EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)

Thomas Bals / Andreas Hanses / Wolfgang Melzer (Hrsg.)
Gesundheitsförderung in pädagogischen Settings
Ein Überblick über Präventionsansätze in zielgruppenorientierten Lebenswelten
(Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung, Hrsg. von der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden)
Weinheim; München: Juventa 2008
(303 S.; ISBN 978-3-7799-1318-4; 26,00 EUR)
Gesundheitsförderung in pädagogischen Settings Der Setting-Ansatz der Gesundheitsförderung hat seit seiner Konzipierung durch die World Health Organisation (WHO) in den 1980er Jahren weite Verbreitung in der Literatur erfahren, hat zu politischen Initiativen und Netzwerkbildungen (z. B. „Gesunde Städte“) geführt, wurde in vielen Projekten und Programmen mit Modellcharakter praktisch umgesetzt und entfaltet in einigen Angeboten Persistenz. Mit dieser Popularität des Setting-Ansatzes geht Unbestimmtheit bzw. Vielstimmigkeit bei seiner Definition einher. Am meisten geteilte Bezugspunkte sind die Definitionen der WHO, die den Setting-Ansatz als eine Kernstrategie der Gesundheitsförderung postulierte: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben“ (Ottawa-Charta 1986, zit. nach Franzkowiak/Sabo 1993: 99) [1]; Setting wird definiert als „the place or social context in which people engage in daily activities in which environmental, organisational and personal factors interact to affect health and wellbeing“ (WHO Europe, 1998, zit. nach Engelmann/Halkow 2008: 28) [2]. Die darüber hinaus zur weiteren Charakterisierung des Setting-Ansatzes häufiger verwendeten Konzepte und Begriffe der Lebenswelt, des Alltags, des sozialen Orts, des Sozialraums, der Organisation usw. sind in sich jeweils äusserst heterogen, insbesondere wenn verschiedene disziplinäre Perspektiven in den Blick genommen werden. Vor diesem Hintergrund ist es so anspruchsvoll wie verdienstvoll, dass die Herausgeber des Sammelbandes „Gesundheitsförderung in pädagogischen Settings“ eine theoretische und wissenschaftliche Fundierung des Setting-Ansatzes unternehmen, dabei verschiedene disziplinäre Zugänge arrangieren und doch den erziehungswissenschaftlichen Zugang erstmalig als mögliche Leitperspektive der settingorientierten Gesundheitsförderung explizit machen. Diese Arbeit war überfällig. Denn bei aller Heterogenität des Setting-Begriffs ist die Nähe der WHO-Grundsatzdokumente (sowie vieler gesundheitsfördernder Praxisprojekte, die den Setting-Ansatz verfolgen) zu pädagogischen Themen, Konzepten, Forschungsfragen und Praxisformen evident, beispielsweise hinsichtlich der Dimension der Partizipation.

Der Band erhält seine Gliederung durch die vorgestellten Settings. Im Einzelnen sind dies: Familie und soziales Wohnumfeld, Berufsbildung und Betrieb, Schule, Kindergarten, Soziale Arbeit, informelle Gesundheitshilfen. In jedes Setting wird durch einen grundlegenden Beitrag der Herausgeber eingeleitet, dem jeweils zwei bis drei Fachbeiträge folgen. Aufgrund der Vielzahl der Beiträge können die Inhalte des Buchs nur kursorisch wiedergegeben werden:
Den settingbezogenen Beiträgen vorangestellt ist ein Einführungstext von Andreas Hanses. Hanses beschreibt die Verschiebung der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die Gesundheit nicht mehr als „konkrete Utopie“, sondern als individuelle Anpassungsleistung erscheinen lassen. Die Gesundheitsdebatte wird in aktuellen Diskursen (Subjektivierung, Ökonomisierung) verortet. Vorgeschlagen wird, Setting als Ausdruck biographischen Wissens und sozialer Praxis theoretisch zu bestimmen.

Für das Setting Familie und soziales Wohnumfeld führt Alois Herlth zunächst höchst informativ in die gesundheitswissenschaftliche Forschungslage zur Familiengesundheit ein. Ulrike Ravens-Sieberer und Nora Wille geben einen Einblick in die BELLA-Studie und identifizieren auf dieser Grundlage Risiko- und Schutzfaktoren für das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Das Kapitel zum Setting Familie wird mit dem Beitrag von Friedrich Balck, Gérard Tchitchekian und Hendrik Berth zu Bewältigungsstrategien von Angehörigen schwer körperlich Erkrankter abgeschlossen. Die Beiträge verdeutlichen das Gewicht und das Potential der Familie für die Gesundheitsförderung. Die Benennung der Desiderate für Forschung und Entwicklung zur familialen Gesundheitsförderung durch die jeweiligen AutorInnen machen aber auch klar, dass die Ansätze zur Gesundheitsförderung im Setting Familie noch am Anfang stehen.

Berufsbildung und Betrieb zählen hingegen zu den bereits etablierten Settings. Der Sektor Arbeit, Ausbildung und Qualifikationsentwicklung stellt bekanntermassen für das Erwachsenenalter eine zentrale Sozialisationsagentur dar, in welcher gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen modifiziert und weiterentwickelt werden. Britta Wulfhorst verschafft zunächst einen sehr guten Überblick über die Grundlagen der Gesundheitsförderung und Prävention im Betrieb. Georg Hörmann und Andreas Weber setzen sich in eher essayistischer Weise mit dem Themenkomplex Arbeit, Beruf, Markt und Gesundheit auseinander. Thomas Bals und Britta Wulfhorst beschreiben schliesslich Gesundheitsförderung als Tätigkeits- und Handlungsfeld.

Auch das Setting Schule kann – für die Kindheits- und Jugendphase – auf eine längere Tradition verweisen. Das Setting Schule wird im schulpädagogischen Beitrag von Cornelia Hähne, Ludwig Bilz, Kerstin Dümmler und Wolfgang Melzer und im arbeitsmedizinischen Beitrag von Klaus Scheuch, Reingard Seibt, Eva Haufe und Udo Rehm ausgeleuchtet.

Der wachsenden Bedeutung der frühen Kindheit in der Pädagogik wird in diesem Band mit dem Setting Kindergarten Rechnung getragen. Cornelia Wustmann schildert anhand dreier Leitlinien der Ottawa-Charta, wie in sächsischen Kindertagesstätten Gesundheitsförderung vorangetrieben wird. Frank Bittmann macht in einem erfrischenden sportwissenschaftlichen Beitrag anschaulich, wie die Motorik als Grundlage der gesunden Entwicklung von Kindern im Kindergarten gefördert werden kann.

Wie Andreas Hanses im einführenden Kommentar ausführt, stellt Soziale Arbeit kein eigenes Setting dar. Soziale Arbeit wurde aber in die Liste der Settings aufgenommen, weil sie aufgrund ihrer Querschnittaufgaben eine Setting-Profession par exellence darstellt. Der Beitrag von Stephan Sting hat Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe der sozialen Dienste zum Thema, der Beitrag von Hans Günther Homfeldt die umgekehrte Perspektive der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen. Das Setting Soziale Arbeit wird durch einen Beitrag zur Gesundheit von Männern durch Gerd Stecklina abgerundet.

Als letztes Setting werden die informellen Gesundheitshilfen behandelt. Andreas Hanses beschreibt auch hier einleitend, dass die Passung des Setting-Ansatzes grenzwertig ist. Gesundheitsselbsthilfe und das Laiengesundheitssystem sind zwar kaum zu überschätzende, aber eben wenig formalisierte und organisatorisch schwer abgrenzbare Einheiten. Der Beitrag von Dominik Ose hat Patientenberatung zum Thema und Frank Nestmann und Kathy Weinhold beschliessen den Band mit einem Referat zum Forschungsstand der alltäglichen Gesundheitsselbsthilfe.

Der Band legt einen Grundstein für das Gebiet der settingorientierten Gesundheitsförderung. Als umfassende Einführung in das vielgestaltige Gebiet der Gesundheitsförderung ist das Buch für ErziehungswissenschaftlerInnen, aber auch für alle anderen WissenschaftlerInnen, die mit Gesundheitsförderung befasst sind, geeignet. Berufsakteuren im Sozial- und Gesundheitswesen kann es als Kompendium für ihr Fachgebiet und für den „Blick über den Tellerrand“ des eigenen Settings hinaus sehr empfohlen werden. Positiv beeindrucken insbesondere die übersichtliche Gestaltung mit den einführenden Kommentaren und der Bezug zu empirischen Studien in vielen Beiträgen. Kritisch anzumerken bleibt, dass der Begriff des Settings nach der Gesamtlektüre offener denn je erscheint. Mehrfach dokumentieren AutorInnen durch Aussparung der Setting-Thematik implizit die Virulenz der eingangs geschilderten Problematik. Insofern darf man auf eine weiterführende Debatte zum Setting-Ansatz im Anschluss an das Werk gespannt sein.

[1] Franzkowiak, Peter / Sabo, Peter (Hrsg.) (1993): Dokumente der Gesundheitsförderung. Internationale und nationale Dokumente und Grundlagentexte zur Entwicklung der Gesundheitsförderung im Wortlaut und mit Kommentierung. Mainz
[2] Engelmann, Fabian / Halkow, Anja (2008): Der Setting-Ansatz in der Gesundheitsförderung. Genealogie, Konzeption, Praxis, Evidenzbasierung. Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Public Health. Schwerpunkt Bildung, Arbeit und Lebenschancen. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Berlin.
Matthias Hüttemann (Olten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Hüttemann: Rezension von: Bals, Thomas / Hanses, Andreas / Melzer, Wolfgang (Hg.): Gesundheitsförderung in pädagogischen Settings, Ein Ãœberblick über Präventionsansätze in zielgruppenorientierten Lebenswelten (Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung, Hrsg. von der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden). Weinheim; München: Juventa 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377991318.html