Uwe Gellert und Michael Sertl präsentieren als Herausgeber einen Sammelband mit 11 Einzelbeiträgen, die 12 modellierende oder illustrierende Abbildungen, 19 Tabellen mit theoretischen Annahmen oder Ergebnissen von Materialanalysen und 36 beispielhafte Unterrichtstransskripte enthalten. Der Band greift das Forschungsdesiderat, dass „keine Soziologie des Unterrichts“ (7) bestehe, sehr dicht an Basil Bernsteins soziologischen Überlegungen auf, indem er diese in drei Schritten für den deutschen Sprachraum sichtbar macht: Erstens werden Bernsteins Überlegungen selbst vorgestellt und erläutert, zweitens einzelne zentrale Begriffe im Anwendungsbezug dargelegt und drittens praktische Umsetzungen am Mathematikunterricht exemplifiziert. Übergreifendes Ziel ist dabei eine „Weiterentwicklung der Bernsteinschen Überlegungen in Richtung einer Theorie der Pädagogischen Übermittlung und Aneignung von Wissen“ (7), indem „der Kern seiner Überlegungen […], dass die Verteilungen, Differenzierungen und deren Steuerung und Kontrolle auf der Makroebene der Gesellschaft und auf der Mikroebene des Unterrichts und der Bewusstseinsbildungen nach vergleichbaren Prinzipien und Regeln ablaufen“ (9), sehr anschaulich vorgestellt wird. Die Autor/-innen nutzen dazu von Lehrplananforderungen über Analysen realen Unterrichts bis hin zu Testaufgaben ein sehr breites Feld schulischer Wirkmechanismen auf und für Schülerinnen und Schüler.
Aufgrund der eigens gesetzten Aufgabe, „Bernsteins Arbeiten zum pädagogischen Diskurs in den Kanon der deutschsprachigen Bildungssoziologie und Unterrichtsforschung einzuführen“ (11), ist anzunehmen, dass eine breit gemischte, forschende Leserschaft im deutschsprachigen Raum anvisiert ist. Der Sammelband zeigt eine klare Strukturierung von theoretischen Annahmen über makrosoziologische (Curriculumreform) hin zu mikrosoziologischen Beispielen, die sehr wenige Minuten in einem spezifischen Setting ausmachen (Testaufgaben) und bietet ein ausgewogenes Verhältnis von internationalen und nationalen Beiträgen.
Der erste Teil des Buches (Michael Sertl und Nikola Leufer sowie in Übersetzung Basil Bernstein) dient der theoretischen Verortung des pädagogischen Diskurses mit seinen sprachlichen Codes. Hier werden grundlegende Entwicklungen des Bernsteinschen Werkes chronologisch vorgestellt, bevor von den Aspekten des restringierten und elaborierten Codes in einer soziologischen Einordnung Modellannahmen über Klassifikation und Rahmung des pädagogischen Diskurses weiter spezifiziert werden. Fragen von Übermittlung und Aneignung werden über Erkennungs- und Realisierungsregeln als Ermöglichungen an verschiedenen Beispielen mit den entsprechenden, sich verändernden Code-Modalitäten dargestellt. Rekontextualisierung und Evaluation spielen im pädagogischen Diskurs eine besondere Rolle. Dies wird in einem vorgeschlagenen Modell von Dispositivanalysen zusammengeführt. Bernstein selbst (in Übersetzung eines Essays von 1999) ergänzt diese Facetten um die Unterscheidung von horizontalen (lokal abgegrenzten) und vertikalen (ineinander hierarchisch gegliederten) Wissensstrukturen, auch in Bezug auf die Unterscheidung von Natur- und Geistes- / Sozialwissenschaften. Dabei wird deutlich, wie Beteiligungs- und Ausgrenzungsprozesse unbewusst über Explizitheit und damit Erkennbarkeit von Fachkulturen unterschiedlich angeeignet oder abgeschirmt werden können.
Im zweiten Teil (Hauke Straehler-Pohl und Uwe Gellert; Ana M. Morais und Isabel P. Neves; Gabriela Höhns; abermals Uwe Gellert sowie Jill Bourne) werden zentrale Begriffe genauer spezifiziert und Analysemodelle für gemeinsame Forschungsperspektiven abgeleitet. Straehler-Pohl und Gellert legen dies für Fragen der Klassifikation am Beispiel von Lehrbuchmaterialien vor. Morais und Neves beschreiben anhand der portugiesischen Lehrplanreform für naturwissenschaftlichen Unterricht ein Modell gemischter pädagogischer Praxis, in dem Bernsteinsche Kategorien des Unterrichtshandelns mit Fachkompetenzen der Lehrenden gemeinsam wirken. Dabei werden intra- und interdisziplinäre Erfordernisse des Wissenstransfers problematisiert. Höhns diskutiert Rekontextualisierungsfragen im deutschen dualen Berufsausbildungssystem. Gellert untersucht dann die Potenziale des „Pedagogic Device“ für den Mathematikunterricht und kommt so zum zentralen Unterrichtsfach des Sammelbandes zurück. Bourne setzt sich mit Fragen des vertikalen Diskurses und der Rolle der Lehrenden auseinander. Sie fordert „multi-modale Analysen“ (201), das „Aushandeln von Bedeutungen“ (201) in Gruppen und legt die Aufmerksamkeit auf wichtige lernpsychologische und sprachwissenschaftliche Annahmen, die das Lernen in „lernenden, sozialen Institutionen“ (202) anerkennen. Sie verweist darauf, dass Bernstein hier von einer radikalen Pädagogik des Kollektivs, in Abgrenzung zu konservativen Formen des Lehrens, ausgeht. Hier werden Zukunftsperspektiven interdisziplinären Arbeitens aufgezeigt.
Im dritten Teil (Christine Knipping; Ursula Hoadley; Hauke Straehler-Pohl sowie Anke Walzebug) werden empirische Studien im und zum pädagogischen Diskurs in Mathematik vorgestellt. Knipping stellt am Beispiel von Übergängen in sechs Klassen Zuweisungsprozesse für die Schülerinnen und Schüler vor, denen höherwertige Modi von Unterrichtsaktivitäten zukommen oder verwehrt bleiben. Hoadley baut für kleinere Einheiten, 66 realitätsnahen Aufgaben in 31 Stunden, ein Analysemodell auf, um daran Unterrichtsprozesse über die Verteilung in Lokalisierungs- und Spezialisierungsstrategien in drei Klassen zu analysieren. Sie zeigt dabei, wie der „heimliche Lehrplan“ (259) der sozialen Stratifikation wirkt. Walzebug demonstriert Benachteiligungen an zentralen Testaufgaben. Sie nutzt hierzu für eine Aufgabe auf sprachlicher Ebene die restringierten und elaborierten Sprachcodes (293) als Analyseinstrument und weist nach, wie fachliche Leistungen durch sprachliche Einschränkungen „verborgen“ bleiben und dadurch fachunspezifische Benachteiligungen entstehen.
Die Herausgeber bilden in ihrem Sammelband, wie oben gezeigt, eine große Bandbreite von Aufgabenkonstruktionen bis hin zu Curriculumreformen möglicher Anwendungsfelder der Bernsteinschen Erkenntnisse ab. Die Artikel des gesamten Sammelbandes sind gut miteinander verwoben, verweisen wechselseitig auf die Darstellungen der anderen. Das Buch stellt damit eine gelungene Einführung in Bernsteins Gedankenwelt dar, gerade weil er selbst „zu Wort“ kommt und mögliche Konsequenzen für eine Betrachtung bzw. Analyse von Schule und Unterricht aufgezeigt werden. Inwieweit es allerdings zur weiteren Theorieentwicklung beitragen kann, bleibt eine offene und in den explizit angesprochenen Fachgemeinschaften zu beantwortende Frage. Darüber hinaus müsste durch weitere Fragen zu Traditionen der Ergebnisaufbereitung und -darstellung beantwortet werden, inwiefern der Band Erwartungen der angesprochenen Unterrichtsforschung gerecht werden kann. Interessante Impulse liefert er auf jeden Fall. Letzten Endes finden in allen Bereichen auch zentrale Auseinandersetzungen mit Verstehensschwierigkeiten über die genutzten und benötigten Versprachlichungen statt, an denen Mechanismen der Beteiligungen / Ausgrenzungen erläutert werden. Damit wären hier auch Sprachwissenschaftler, vor allem aber Fachdidaktiker gefordert, die hieran aktuell Fragen der Inklusion diskutieren müssten. Diese Gruppe ist leider nicht angesprochen worden, sie leistet allerdings Entscheidendes bei der inhaltlichen und methodischen Aus- und Fortbildung der betreffenden Lehrerinnen und Lehrer.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Zur Soziologie des Unterrichts
Arbeiten mit Basil Bernsteins Theorie des pädagogischen Diskurses
Weinheim: Beltz Juventa 2012
(314 S.; ISBN 978-3-7799-1588-1; 34,95 EUR)
Astrid Neumann (LĂĽneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Neumann: Rezension von: Gellert, Uwe / Sertl, Michael (Hg.): Zur Soziologie des Unterrichts, Arbeiten mit Basil Bernsteins Theorie des pädagogischen Diskurses. Weinheim: Beltz Juventa 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991588.html
Astrid Neumann: Rezension von: Gellert, Uwe / Sertl, Michael (Hg.): Zur Soziologie des Unterrichts, Arbeiten mit Basil Bernsteins Theorie des pädagogischen Diskurses. Weinheim: Beltz Juventa 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991588.html