒrzt darstellen und offensichtlich solche AnsĂ€tze, die quer zu den ihren liegen, ungenau gelesen haben (z.B. Tischner in seiner Interpretation des „doing gender“-Konzepts von Faulstich-Wieland, 358). Manche Argumentationslogiken sind schlicht nicht nachvollziehbar. Hier ein Beispiel aus dem Beitrag von Allan GuggenbĂŒhl: „Je mehr die Schule oder Erziehung die Gleichheit der Geschlechter betont, desto grĂ¶ĂŸer wird die Trennlinie zwischen den SchĂŒlern und SchĂŒlerinnen. Wenn die Schule Geschlechtsunterschiede negiert, dann werden aus den SchĂŒlerinnen Tussis und aus den SchĂŒlern Machos!“ (153). Dieses Zitat zeigt zunĂ€chst einen undifferenzierten Umgang mit dem Begriff „Gleichheit“. Dieser wird hier offensichtlich als „gleich machen“ gedeutet und nicht im Sinne von Gleichstellung, die eine Gleichwertigkeit ebenso voraussetzt wie Anerkennung von HeterogenitĂ€t zwischen Jugendlichen entlang vielfĂ€ltiger Differenzkriterien. Zum anderen kann der Schluss, dass sich durch die Negation von Unterschieden Tussis und Machos entwickeln, nicht nachvollzogen werden. Hier fehlen BegrĂŒndungen und Argumentationen, vielmehr wird polemisiert.

FragwĂŒrdig sind auch die Schlussfolgerungen von Tischner in seinem abschließenden ResĂŒmee. Unter RĂŒckverweis auf Aristoteles, dass es nicht gerecht wĂ€re, wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln, meint der Autor, dass „Gleichbehandlung im Schulunterricht folglich nicht nur ein schwerwiegender pĂ€dagogischer Fehler, sondern zugleich wenigstens insoweit verfassungswidrig“ (358) wĂ€re. Er fordert daher: „Jedem Geschlecht das Seinige, oder, anders formuliert: das ihm GemĂ€ĂŸe!“ Tischner Ă€ußert Zweifel an der Koedukation, „weil die gleichzeitige BerĂŒcksichtigung der unterschiedlichen unterrichtlichen BedĂŒrfnislagen von Jungen und MĂ€dchen pĂ€dagogisch der Quadratur des Kreises gleichkommt“ (359). Auch in diesen Aussagen zeigt sich zum einen ein undifferenziertes VerstĂ€ndnis von „Gleichbehandlung“, zum anderen hat sich der Autor offensichtlich noch wenig mit Maßnahmen der Differenzierung und Individualisierung von Unterricht beschĂ€ftigt, die gerade auf eine BerĂŒcksichtigung von Vielfalt abzielen: in den Methoden, den Inhalten, den pĂ€dagogischen Maßnahmen. Gleichheit und Gleichbehandlung haben aber da zu gelten, wo es um Rechte und Pflichten geht, die an sozialen Orten wie der Schule nicht verhandelbar sind, wie z.B. das Recht auf WĂŒrde.

Allerdings gibt es auch BeitrĂ€ge, in denen eine differenzierte Darstellung gegeben und Kritik an ausschließlich an Differenz ausgerichteten Befunden geĂ€ußert wird. So resĂŒmiert Heike Diefenbach, dass die Ergebnisse von psychologischen Studien „widersprĂŒchlich und teilweise Forschungsartefakte“ wĂ€ren und sie ortet Zweifel an der biologischen Determinierung von Sozialverhalten und kognitiven FĂ€higkeiten. Lothar Böhnisch beschĂ€ftigt sich in seinem Beitrag mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und „Entgrenzungsprozessen“, die traditionelle Vorstellungen von MĂ€nnlichkeit brĂŒchig und prekĂ€r werden lassen. Nicht die Biologie bestimmt somit die schwierige Lage von Jungen, sondern die wirtschaftlichen VerĂ€nderungsprozesse einschließlich der damit einhergehenden sich verĂ€ndernden Normen und Erwartungen, die mit traditionellen Bildern nicht vereinbar sind. Und schließlich sei noch auf den Aufsatz von Tim Rohrmann verwiesen. Er merkt kritisch an, dass die Ergebnisse vieler Studien zu relativieren wĂ€ren, weil sie sich auf Durchschnittswerte beziehen und Unterschiede innerhalb der Geschlechtsgruppen damit aus dem Blick geraten.

Dieses Buch weiter empfehlen: Ja, durchaus, weil es sich gut als Demonstrationsobjekt fĂŒr den Differenzdiskurs eignet. Allerdings bedarf es eines kritischen und auch andere theoretische AnsĂ€tze einbeziehenden Hintergrundwissens, um die BeitrĂ€ge und ihre Grundbotschaft(en) zu dekonstruieren. Wenn ein solches vorhanden ist, dann lassen sich viele Aussagen (ich betone: nicht von allen Autor/inn/en!) als einseitige Konstrukte entlarven. Schade, dass – im Sinne einer interdisziplinĂ€ren Herangehensweise, wie sie in der Einleitung angekĂŒndigt wurde – solche Autor/inn/en nicht eingeladen wurden, die fĂŒr „andere“ wissenschaftliche ErkenntniszugĂ€nge stehen. Das hĂ€tte dann eine spannende und kontrastreiche Diskussion werden können!


[1] KoKoKo steht fĂŒr Kommunikation, Konfliktbearbeitung und Kooperation.
[2] Die Verhaltenspyramide regelt, was bei DisziplinverstĂ¶ĂŸen passieren soll. Je schwerer das Vergehen, umso höher die Einstufung und damit die Sanktion. Visualisiert wird dies in Form einer Pyramide.
Angelika Paseka (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Angelika Paseka: Rezension von: Budde, JĂŒrgen / Scholand, Barbara / Faulstich-Wieland, Hannelore: Geschlechtergerechtigkeit in der Schule, Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur. Weinheim; MĂŒnchen: Juventa 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991698.html