Die hier vorgestellte Habilitationsschrift von Helmut Bremer beschäftigt sich mit der Perspektive des Lernens in der Erwachsenenbildung und stellt dabei das Wissen um die Praxis der sozialen Milieus, ihres Habitus und der relationalen Beziehung zwischen den Milieus in den Fokus der Betrachtungen (vgl. 284f.). Nach den Worten des Autors stehen diese Gedanken in folgender Intention: „Dabei gilt es, die Verstrickungen und die über den Habitus wirksam werdende „Macht der Klassenstrukturen“ [1] nicht als Verhängnis zu sehen. Die Perspektive muss vielmehr umgedreht werden. […] Erst, wenn man die Mechanismen, Begrenztheiten und damit zusammenhängenden Relativierungen erkennt und akzeptiert, wird auch ein rationaler Umgang damit möglich“ (285).
Um dieser Intention nachzukommen, bietet das Buch eine historische Synopse über Studien aus der Zeit von 1904 bis 1934, die sich mit unterschiedlichen Nutzergruppen von Weiterbildungsangeboten (Teilnehmer- und Adressatenforschung) beschäftigen; darüber hinaus werden ebenfalls Studien aus der Zeit von 1957 bis 1978 vorgestellt (Kapitel 2 und 3). Außerdem werden in Kapitel 5 aktuelle Studien aus der Zeit von 1999 bis 2004 referiert, die aus milieuspezifischer Perspektive Adressaten der Weiterbildung untersuchen: Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 1993 [2] und die Studien von Barz und Tippelt aus der Zeit von 1997 bis 2004 [3]. Eine durch den Autor neu vorgenommene Einordnung dieser Studien wird in Kapitel 7 vorgestellt. Hier werden 14 der bisher vorgestellten Studien diskutiert, tabellarisch gegenübergestellt (vgl. 200f.) und historisch in die Traditionslinien sozialer Milieus eingeordnet, um Bildungstypen gegenüberzustellen.
Aus diesem historischen Quervergleich werden von Bremer vier Traditionslinien herausgestellt, für die Weiterbildungsangebote ansprechend sind: (1) Bildungsbürgerlich-akademische Gruppen, (2) Kleinbürgerlich-ständische Linie, (3) Milieus der praktischen Intelligenz und (4) Milieus der Unterprivilegierten (vgl. 203ff.). Bremer plädiert in seinem Fazit für eine relationale Perspektive, bei der die Selektionsprozesse legitimer Bildung Beachtung finden. Er verortet Selektionsprozesse zwischen den horizontal im sozialen Raum verlaufenden Traditionslinien, obwohl eine Erhöhung der Teilnahme an Weiterbildung stattgefunden habe, da sich die Relation der Ungleichheit zwischen den Traditionslinien nicht verändert habe.
Als Hintergrund für diese milieuspezifischen Studien bietet Bremer dem Leser in Kapitel 4 (Soziale Milieus, Habitus und Teilhabe an Bildung) die entsprechenden theoretischen Modelle zum Verständnis der Studien an. Hier werden die Konzepte der sozialen Milieus und des Habitus nach Bourdieu und die Milieumodelle nach Schulze [4], dem Heidelberger Sinus-Institut [5] und Vester u.a. [6] vorgestellt und in den Kontext von Erwachsenenbildung gestellt. Mit diesem Kapitel will Bremer deutlich machen, dass eine ungleiche Teilhabe an Bildung und Weiterbildung bestehe, die sich durch Muster und Mechanismen soziokultureller Abdrängung und des Problems eines fehlenden differenzierten pädagogischen Umgangs mit der Ungleichheit der Lernenden erklären lasse (vgl. 145). Den Ansatz der sozialen Milieus und des Habitus sieht Bremer dabei als weitaus aufschlussreicher an als bisher im Forschungsfeld häufig verwandte Klassen- und Schichtansätze.
Im Kapitel 6 stellt der Autor zudem eine eigene Untersuchung aus dem Jahr 1999 vor, die sich auf die Adressaten der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung bezieht und gleichzeitig als ĂśberprĂĽfung der bisher vorgestellten Ăśberlegungen und theoretischen Konzepte dienen soll. Bremer arbeitet hier typenbildend und stellt dem Leser vier Bildungstypen in den Milieus der Arbeitnehmer vor. Er resĂĽmiert, dass Umstellungsprozesse innerhalb der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit notwendig seien, da deren Angebote nicht fĂĽr alle arbeitnehmerischen Bildungstypen gleichermaĂźen attraktiv gestaltet sind. Bremer spricht in diesem Kontext auch von einer Milieuverengung des gewerkschaftlichen Bildungsangebots.
Im letzten Teil von Bremers Habilitationsschrift (Kapitel 8 bis 11) diskutiert er zunächst den konstruktivistischen Ansatz des Selbstlernens [7] und anschließend den subjektwissenschaftlichen Ansatz Holzkamps [8] in der Pädagogik. Der Autor kritisiert am konstruktivistischen Ansatz, dass dieses Konzept auf einer individualistischen Ebene gefangen bleibe und dass die ungleiche Teilhabe an Bildung und Weiterbildung nicht thematisiert werde. Am Konzept Holzkamps findet Bremer positiv erwähnenswert, dass Holzkamp die Handlungsmöglichkeiten als klassen- und schichtspezifisch ungleich zugeteilt bewertet. Bremer kritisiert allerdings, dass dabei unklar bleibt, wie sich die soziale Zugehörigkeit in Lernprozessen niederschlägt: Denn Bremer verweist darauf, dass auch das subjektive Handeln selbst milieu- bzw. klassenspezifisch geprägt sei. Gegen diese Kritik stellt Bremer anschließend das Habituskonzept Bourdieus und dessen Möglichkeiten für eine Konzeption des Lernens in der Weiterbildung vor: „Es geht darum, wie die soziale Welt mit ihren Unterschieden, Prinzipien und Teilungen in die Konstruktionen der Akteure und ihre Lernprozesse gelangt und wie eine Lerntheorie somit soziologisch zu fundieren ist“ (228).
Die auf Bourdieu beruhenden Erkenntnisse über den Erwerb von subjektiven Schemata, die einen gesellschaftlichen Charakter haben (vgl. 259), werden anschließend durch den Einbezug des sozialen Raums und der Selektivität des Bildungswesens erweitert. Perspektiven der pädagogischen Bearbeitung sollen aufgezeigt werden, indem Bremer den Fokus auf die Betrachtung der pädagogischen Akteure und ihren Positionen im sozialen Gefüge setzt. In den Schlussbemerkungen konstatiert Bremer, dass das Ziel, mehr Chancengleichheit durch Bildung herzustellen, nur dann zu erreichen sei, wenn sich die Pädagogik und insbesondere auch der Bereich der Weiterbildung mit dem Thema der sozialen Ungleichheit der Lernenden auseinandersetzt und die Selektionsprozesse des Bildungswesens deutlich vor Augen hat. Dies gelänge nur dann, wenn eine „Hermeneutik des Habitus“ (283) in der Forschung Einzug hält, die besonders die Forschungsperspektiven der „Lernenden und ihre Beziehungen zum Feld“ (ebd.), die „institutionellen Strukturen und Kulturen“ (ebd.) sowie die „pädagogische Praxis“ (ebd.) ethnographisch berücksichtigt. Bremer fordert, dass aus diesen Erkenntnissen eine praktische pädagogische Kompetenz entwickelt werden solle, wobei zu beachten bleibe, dass sich dieses Wissen nicht direkt in die Praxis übersetzen lasse.
Resümierend bleibt festzuhalten, dass Bremer dem Leser deutlich machen möchte, dass jedes Milieu seine eigenen Lernformen besitzt, die es in der pädagogischen Praxis zu berücksichtigen gilt. Wie dies in der Praxis umgesetzt werden soll, bleibt der Autor dem Leser zunächst schuldig und verweist auf weitere Forschungen aus der Perspektive einer „Hermeneutik des Habitus“. Damit richtet sich Bremers Schrift vor allem als eine Aufforderung an die Wissenschaft; weniger Berücksichtigung findet dabei der Aspekt der Umsetzbarkeit für Fragen der Steuerung von Bildung (bzw. Bildungsprozessen) oder von Fragen der Professionalisierung des pädagogischen Personals (im Bereich der Weiterbildung). Es bleibt letztlich der wissenschaftlichen Diskussion vorbehalten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit ein solches habituelles Sensorium und eine solche milieuspezifische Diagnostik für die Pädagogik wünschenswert und umsetzbar sind. Insgesamt ordnet Bremer bestehende Forschungsansätze innerhalb der Weiterbildung in einem neuen Kontext der Habitus- und Milieuanalyse ein, verengt dabei aber auch alle von ihm diskutierten Ansätze zum Lernen auf diesen Fokus.
[1] Engler, Steffani/Krais, Beate (Hrsg.): Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus. Weinheim: Juventa 2004.
[2] Flaig, Berthold Bodo/Meyer, Thomas/Ueltzhöffer, Jörg: Alltagsästhetik und politische Kultur. Bonn: Dietz 1993.
[3] Barz, Heiner/Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland. Band 1: Praxishandbuch Milieumarketing; Band 2: Adressaten- und Milieuforschung zu Weiterbildungsverhalten und -interessen. Bielefeld: wbv 2004.
[4] Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt/M: Campus 1992.
[5] Becker, Ulrich/Nowak, Horst: Lebensweltforschung als neue Perspektive der Meinungs- und Marketingforschung. In: E.S.O.M.A.R.-Kongress 2/1982, S. 247-267.
[6] Vester, Michael u.a.: Soziale Milieus um gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt/M: Suhrkamp 2001.
[7] Arnold, Rolf/Siebert, Horst: Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung der Konstruktion der Wirklichkeit. Baltmannsweiler: Schneider 1995.
[8] Holzkamp, Klaus: Alltägliche Lebensführung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept. In: Das Argument 212/1995, S. 817-846.
EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)
Soziale Milieus, Habitus und Lernen
Zur sozialen Selektivität des Bildungswesens am Beispiel der Weiterbildung
Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2007
(307 S.; ISBN 978-3-7799-1585-0; 26,00 EUR)
Viola Hartung (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Viola Hartung: Rezension von: Bremer, Helmut: Soziale Milieus, Habitus und Lernen, Zur sozialen Selektivität des Bildungswesens am Beispiel der Weiterbildung. Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991585.html
Viola Hartung: Rezension von: Bremer, Helmut: Soziale Milieus, Habitus und Lernen, Zur sozialen Selektivität des Bildungswesens am Beispiel der Weiterbildung. Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991585.html