„Versachlichen, Deuten, Gegensteuern“ – Konzepte und Prinzipien, die durch Hans Tietgens in der Profession der (politischen) Erwachsenenbildung maßgeblich geprägt wurden, verdeutlichen, dass erwachsenenpädagogisches Handeln nicht einem Prinzip, sondern unterschiedlichen Zugängen und Perspektiven folgt; und mit diesen verbundene Herausforderungen einhergehen. Hieran schließt der von Paul Ciupke und Norbert Reichling herausgegebene Band „Versachlichen – Deuten – Gegensteuern. Hans Tietgens und die politische Erwachsenenbildung“ aus Anlass des 100. Geburtstags Tietgens‘ an.
Der Band umfasst insgesamt 14 Einzelbeiträge, unter denen sich einige Beiträge stärker Tietgens‘ Lebensgeschichte und Wirken sowie seinen Annäherungen zum Politischen und Kulturellen widmen (J. Habermas, J. Weinberg, S. Nolda). Sie verdeutlichen Verbindungen zwischen seinen verschiedenen beruflichen Stationen und Begegnungen entlang seines Dazwischenstehens; etwa durch unterschiedliche Konzepte und Theorie-Praxis-Vermittlungen. In weiteren Beiträgen (H. Tietgens/F.-J. Jelich, P. Ciupke/N. Reichling, H. Bremer, C. Stifter, K.-P. Hufer, C. Zeuner, K. Meisel, W. Gieseke, H. Behrens, D. Nittel) wird sich stärker auf eine Auseinandersetzung mit den theoretischen und konzeptionellen Positionen Tietgens‘ innerhalb der Profession fokussiert. Die Autor:innen diskutieren dabei die jeweiligen Bezüge der Positionen von Tietgens anhand weiterführender professionsbezogener Zugänge und theoretischer Bezugspunkte. Sie selbst sind in der Wissenschaft oder in anderen (erwachsenen-)pädagogischen Handlungsfeldern verortet.
In drei Beiträgen (H. Tietgens/F.-J. Jelich, H. Bremer, C. Zeuner) werden Perspektiven der Erwachsenenbildung mit Fokus auf Volkshochschule (VHS), Arbeiter:innenbildung sowie Bezüge zu grundlegenden erwachsenenpädagogischen Konzepten, etwa der Zielgruppen- und Teilnehmendenorientierung, dargestellt: Im Beitrag von Tietgens selbst (basierend auf einem älteren Tagungsmanuskript), der von Jelich dargestellt und kommentiert wird, wird die Bedeutung der VHS anhand der Darstellung grundlegender Charakteristika sowie einer Programmanalyse der 1950er Jahre ausgearbeitet. Jelich hebt u. a. kommentierend hervor, dass trotz einer Angebotsvielfalt Angebote mit „beruflichen und alltagskonformen Bildungsbedarfen“ (Jelich, 65) gegenüber denen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dominierten. Bremer wiederum bezieht sich auf die Befunde von Tietgens zur Arbeiter:innenbildung an der VHS und den damit einhergehenden Lebenslagen sowie Bildungsdispositionen. Er ergänzt diese, angelehnt an Bourdieus Konzept der kulturellen Passung, um ungleichheitsrelevante Zugänge. Zeuner beschäftigt sich in ihrem Beitrag ebenfalls mit den Erfahrungen und Perspektiven von Arbeiter:innen und bringt diese mit dem Erfahrungsansatz sowie dem häufig rezipierten Ansatz der Deutungsmuster in der Erwachsenenbildung zusammen. Dabei schließt sie an die didaktischen Prinzipien der Teilnehmenden- und Zielgruppenorientierung an; auch an die von Tietgens dargestellten Entwicklung von einer Zielgruppen- zu einer weiter gefassten Adressat:innenorientierung.
In vier Beiträgen (K.-P. Hufer, W. Gieseke, K. Meisel, D. Nittel) werden explizit die Profession der politischen Bildung und damit angeregte Diskurse thematisiert: Hufer etwa bezieht sich auf eine Stellungnahme Tietgens‘ über Herausforderungen in der politischen Bildung [1] und stellt daran anknüpfend die Bedeutung von Deutungsmustern, die Perspektiven einer teilnehmenden- und handlungsorientierten Bildungsarbeit sowie konkrete Herausforderungen für Programmplaner:innen in der VHS dar. Gieseke stellt in ihrem Beitrag Tietgens‘ Verhältnis zu politischer Bildung in den 1970er Jahren heraus und bezieht zentrale pädagogische Prinzipien (etwa Handlungs- und Teilnehmendenorientierung) sowie die aktuellen historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse mit ein. Damit einhergehend werden Herausforderungen für die Bildungsarbeit diskutiert, insbesondere für die Ebene des Lehrens und Lernens. Meisel diskutiert in seinem Beitrag die Verzahnung von beruflicher und politischer Bildung. Neben historischen und konzeptionellen Entwicklungen werden weiterführende kritische Impulse herausgearbeitet: So werden zwar konzeptionelle Anschlussmöglichkeiten gesehen, etwa in einer politischen Bildung, die stärker die berufliche/betriebliche Situation als Ausgangspunkt sieht, oder in einer berufsbezogenen Weiterbildung, die gesellschaftspolitische Dimensionen berücksichtigt. Den Analysen Tietgens‘ folgend bedarf es eines Bezugs zu politischer Bildung als eigenständige Profession, um damit auch einer eindimensionalen Fokussierung auf arbeitsplatzspezifische Qualifikationsanforderungen entgegenzuwirken. Nittel stellt in seinem Beitrag Anforderungen der Professionalisierung in der politischen Bildung dar und bezieht diese kritisch auf Herausforderungen und Grenzen des Feldes, etwa das Missverhältnis zwischen gesellschaftlichem Mandat und zur Verfügung stehenden Ressourcen in der politischen Erwachsenenbildung.
In drei Beiträgen widmen sich die Autor:innen (C. Stifter, P. Ciupke/N. Reichling, H. Behrens) explizit historischen Fragen in der Erwachsenenbildung, mit besonderem Fokus auf historisch-politische Bildung. Stifter beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Relevanz und den damit verbundenen Herausforderungen der Einbindung historischer Bezüge in die Erwachsenenbildung(-swissenschaft) anhand Tietgens‘ Arbeiten. Im Beitrag von Ciupke und Reichling werden konkrete Impulse und Konzepte der politischen Bildung in der Aufarbeitung der NS-Erfahrungen mit Bezug zu Tietgens nachgezeichnet. Dabei gelingt es auch, Leerstellen in den Arbeiten Tietgens‘ herauszuarbeiten, wie etwa die Unsichtbarkeit „der Perspektivwechsel auf die individuellen Opfer und vielfältigen Opfergruppen des Nationalsozialismus“ (Ciupke/Reichling, 102). Im Beitrag von Behrens wird daran anknüpfend die Verbindung zwischen Theorie und Praxis in historisch-politischen Bildungssettings anhand eines Praxisprojekts erarbeitet, welches von Tietgens kommentiert und eingeordnet wurde. Am Beispiel des Projekts werden entstehende Herausforderungen und Konzepte in der Bildungsarbeit schlüssig dargestellt, etwa das dialogische Prinzip oder biografische Zugänge.
Insgesamt ermöglicht der Band die Darstellung unterschiedlicher Theoriepositionen und Diskurse der politischen Erwachsenenbildung, die durch Tietgens und seine Werke angeregt und entsprechend von den Autor:innen teils kritisch eingeordnet und erweitert werden. Gleichzeitig weisen die Beiträge teilweise affirmativen Charakter auf, was damit einhergeht, dass kritische Aspekte sowie die Anschlussfähigkeit an aktuelle Diskurse und Forschungsbefunde der politischen Erwachsenenbildung noch stärker hätten beleuchtet werden können. Auch wirken dadurch die im Band angeregten Auseinandersetzungen mit grundlegenden Positionen und Konzepten teilweise voraussetzungsvoll und weniger zugänglich. Letztlich können für Akteur:innen der Erwachsenenbildung die Dimensionen der politischen Erwachsenenbildung, also das „Versachlichen“ von thematischen Bezugspunkten in Bildungssettings, das „Deuten“ von sozialen Hintergründen und tieferliegenden Erfahrungen sowie das „Gegensteuern“ als Sichtbarmachen unterschiedlicher Perspektiven und Zugänge, in dem Band greifbar werden.
Insgesamt kann dabei das Gegensteuern als „Abwägen zwischen Möglichkeiten und damit vermutlich intendierte Öffnungen von Interpretationshorizonten“ (Zeuner, 169) als Ausgangs- und Diskussionsgrundlage für weitere Auseinandersetzungen entgegen einseitiger normativer Zugänge in der Profession verstanden werden.
[1] Hufer, K.-P. (1979). „Praxisschock“ in der politischen Bildung – am Beispiel einer Kreisvolkshochschule. Aus Politik und Zeitgeschichte, 19/1979, 3-19; Tietgens, H. (1979). Politische Bildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Stellungnahme zu dem Beitrag von Klaus-Peter, Hufer. Aus Politik und Zeitgeschichte, 19/1979, 20-33.
EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)
Versachlichen – Deuten – Gegensteuern
Hans Tietgens und die politische Erwachsenenbildung
Bielefeld: wbv Publikation 2022
(236 S.; ISBN 978-3-7639-6250-1; 34,90 EUR)
Catrin Opheys (Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Catrin Opheys: Rezension von: Ciupke, Paul / Reichling, Norbert (Hg.): Versachlichen – Deuten – Gegensteuern, Hans Tietgens und die politische Erwachsenenbildung. Bielefeld: wbv Publikation 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376396250.html
Catrin Opheys: Rezension von: Ciupke, Paul / Reichling, Norbert (Hg.): Versachlichen – Deuten – Gegensteuern, Hans Tietgens und die politische Erwachsenenbildung. Bielefeld: wbv Publikation 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376396250.html