
Auf dem Hintergrund der Fremdheitsphilosophie von Emmanuel Lévinas nun setzt die Autorin die Begriffe Verantwortung und Kritik so zueinander in Relation, dass sie sich in dem berühren, was Lévinas als Nicht-Indifferenz bezeichnet. Sie ist von der ethischen verpflichtenden Differenz in der Beziehung zur unaufhebbaren Anderheit des Anderen her zu verstehen. „In Verbindung mit der Weise, wie Lévinas sich dem ethischen Bedeuten der Anderheit im Gesicht des Anderen zuwendet, muss auch auf seinen Versuch eingegangen werden, von einem Bedeuten, ‚ohne Kontext‘ zu sprechen“ (41). Schmidt zitiert dazu eine wichtige und umstrittende Passage im Werk von Lévinas. „Der Andere kommt zu uns nicht nur vom Kontext her, sondern er bedeutet ohne diese Vermittlung, durch sich selbst. Die kulturelle Bedeutung, die in gewissem Sinne horizontal enthüllt wird, [...] diese weltliche Bedeutung findet sich durch eine andere Gegenwart völlig aus der Ordnung geworfen und durcheinandergebracht, durch eine abstrakte (oder genauer: absolute), der Welt nicht integrierte Gegenwart. Diese Gegenwart besteht darin, zu uns zu kommen, einen Eintritt zu vollziehen. Dies lässt sich auch so ausdrücken: Das Phänomen, das die Erscheinung des Anderen ausmacht, ist zugleich Antlitz; oder auch so: Die Ephiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung (visitation). Während das Phänomen [...] immer schon Bild ist, in seine plastische und stumme Form gebannte Manifestation, ist die Ephiphanie des Antlitzes etwas Lebendes“ (41).
In einer kritischen Befragung der Philosophie von Lévinas, die grundlegende Fragen wie hier zur Kontextualisierung behandelt, führt uns die Untersuchung in die Auseinandersetzung von Buber, Grisebach und dem fast vergessenen Rosenzweig einerseits und verschiedenen prominenten Vertretern einer kritischen Erziehungswissenschaft – wie Fischer, Ruhloff, Schaller, Benner, Masschelein, Peukert und Messerschmidt – andererseits. Interessant ist, wie die Autorin hier Bezüge und auch Nicht-Bezüge zwischen den einzelnen Ansätzen – immer mit Blick auf den Diskurs zu Lévinas – herzuleiten in der Lage ist. Es entfaltet sich auf diese Weise für den Leser eine systematische Rekonstruktion eines bildungsphilosophischen Diskurses innerhalb der Erziehungswissenschaften in Überschneidung von zwei, drei Generationen von ErziehungswissenschaftlerInnen und innerhalb dessen einige wichtige Paradigmenwechsel statt gefunden haben, die sich – wie Schmidt eindrücklich zeigt – an den beiden Begriffen festmachen lässt und unterschiedliche Kritikfiguren in den Ansätzen vorzeichnet. Und nicht zuletzt überführt uns die Untersuchung in die Formulierung eines Ansatzes einer responsiven Kritik. Er greift die vorhandenen Ansätze nicht nur kritisch auf, sondern führt ihn in Anschluss an eine kritische Lesart von Lévinas weiter und bringt Kritik in Verbindung mit Responsivität. „Möglichkeiten, eine responsive Kritik zu denken, konnten in dieser Arbeit zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Liebschs Überlegungen zu einer ,responsiven Geschichtlichkeit‘ aufgezeigt werden, die es erlauben, die Ansprüche des Vergangenen und der Vergangenen als ein Worauf des Antwortens ernst zu nehmen, dass nicht bloß als Korrelat jenes Woraufhin bildet, welches sich in den Erwartungen und Entwürfen einer zukunftsorientierten Gegenwart verkörpert“ (428).
In den Schlussbemerkungen hebt die Autorin noch einmal deutlich hervor, dass die These von Lévinas, es sei möglich, Geschichte und die Kulturen „von einer Ethik aus zu beurteilen“, zu modifizieren sei. So lässt sich Schmidt zufolge jener Andere nicht auf einen außer-ordentlichen, absoluten oder abstrakten Anderen reduzieren, weil er „anders auch im Sinne von konkret-verschieden“ (429) ist. Der konkrete Andere und die konkreten Anderen in ihrer pluralen Verschiedenheit würden – folgt man Lévinas’ These – in Vergessenheit geraten. Die Frage der Kritik in Verbindung mit Foucault und Lévinas öffnet die Autorin nicht zuletzt für die Frage nach einer jeweiligen Andersmöglichkeit, ohne zugleich in den traditionellen Antworten, die sich wie oben ausgeführt an Selbstbestimmung und Emanzipation festmachen, eine erschöpfende Antwort bereits gefunden zu haben. Mit Lévinas ist die Frage der Kritik nicht nur als Frage nach dem Andersmöglichen, sondern auch die Frage nach dem Bessermöglichen und Kritikwürdigen zu stellen, das uns zur Kritik aufruft (vgl. 432).
Dieses Buch ist besonders den WissenschaftlerInnen und Studierenden nahe zu legen, die sich nicht nur grundsätzlich für den Diskurs der Alterität und Fremdheit, Gerechtigkeit, Kritik und Verantwortung interessieren, sondern darüber hinaus die Verknüpfungen der sehr unterschiedlichen Autoren, wie sie hier auf eine lebendige, fundierte und differenzierte Weise vorgestellt werden, nachvollziehen wollen. Ein reichhaltiger Fundus an Quellenverweisen und Bezügen, wie sie in der Erziehungswissenschaft nicht alltäglich sind, regen dabei zum Weiterdenken für eine weiterführende Reflexion des „Konkret-Verschiedenen“ an.
[1] Herman Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie 1978, S.138.