Christoph Bräuer versucht auf etwa 400 sehr komplex geschriebenen Seiten eine Neubegründung empirischen deutschdidaktischen Denkens am Beispiel der Leseausbildung zu fundieren. Seine Zielsetzung ist eine „Auseinandersetzung über die Reichweite und Grenzen des gegenwärtig angesetzten Kompetenz-Begriffes und der Relation von Kompetenz und Könnerschaft“ (20). Bräuer will einen „didaktisch gewendeten Begriff von Können“ herausarbeiten, und zwar „über eine Unterscheidung zwischen praktischem und rhetorischem Wissen einerseits und der Modellierung eines Können-Begriffs im Rahmen eines sozialen wie eines kognitiven Konstrukts andererseits“ (18).
Der Autor setzt das folgende Ausgangsaxiom: „Das praktische professionelle Wissen als ein spezifisches Können ist nicht die Anwendung pädagogischer oder didaktischer Theorie, sondern besitzt eine eigene Dignität“ (15). Er nähert sich diesem über die Annahme, dass sich Können in einer Verschränkung von sozial-interaktionsbezogener und gegenstandsbezogener Dimension, d. h. in der Schnittmenge aus der Konstitution des Unterrichtsrahmens bzw. eines gekonnten Unterrichtshandelns und dem Umgang mit Lerngegenständen bzw. der gekonnten Lektüre im jeweiligen Unterrichtsrahmen zeige. Dabei sucht er nach Hinweisen, welches wissenschaftliche Wissen in das rhetorische Wissen der Lehrkräfte eingeht und wie sich rekonstruiertes Können in einem kognitiven Konstrukt modellieren lässt.
Bei seinem Vorgehen beschreibt er strukturiert-qualitativ eine „empirisch-interpretative Rekonstruktion“ (22) der Implementation des Lesestrategietrainings „Wir sind Textdetektive“ von Andreas Gold in der Fassung von 2004. Dabei sollen das „Knowing that der Lehrkräfte […] auf Grundlage von Interviews über Leseunterricht und Konzeptionen einer Leseausbildung beschrieben“ und „das Knowing how über die […] – gemeinsam mit der unterrichtenden Lehrkraft vorgenommene – Analyse des konkreten Leseunterrichts anhand von Transkripten und Videomitschnitten erarbeitet“ (14) werden.
Schon in Titel und Untertitel des Buches wird der hohe Anspruch an die Bewältigung dieser komplexen Aufgabe deutlich. Der Versuch, gleichzeitig verschiedene Sichtweisen, einerseits der Didaktik mit ihrer theoretischen Begriffsprägung und unterrichtspraktischen Umsetzung und andererseits der Empirie mit einem erfahrungswissenschaftlichen Funktionsnachweis, miteinander in fruchtbaren Austausch zu bringen, könnte mittels einer klaren Fokussierung auf Einzelaspekte und eine Offenheit in beide Richtungen gelingen. Christoph Bräuer geht allerdings einen sehr deutschdidaktisch geprägten Weg. Er nutzt dazu einen für eine empirische Arbeit eher ungewöhnlichen Aufbau und eine sich durch das ganze Buch durchziehende vermischte Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten und Anforderungen der Unterrichtsforschung und Fachdidaktik. So werden spezielle Aspekte der Deutschdidaktik (Aufarbeitung programmatischer Texte aus den 1990er Jahren) mit der Professions- und Konstruktionsforschung (Konzept des Practical professional knowledge von Anderson-Levitt 1987, der Topologie professionellen Lehrerwissens von Bromme 1992 und der Rahmungskonzeption von Goffman 1980) und Fragen der Lese(sozialisations-)forschung (Groeben/Hurrelmann 2004) verknüpft und übergreifend als Modell der empirischen Sozialforschung beschrieben.
In allen Bereichen verfährt der Autor nach der gleichen Strategie: Er zeigt an jeweils einer gängigen Theorie auffindbare Mängel überhöht auf, um sich dann davon positiv, zumindest aber ergänzend abzusetzen. Alternative Modelle werden, wenn überhaupt, nur am Rande diskutiert und nicht begründet ausgeschlossen, neuere Professionalisierungsmodelle und auch die in der Breite angelegte Evaluationsforschung zum Strategietraining „Wir werden Textdetektive“ werden fast vollständig ausgeblendet.
Man kann der Einschätzung folgen, dass die in den 1980er bis 2000er Jahren erhobenen Ansprüche an die Entwicklung einer Deutschdidaktik zu einer eigenständigen Wissenschaft bis heute weder theoretisch noch praktisch vollständig eingelöst sind, die Deutschdidaktik die PISA-Kompetenzdebatte nicht mitgehen wollte und konnte und von daher eine Alternative zu einer vornehmlich als quantitativ verstandenen empirischen Forschung entwickelt werden muss. Der Autor bietet in der interpretativen Beschreibung von Rahmungsdifferenzen und deren Entwicklungspotenzial am Beispiel von 15 Schlüsselstellen zur Implementation des Lesestrategietrainings, die in zwei fünften, drei sechsten und einer siebten Schulklasse aus vier Schulen des Rhein-Main-Gebietes entstanden sind, nun einen durchaus interessanten Ansatz. Der Leser kann diesen Ansatz und die angegebenen Interpretationen auf der Grundlage einer einzigen im Anhang exemplifizierten Schlüsselstelle aber kaum nachvollziehen, ohne auf weitere Veröffentlichungen des Autors zurückzugreifen.
Methodisch bleiben die Beschreibungen, die vom Autor als Sequenzanalysen bezeichnet werden, hinter dem selbst gestellten Anspruch einer transparenten Wissenschaft zurück. Der Begriff wird, ähnlich wie auch der Empiriebegriff, sehr verschieden genutzt. So stützt sich der Autor grundsätzlich auf Mehan (1979) und fügt zu dessen opening-, instructional- und closing-Phase auf der Makroebene eine Übungsphase hinzu, verwendet die Orientierungs-, Informations-, Aufgaben-, Klärungs- und Abschlusssequenzen der Mesoebene und ergänzt das mikroanalytische Schema „initiation“, „reply“ und „evaluation“ durch die Explikation/Initiation, die Aktion und die Korrektur. Das breit aufgestellte Instrumentarium „verschwimmt“ in der Beschreibung der Schlüsselstellen in einer auch aufgrund des fehlenden Materials schwer nachvollziehbaren Kriterienanwendung. Hier liegt keine Transparenz der Darstellungen vor, die Deutungshoheit bleibt beim Autor und muss vom Leser, genauso wie die implizite, theoretisch vorgezeichnete Kategorienbildung mitgegangen werden. Die jeweiligen Schüler- und Lehreräußerungen werden lediglich kurz zitiert als Einsprengsel sichtbar. Für den interessierten Leser lohnt sicher ein Blick in die angegebenen Sekundärmaterialien.
Deutlich arbeitet Christoph Bräuer die Bedeutung der Lesehaltung für eine entwickelte Könnerschaft heraus und hebt dabei immer wieder die Rolle der Lehrenden als kompetente Andere hervor. Inwiefern sie den Umgang mit den „Werkzeugkoffern“ der Leseforschung adaptiv auf ihre jeweilige Klassensituation anwenden sollen und können, bleibt der empirischen Forschung aufgrund des exemplarischen Charakters der Untersuchung nach wie vor vorbehalten. Interessante Ansätze bietet dieses Buch aber allemal, da es auch auf andere „Ideen“ wie den Strategiebegriff und dessen Rückführung auf die Militärstrategie von Clausewitz oder die Rückführung der Wissenskomponenten auf die Feldforschungen in der Ethnomethodologie verweist. Am Ende der Auseinandersetzungen auch mit den kognitiven Konstrukten zum professionellen Wissen entsteht im Gesamtzusammenhang bei Bräuer eine „Neubestimmung“ des Verhältnisses von Lesetechniken, Lesehaltung und Lesewerkzeugen: „Lesetechniken dienen der Lesehaltung, den Leseprozess zielführend zu gestalten“ (347). Dieses Verhältnis wird zur Grundlage von Lesekönnerschaft und als Voraussetzung für Vermittlungsprozesse weiter problematisiert, da die Leseausbildung „am Konstrukt der Lesekönnerschaft orientiert“ (354) wird.
Es irritiert, dass bis zum Ende des Buches immer wieder neue Begriffe aufgenommen werden (bspw. 347: „Lesemodi“; 350: „Schriftsprachaufmerksamkeit“ und 355: „Verfahren der literarischen Sozialisation“ in Abgrenzung von/Ergänzung der Lesesozialisation). Für diese Form der Auseinandersetzungen wäre eine technologisierte Variante mit einer Suchfunktion oder zumindest ein Schlagwortregister in der Druckversion eine willkommene und hilfreiche Unterstützung. Schlussendlich wird dem Leser eine theoretisch inspirierende, empirisch aber schwer nachvollziehbare „Never Ending Story“ zum Weiterdenken geboten.
EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)
Könnerschaft und Kompetenz in der Leseausbildung
Theoretische und empirische Perspektiven
Weinheim und MĂĽnchen: Juventa 2010
(392 S.; ISBN 978-3-7799-1334-4; 27,00 EUR)
Astrid Neumann (LĂĽneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Neumann: Rezension von: Bräuer, Christoph: Könnerschaft und Kompetenz in der Leseausbildung, Theoretische und empirische Perspektiven. Weinheim und MĂĽnchen: Juventa 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991334.html
Astrid Neumann: Rezension von: Bräuer, Christoph: Könnerschaft und Kompetenz in der Leseausbildung, Theoretische und empirische Perspektiven. Weinheim und MĂĽnchen: Juventa 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991334.html