Vor dem Hintergrund pluralisierter Lebenslagen und generalisierter Lernerwartungen wird der fallbasierten Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen in verschiedenen Teilbereichen der Pädagogik gegenwärtig eine hohe Bedeutung beigemessen. Die Arbeit mit Fällen erfreut sich großer Prominenz – ob in der Sozialpädagogik, der Schulpädagogik oder der Erwachsenenbildung/Weiterbildung (so die hier rezensierte Studie). Das Sich-Hineinversetzen in erwartbare Handlungsprobleme innerhalb eines bestimmten Tätigkeitsbereichs und das Ausloten von Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen kann als ein Grundprinzip von Fallarbeit verstanden werden. Versprochen wird sich dabei ein Zuwachs an Reflexionspotenzial, das die Wahrscheinlichkeit der Konstruktion angemessener Problemwahrnehmungen und -interpretationen, wie auch die Formulierung entsprechender Lösungsmöglichkeiten, im pädagogischen Alltag steigert.
Wie fallbezogene Fortbildungen für unterschiedliche Adressatengruppen zu konzipieren und durchzuführen sind und in welcher Weise Fallarbeit tatsächlich einen Kompetenzzuwachs bewirkt, sind offene Fragen, denen sich das von Josef Schrader, Reinhard Hohmann und Stefanie Hartz geleitete, in Kooperation mit der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung durchgeführte und vom BMBF geförderte Projekt „Kompetenzentwicklung von Lehrenden durch mediengestützte Fallarbeit“ gewidmet hat. Für Lehrkräfte, die im Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung tätig sind, sollte ein „wissenschaftlich fundiertes Fortbildungskonzept“ entwickelt werden, „das die besondere berufliche Situation und die vorhandenen Kompetenzen und Erfahrungen dieser Adressatengruppe angemessen berücksichtigt und vorhandene Angebote sinnvoll ergänzt“ (28). In welcher Weise ein solches Konzept implementiert werden kann, wie es von den Adressaten akzeptiert wird und welche Wirkungen mit ihm erzielt werden, sind Fragen, denen die Projektbeteiligten nachgegangen sind. Mit dem vorliegenden Band gestattet das Projektteam einer erziehungswissenschaftlich und/oder pädagogisch interessierten Leserschaft Einblicke in Arbeitsweisen und Ergebnisse ihrer innovativen und technisch-konzeptionell anspruchsvollen Interventionsstudie quasi-experimentellen Charakters.
Als Aufsatzsammlung ist die Publikation, die 12 Einzelbeiträge beinhaltet, in vier Teile gegliedert. Einer Kontextualisierung und Desideratformulierung (Teil I) folgen die Darstellung theoretischer und methodischer Grundlagen für die Generierung und probeweise Implementierung eines fallbasierten Fortbildungskonzepts (Teil II) sowie die Erläuterung technischer Fragen seiner Entwicklung (Teil III). Abschließend wird der Einsatz des Instruments hinsichtlich Akzeptanz und Wirksamkeit zur Förderung von Situationsdiagnosekompetenzen evaluiert und (selbst-)kritisch beurteilt (Teil IV). Die Gliederung des Bandes überzeugt, die Beiträge sind allesamt eingängig und in ihrem strukturellen Aufbau ähnlich: Einleitende Worte, in denen die jeweilige Fragestellung expliziert und die Struktur des Beitrags deutlich gemacht wird, rahmen zusammen mit einem hintenan gestelltem Schlusswort bzw. einer Diskussion der Befunde die verschiedenen Aufsätze. Zwar schließen die einzelnen Beiträge jeweils aneinander an. Sie können aber auch auszugsweise rezipiert werden. Als hilfreich hierzu erweist sich die sorgfältig ausgearbeitete Verweisstruktur. Eine Vielzahl an Abbildungen und Grafiken vereinfacht dem Leser den Zugang sowohl zur Projektarchitektur als auch zum Kernelement des Fortbildungskonzepts (der computergestützten Lernumgebung) sowie zu Ergebnissen der quantifizierenden Evaluation seines Einsatzes.
Auf Grundlage der Diagnostizierung eines wachsenden Bedarfs an Fortbildungskonzepten zur Steigerung der Professionalität von Lehrkräften in der Erwachsenenbildung und der Konstatierung einer fehlenden Nutzung bestehender Angebote wird die Entwicklung eines Modells gefordert, das durch Kooperation mit einem spezifischen Träger die Bedarfe pädagogischer Organisationen sowie professionell agierender Lehrender berücksichtigt und zugleich auch trägerübergreifend adaptierbar ist (so Reinhard Hohmann und Josef Schrader in Teil I). Bei dem Angebot soll eine Brücke zwischen Wissensvermittlung und dem Aufbau von Handlungsfähigkeit geschlagen werden, „so dass Wissen nicht träge bleibt und Handlung nicht auf unreflektierter Nachahmung beruht“ (57).
Wie ein solches Angebot vor dem Hintergrund welcher theoretisch-konzeptioneller Grundannahmen zu generieren und technisch zu realisieren ist, demonstrieren Josef Schrader, Annika Goeze, Stefanie Hartz, Sabine Digel und Ralf Olleck im zweiten und dritten Teil des Bandes. Die dort versammelten Beiträge illustrieren Wege, die das Projektteam im Umgang mit verschiedenen Problemen im Zusammenhang der Entwicklung und probeweisen Implementierung ihres fallbasierten Fortbildungskonzepts beschritten hat. Sie betreffen einerseits das Auswählen, Aufbereiten und Zugänglichmachen von (authentischem) Fallmaterial und andererseits das Schaffen einer (multimedialen) Lern-Umgebung, welche ein Eruieren von Problemen und Lösungsvarianten unterrichtlicher Interaktionssituationen auf der Grundlage solchen Fallmaterials ermöglicht, ergänzt durch didaktische Anreicherungen und begleitet durch moderierend und instruierend tätige FortbildungsleiterInnen.
Orientiert an Ansätzen der Unterrichtsqualitätsforschung wird Professionalität von Lehrenden als Kompetenz zur Diagnose von Lehr-Lernsituationen zugeschnitten und operationalisiert. Im Rahmen von Fortbildungen gelte es Lehrkräfte zu unterstützen, das pädagogische Geschehen nicht lediglich aus der Perspektive „des Stoffes bzw. des eigenen Handelns zu betrachten, sondern auch und vor allem aus der Perspektive der Lernenden und der für sie notwendigen Lernhilfen“ (81) einzuschätzen. Inspiriert durch Studien anglo-amerikanischer Kognitions- und Instruktionspsychologie (insb. Ansätze des problembasierten Lernens und der Cognitive Flexibility Theory) entwerfen die Autoren ein Fortbildungskonzept, dessen Kernelement die durch ModeratorInnen begleitete Nutzung eines Softwareinstruments in Einzel- wie auch in Gruppenarbeit darstellt. Dieses Instrument macht videografierte Situationen des Alltagsgeschehen von Veranstaltungen der Erwachsenenbildung zugänglich und verknüpft sie – in Gestalt von Hyperlinks – mit Kommentaren beteiligter Akteure und Theoriebausteinen, die optional zur situationsdiagnostizierenden Interpretation des Geschehens einbezogen werden können.
Während über Kriterien zur Fallauswahl, -erhebung und -darstellung ausführlich berichtet und zudem einen instruktiver Überblick über Ansätze fallbasierten Lernens dies- und jenseits der Erwachsenenbildung gegeben wird, wäre es wünschenswert gewesen, etwas mehr über Auswahlkriterien des selektiv zur Verfügung gestellten (theoretischen) Deutungsangebots zu erfahren. So drängt sich etwa der Eindruck auf, dass aus nicht explizierten Gründen der Einbezug potentiell situationsdiagnoseförderlichen Wissens von Modellen soziologisch und soziolinguistisch ausgerichteter Interaktionsforschung zugunsten psychologischer und therapeutischer Theorieansätze in den Hintergrund gestellt wurde.
Im vierten Teil des Bandes werden Akzeptanz und Wirksamkeit des entwickelten und probeweisen – in Präsenz- sowie in Blended-Learning-Form – implementierten Fortbildungskonzepts primär quantitativ untersucht. Fokussiert werden Erfahrungen der vom Projektteam geschulten ModeratorInnen sowie Akzeptanz und Wirkung des Angebots bei den mehr oder weniger erfahrenen Fortbildungsteilnehmern hinsichtlich einer Steigerung von Situationsdiagnosekompetenz. Zusätzlich werden Differenzen zwischen den verschiedenen Fortbildungsformaten (Präsenz- und Blended-Learning-Form) ausgelotet und ein Versuch unternommen, mit Hilfe eines vorab definierten Kategorienrasters Einblicke in Besonderheiten des Interaktionsgeschehens während der Fortbildung (Präsenzform) zu erhalten.
Die Ergebnisse der Analysen zeugen von einer breitwilligen Akzeptanz des Fortbildungsangebots samt computergestützter Lernumgebung – sowohl seitens der ModeratorInnen, als auch seitens der (nicht notwendigerweise technikaffinen) Fortbildungsteilnehmenden. Auch die Kompetenz zur Diagnose von Lehr-Lernsituationen scheint nach Maßgabe der Analysekategorien einer zielgerechten Förderung durch das entwickelte Fortbildungsinstrument zugänglich – wobei auf die Einführung einer Kontrollgruppe verzichtet wird. Die von den Teilnehmenden im Zuge der Fortbildung angefertigten Fallanalysen weisen einen zunehmend zusammenfassenden und abstrahierenden Charakter sowie eine Steigerung in Beschaffenheit und Güte auf. Dabei zeigt sich ein „signifikanter Zuwachs an Verwendung theoretischer Konzepte/Modelle“ (249 f) – und somit eine Steigerung der Kompetenz zur (handlungsentlastenden) Wiedererkennung des Paradigmatischen im je besonderen Fall. Die relative Anzahl an Perspektivenübernahmen ist demgegenüber sehr gering und im Verlauf der Fortbildung sogar leicht rückläufig. Es zeigt sich somit eine Dominanz von zur Verfügung gestellten wissenschaftlichen Deutungsangeboten (in Gestalt theoretischer Modelle), die als Ressourcen zur Interpretation von Interaktionssituationen genutzt werden.
Über die Viabilität einer vor dem Horizont spezifischer Theorien erweiterten Diagnosekompetenz entscheiden indes erst Reaktionen, die sich in realen Handlungskontexten als Folgen vergangenen und Bedingungen künftigen Lehrerhandelns abzeichnen. Deren analytische Beobachtung und Rückkopplung an eine in Fortbildungen geförderte Diagnosekompetenz wird als künftiges Vorhaben angekündigt. Sollte sich dabei nicht einzig auf Erfahrungsberichte von Lehrenden oder Lernenden bezogen werden, macht dieses gleichwohl spannende wie auch äußerst komplexe Unterfangen eine diffizile Analyse von Interaktionsprozessen und darin enthaltenen Entscheidungssituationen notwendig. Ihr Ergebnis würde nicht nur über die Handlungsrelevanz des Fortbildungskonzepts informieren, sondern auch die Evaluation der Wirksamkeit des Fortbildungskonzepts selbst anreichern. So würde die Überprüfung, ob die Teilnehmenden in der Lage sind, „zentrale Aspekte zum Lehr-Lerngeschehen“ (245) diagnostisch zu erfassen, an empiriebasierte Hinweise über zentrale und periphere Interaktionsphänomene in entsprechenden pädagogischen Kontexten rückgebunden.
Mit der Publikation des Bandes „Mediengestützte Fallarbeit“ liefert das Autorenteam einen formal wie inhaltlich gleichermaßen gelungenen Bericht über die Entwicklung eines Instrumentariums zur fallbasierten Fortbildung von Lehrkräften in der Erwachsenenbildung. Dazu gehören auch die begleitend erstellten, das entwickelte Modell kontextualisierenden Übersichten über Ansätze fallbasierten Lernens und entsprechende Fortbildungsangebote. Sie stiften Orientierung in einem Bereich, der von großer Heterogenität und Pluralität gekennzeichnet ist.
Eine Adaption des entwickelten Fortbildungskonzepts erscheint nicht nur für verschiedene Organisationen im Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung Gewinn versprechend. Insbesondere der Einbezug authentischen Videomaterials sowie die Möglichkeit seiner Verknüpfung mit verschiedenen Deutungsangeboten macht das Instrument attraktiv, um es, mit verschiedenen Lernintentionen, einzusetzen. Besonders aussichtsreich erscheint in diesem Zusammenhang das Vorhaben, ein online zugängliches Fall-Laboratorium zu erstellen, das jeder Zeit von (fast) jedem Ort genutzt werden kann. Illustrativ wäre es gewesen, den Band mit einer CD-ROM oder einer Internetadresse zu einer Demo-Version des Software-Produkts auszustatten. Hierauf lässt der für 2012 angekündigte zweite Projekt-Band hoffen, in dem anwendungsbezogene Handreichungen zur Kompetenzentwicklung von Lehrkräften im Zentrum stehen.
EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)
MediengestĂĽtzte Fallarbeit
Konzepte, Erfahrungen und Befunde zur Kompetenzentwicklung von Erwachsenenbildnern
Bielefeld: W. Bertelsmann 2010
(306 S.; ISBN 978-3-7639-4659-4; 29,90 EUR)
Matthias Herrle (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Herrle: Rezension von: Schrader, Josef / Hohmann, Reinhard / Hartz, Stefanie (Hg.): MediengestĂĽtzte Fallarbeit, Konzepte, Erfahrungen und Befunde zur Kompetenzentwicklung von Erwachsenenbildnern. Bielefeld: W. Bertelsmann 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376394659.html
Matthias Herrle: Rezension von: Schrader, Josef / Hohmann, Reinhard / Hartz, Stefanie (Hg.): MediengestĂĽtzte Fallarbeit, Konzepte, Erfahrungen und Befunde zur Kompetenzentwicklung von Erwachsenenbildnern. Bielefeld: W. Bertelsmann 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376394659.html