
Auftakt des Bandes bildet der Wiederabdruck eines Interviews von Beate Krais mit Pierre Bourdieu im Jahr 1988, in dem Bourdieus wissenschaftstheoretische Reflexionen im Fokus stehen. Ziel sei es, so Bourdieu, den positivistischen sowie theoretizistischen Strömungen in der Soziologie „eine theoretisch begründete empirische Soziologie“ (21) entgegenzustellen. Dies geschieht, so Bourdieu, indem die Konstruktion des zu untersuchenden Objekts als der grundlegende wissenschaftliche Akt verstanden wird, der wiederum nicht von den Instrumenten der Objektkonstruktion zu trennen ist. So besteht die Möglichkeit sich als Forscher/in der Realität – die bei Bourdieu immer relational gedacht ist – zu nähern.
Steffani Englers bisher unveröffentlichter Beitrag zum „wissenschaftlichen Beobachter“ als Produzent von Wissenschaft schließt thematisch nahtlos an das Interview an. Im Beitrag wird die Notwendigkeit einer konsequenten Bewusstmachung der eigenen Sozialität durch die Forschenden selbst diskutiert. Bei der Betrachtung der Rolle des „wissenschaftlichen Beobachters“ in klassischen und gegenwärtigen soziologischen Diskursen kritisiert sie u.a. das Verschwinden des Beobachterstandpunkts durch den Glauben an wissenschaftliche Objektivität. Dem hält sie die Arbeiten von Luhmann und Bourdieu entgegen, die dem wissenschaftlichen Beobachter eine zentrale Rolle einräumen. Mit Bourdieu gebe es keine neutralen Wahrnehmungsschemata des Wissenschaftlers, lediglich die intellektuellen Werkzeuge ihrer Kontrolle.
Der erste Beitrag, der die methodische Umsetzung einer theoretisch begründeten empirischen Soziologie (s.o.) forschungspraktisch verdeutlicht, stammt von Anna Brake. Das methodologische Grundprinzip einer „Konversion des Blicks“ (59), d.h. der Außerkraftsetzung alltäglicher Präkonstruktionen, die die Gegenstände von sich aus vorzugeben scheinen, zeigt sie am Beispiel der Habitusanalyse von Familienphotographien im Marburger Mehrgenerationenprojekt zu bildungs- und kulturbezogenen Austauschprozessen zwischen Großeltern, Eltern und Enkeln auf. Ihre Überlegungen entwickelt sie ausgehend von den photographischen Arbeiten Bourdieus, die jedoch kaum systematisch ausgearbeitet worden seien. In Abgrenzung zu phänomenologisch geprägten bildtheoretischen Überlegungen definiert sie Photographieanalyse im Anschluss an Bourdieu als ein Gegenprogramm, in dem die Gebrauchsweisen von Photographie in ihrer sozialen, überindividuellen Standortgebundenheit aufzuzeigen seien.
Helmut Bremer und Christel Teiwes-Kügler skizzieren den Ansatz der Habitushermeneutik als ein durch zahlreiche Interviews und Forschungswerkstätten entwickeltes Instrument, um Muster des Habitus – verstanden als einheitsstiftendes Prinzip und als Verbindungsglied mentaler und sozialer Strukturen – aus der sozialen Alltagspraxis von Individuen zu erschließen. Methode und Analysevorgehen – die ausführlich am Beispiel einer Interviewauswertung sowie einer Gruppenwerkstatt mit Collagen vorgestellt werden – leiten sich aus dem methodologischen Prinzip des doppelten, d.h. zweifachen erkenntnistheoretischen Bruchs ab. So gelte es, die subjektive Perspektive aus Sicht der Akteure zu rekonstruieren, um Konstruktionsprinzipien der sozialen Welt zu entdecken und zeitgleich bewusst zu halten, dass dies unter wissenschaftlichen und damit „privilegierten Bedingungen der Distanz zum Alltagsgeschehen“ (99) geschehe.
Mit einer praxeologischen Klassenanalyse nach Bourdieu setzt sich Michael Vester auseinander. Dabei legt er die Grundzüge einer solchen Analyse in Abgrenzung zu linearen Kausalmodellen und einem dogmatischen Marxverständnis dar, dem er eine „unorthodoxe, kritische Denktradition“ (134) entgegenhält, die auf Marx‘ historische Analysen gesamtgesellschaftlicher Veränderungen zurückgeht. Mit der Frage nach den historischen Veränderungen von Klassengliederungen erweitert er Bourdieus Frage nach der Reproduktion sozialer Klassen zu einer Analyse von Reproduktion und Wandel von Klassengesellschaften. Die ausführliche Darstellung des komplexen Untersuchungsdesigns bietet einen Einblick in das Vorgehen der Forschergruppe und die Analysestrategien zur Exploration von Feld, Habitus und sozialem Raum. Im Ergebnis hält Vester fest, dass sich Klassenwidersprüche reproduzieren und durch neue Strukturdynamiken pluralisieren.
Andrea Lange-Vester zeigt am Beispiel der Analyse einer Familiengeschichte vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, wie historische Habitusforschung konkret umgesetzt werden kann. Sie greift damit u.a. die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage auf, inwieweit Handlungsmuster über Generationen hinweg fortgesetzt, verändert oder gar aufgelöst werden. Durch die Explikation der einzelnen Schritte unter Rückgriff auf Instrumente der Habitushermeneutik und des Ansatzes von Vester (s.o.) zur analytischen Trennung der Handlungsebenen, ermöglicht Lange-Vester Einblicke in die Beharrlichkeit und Transformation eines klassenspezifischen Familienhabitus.
Der Analyse feldspezifischer Machtverhältnisse wenden sich Sandra Beaufaÿs und Valerie Moser am Beispiel des Feldes der Bildenden Kunst in Berlin zu. Durch die systematische Betrachtung von u.a. qualitativen Interviews mit Akteuren, die unterschiedliche Positionen im Feld besetzen, gelingt es den Autorinnen die „sozialen Wurzeln“ (245) von im Feld bedeutsamen Konzepten wie „individuelle Kreativität‘ freizulegen. Die Träger wichtiger Feldpositionen werden als Ergebnis und Konstrukteure feldspezifischer Praxis sichtbar. Im Ergebnis, so die Autorinnen, kann das Konzept der individuellen Kreativität als diffuse Waffe im Kampf um Verteilungsressourcen im Feld gelesen werden.
In einer wissenschaftlichen Selbstvergewisserung (256) und einer Reflexion zum Verhältnis von Theorie und Empirie bei Bourdieu, blickt Barbara Friebertshäuser auf die eigenen Arbeiten zur Fachkultur- und Habitusforschung in den 1980er Jahren und die Forschungserfahrungen in diesem Kontext zurück. Die Möglichkeiten einer biographischen Analyse mit den Werkzeugen Bourdieus macht sie am Beispiel der Studie von Steffani Engler („In Einsamkeit und Freiheit“) zum individuellen Gewordensein von Professor/innen im jeweiligen Feld nachvollziehbar.
Anna Schlüter erörtert im abschließenden Kapitel wie das Konzept der Biographie mit Bourdieu verstanden werden kann. Dabei konfrontiert sie Bourdieus Sichtweise auf Biographien als Produkte sozialer Verhältnisse mit einem erziehungswissenschaftlich-biographischen Subjektkonzept und arbeitet so Spezifika heraus.
Insgesamt zeichnet sich der vorliegende Sammelband durch eine hohe Kohärenz der einzelnen Beiträge sowie die konsequente Selbstreflexivität der Autor/innen aus. Es wird deutlich, dass die Überlegungen zum empirischen Arbeiten mit Bourdieu das einlösen müssen, was sie fordern: eine erhöhte Sensibilität für die Konstruktionen der Forschungsobjekte aus der Perspektive der empirisch Forschenden. Dies soll abschließend an zwei Aspekten verdeutlicht werden:
Zum einen nehmen alle Beiträge explizit Ausgang in wissenschaftstheoretischen Überlegungen, aus denen heraus die bourdieuschen Konzepte als heuristische Denkwerkzeuge für den jeweiligen Forschungskontext konzipiert werden, die sich an der Empirie bewähren müssen. Die komplexe Verknüpfung theoretischer und methodischer Überlegungen kann als Plädoyer gegen eine verkürzt verstandene Übernahme bourdieuscher Konzepte wie „Habitus“ oder „kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital“ ohne theoretische Rückbindung gelesen werden, wie sie nicht selten in der aktuellen empirischen Bildungsforschung vorzufinden ist. Zum anderen zeigen insbesondere diejenigen Beiträge, die Einblick in konkrete – z.T. langjährige – Forschungsprozesse gewähren, eine für wissenschaftliche Publikationen seltene Offenheit in Bezug auf theoretische und methodische Explorationen und Suchprozesse, die zwar in der schriftlichen Darstellung absolut folgelogisch erscheinen, sich jedoch häufig erst im Nachhinein – wie Andrea Lange-Vester schreibt – in „analytisch getrennte Schritte und Ebenen der Forschungsarbeit“ übersetzen (211).