EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)

Florian EĂźer
Das Kind als Hybrid
Empirische Kinderforschung (1896–1914)
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2013
(292 S.; ISBN 978-3-7799-1556-0; 34,95 EUR)
Das Kind als Hybrid Beobachtungen von Kindern, die systematisch-wissenschaftliche, aber auch pädagogisch-professionelle Dokumentation und Auswertung des Beobachteten sind ErziehungswissenschaftlerInnen aller Couleur, Pädagogen und Eltern vertraute Themen und teilweise routinisierte Praxen, die das alltägliche wissenschaftliche, professionelle und familiale Geschäft mit Kindern begleiten. Dies gilt auch für das Bewerten kindlicher Entwicklung und Sozialverhaltens sowie die Verhandlung der von Normalitätsvorstellungen abweichenden Kinder. Florian Eßer zeigt in seiner Auseinandersetzung mit der von wichtigen Vertretern der empirischen Kinderforschung am Übergang zum 20. Jahrhundert herausgegebenen „Zeitschrift für Kinderforschung“, dass dies nicht immer so war. Dabei steht allerdings nicht wie bei André Turmel die Genese solcher umfassenden Vermessungen, sondern es stehen vielmehr jene wissenschaftlichen Praxen im Zentrum, in denen durch die systematische und rationale Begründung einer solchen empirischen Kinderforschung unter Anrufung unterschiedlicher Begründungsfiguren dem Kind unterschiedlichste rationale wie anthropologische Eigenschaften zugeschrieben wurden und es so auf ganz spezifische Weise erst hervorgebracht wurde.

In der gelungenen umfassenden Analyse des Periodikums zwischen 1896 und 1914 wird zweierlei aufgezeigt: Zum einen wird nachvollzogen, wie im wissenschaftlichen Laboratorium (Latour) der Zeitschrift für Kinderforschung das Kind keinesfalls – wie in der historischen Forschung häufig angenommen – als homogenes, konsistentes (Kultur)Wesen entworfen, sondern vielmehr durch die Zuschreibung unterschiedlichster, teils widersprüchlicher Eigenschaften als „Hybrid“ konstituiert wird. Zum anderen wird über dieses Herausarbeiten seiner hybriden Gestalt verdeutlicht, dass die in der historischen Bildungsforschung teilweise dichotomisierende Einordnung der am Herbartianismus orientierten empirischen Kinderforscher als diejenigen, die ein rein rationales Kindheitsbild entwarfen und darauf aufbauend eine strenge Instruktionspädagogik begründeten, kaum aufrechtzuerhalten sei. In den andauernden wissenschaftlichen Bemühungen, die Beobachtung und wissenschaftliche Erforschung von Kindern systematisch zu begründen und hierfür die Eigenschaften von Kindern zu bestimmen, wird erkennbar, dass Herbartianer ebenso wie die von ihnen kritisierten Reformpädagogen in der Anrufung von Natur und Kultur, Moral und Rationalität ein heterogenes, hybrides Kind entwarfen – das bürgerliche, erziehbare und erziehungsbedürftige kindliche Subjekt der westlichen Moderne.

Die Dissertation von Florian Eßer überzeugt durch einen konsistenten und systematischen Argumentationsgang. Zunächst wird die grundlegende methodologische Perspektive geklärt. Ausgeführt wird zum einen das praxeologische Konzept der Hybridität nach Reckwitz (2006). Mit diesem Zugang wird es möglich, das zu überwinden, was immer schon vorausgesetzt wird, wenn vom Kind gesprochen wird, nämlich die Vorgängigkeit eines spezifischen Kinderbildes, welches wissenschaftliche und pädagogische Praxen bestimmt. Möglich wird so die Analyse des zirkulierenden Hervorbringungsprozesses, in dem der Mensch erst zum Kind gemacht wird. Zudem wird in lockerer Anlehnung an Bruno Latours wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Akteur-Netzwerk-Theorie (2008) die „Zeitschrift der Kinderforschung“ als Laboratorium betrachtet, in dem das Kind auf spezifische Weise hervorgebracht wird. Zurückgewiesen wird die Annahme einer vorgängigen, hierarchischen Struktur, der eine einzigartige Wirkmächtigkeit in der Herstellung des Kindes beigemessen wird – ausgegangen wird eher von einem Netz, in dem durch unterschiedlichste Praxen das Kind als Hybrid erzeugt wird. Durch eine solche Perspektivierung zwischen Praxis- und Netzwerktheorie soll sich dem Beitrag der Wissenschaft zur Genese einer hybriden Struktur „Kind“ angenähert werden.

An die Grundlegung des heuristischen Rahmens anschließend nähert sich Florian Eßer in einem interessanten Dreischritt der Empirie an. Nach einer plausiblen Begründung der Zeitschrift für Kinderforschung als relevanter Quelle folgt eine umfassende Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext der Zeitschrift, nämlich mit den Bedingungen und den subjektivierenden Praxen der bürgerlichen Moderne sowie dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Herbartianismus und Reformpädagogik. Damit wird gleichermaßen eine analytische Eingrenzung vorgenommen wie die zeithistorische Rahmung der Rekonstruktion vollzogen – das Kind wird als Teil des Zuspitzungsprozesses einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung und nicht allein als durch diese hervorgebracht denkbar. Im dritten Teil, dem Zentrum des Buches, folgt die eigentliche Analyse der Zeitschrift für Kinderforschung und hier die Konkretisierung und Plausibilisierung des Ergebnisses des „Kindes als Hybrid“. Herausgearbeitet wird keinesfalls ein starres Kindheitsbild, sondern Codierungen des Kindes anhand von Deskriptionen der dem Kind in einzelnen Beiträgen zugeschriebenen heterogenen Eigenschaften, deren Antipoden sowie den in diesem Zusammenhang vollzogenen relationierenden Praktiken: Natürlichkeit, Individualität und Unschuldigkeit werden als die zentralen Codes und das Beobachten, Behüten und Erkennen als jeweils dazugehörige relationierende Praktiken rekonstruiert. In der zirkulierenden Rekonstruktion dieser drei Ebenen wird das Kind in den einzelnen Zeitschriftenbeiträgen gleichermaßen als natürliches, soziales und moralisches Wesen entworfen.

Florian Eßer stellt fest, dass in der Zeitschrift also keinesfalls, wie häufig angenommen wird, ein homogenes, reformpädagogischen Ansätzen konträres Kindheitsbild zugrunde lag oder damit eine Überwindung vom Naturwesen zum Kulturwesen vollzogen wird. Vielmehr wurde das Kind immer schon als Teil beider Sphären verhandelt und ihm damit eine hybride Struktur eingeschrieben (239). In der Gleichzeitigkeit und Koppelung der Codes Natürlichkeit, Individualität und Unschuld wird das Kind als bürgerliches Projekt der Moderne hervorgebracht und in seiner heterogenen-hybriden Struktur als zu formendes, zu erziehendes und damit zugleich auch formbares Subjekt Erziehungsprozessen zugänglich gemacht.

Das Gelungene an dieser Studie ist, dass der Autor nicht allein bei der Frage stehen bleibt, wie heterogenes Wissen über das Kind im Laboratorium der Zeitschrift für Kinderforschung hervorgebracht, damit das Kind als hybrides Subjekt konstituiert und damit eine dichotomisierende Aussage über starre Kindheitsbilder überwunden wurde. Vielmehr ist die Studie mit ihrer Vielzahl an historischen Details, ihrem Materialreichtum sowie der Einordnung der Ergebnisse in aktuelle empirische wie bildungstheoretische Debatten in vielfältiger Weise anschlussfähig für die Wissensproduktion im Kontext von Sozialpädagogik, Professionsforschung sowie vor allem der historischen Bildungsforschung.

Angenehm beim Lesen ist, dass der Autor hält, was er zu Beginn als Anspruch der theoretischen Auseinandersetzungen um Praktiken und die Überwindung dichotomisierender Modelle formuliert: durch die zirkulierende Darstellung und Diskussion von Aussagen, das Herausschälen von Positionen und deren Antipoden kann das Gewebe in Bezug auf das Wissen vom Kind sozusagen in der Lektüre selbst nachempfunden werden. Insofern kann abschließend bemerkt werden, dass das Buch nicht nur für etablierte KindheitsforscherInnen und ErziehungswissenschaftlerInnen ein Gewinn ist, sondern dass es sich auch hervorragend für die Lehre eignet. Durch den systematischen Aufbau und die geschickt eingeflochtenen systematischen Begründungen der analytischen wie darstellenden Vorgehensweise, durch die gezielte theoretische und methodologische Verortung kann die Entwicklung der Argumentation und die zirkulierende Hervorbringung der empirischen Ergebnisse mitsamt ihrer Abstraktion von Studierenden wie auch Promovierenden sehr gut nachvollzogen werden. Das gelingt nicht jeder Darstellung qualitativer Ergebnisse. Das Buch „Das Kind als Hybrid“ ist somit in vielfacher Hinsicht ein Gewinn.
Johanna Mierendorff (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johanna Mierendorff: Rezension von: EĂźer, Florian: Das Kind als Hybrid, Empirische Kinderforschung (1896–1914). Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991556.html