Das Thema Lernen Erwachsener ist für die Erwachsenen-/ Weiterbildung zentral und wird auch schon mal als das „Herzstück einer Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung“ bezeichnet. Vor allem vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit lebenslangen Lernens ist das Interesse an Analysen von Lernformen gestiegen: Das Augenmerk richtet sich insbesondere auf selbstgesteuertes/ -organisiertes und informelles Lernen.
Vor diesem Hintergrund widmete sich Stefan Böhm in seiner Dissertation der Analyse individueller Weiterbildungsstrategien und Lernorientierungen von Professionellen in Unternehmen. Genauer untersuchte er, wie Lernen unter Bezugnahme auf Profession und Unternehmen erfolge sowie unter welchen Bedingungen intensiv gelernt werde (12). Ziel war es, eine datenbasierte Theorie zu Weiterbildungsstrategien Professioneller in Unternehmen zu entwickeln (12). Die methodisch-methodologische Umsetzung erfolgte mit Hilfe offener, thematisch fokussierter Interviews narrativen Charakters, die mit Hilfe der Grounded Theory ausgewertet wurden. Datenbasis der veröffentlichen Studie bilden neun Interviews mit Informatikern aus der Informationstechnologie-Branche.
Die Arbeit ist in sechs Teile gegliedert: Nach einer einleitenden Verortung des Themas folgen im zweiten Kapitel Ausführungen zum Forschungsstand und die theoretische Modellierung des Gegenstandes. Böhm bezieht hier empirische Studien zur sozialen Situierung, zu Milieu und Habitus, zu betrieblichen und persönlichen Gelegenheitstrukturen sowie zur individuellen Einstellung ein (14-23). Im Wesentlichen geht es hierbei um die Herausstellung von Umwelteinflüssen auf individuelle Weiterbildungsstrategien. In einem zweiten Schritt erfolgt die grundlagentheoretische Verortung und Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes (32-40). Unter Rückgriff auf Holzkamps subjektwissenschaftliche Lerntheorie und Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme sowie deren Zusammenführung im Anschluss an eine konstruktivistische Erwachsenenbildung werden Form und Charakteristik des Untersuchungsgegenstandes modelliert. Demnach seien Außenbezug, Uneinsehbarkeit, Selbstbezug, Individualität und Flüchtigkeit zentrale Charakteristika individueller Weiterbildungsstrategien (33-40). Weiterhin werden die zentralen Referenzen „Lernen/ Weiterbildung“, „Profession/ Disziplin“ und „Unternehmen/ Organisation“ ausgemacht (40-62), die als Raster für die Analyse des empirischen Materials dienen. Diese Festlegung wird lediglich mit dem Forschungsinteresse begründet, welches im Untertitel der Studie benannt wird: „Zum Lernen von Professionellen in Unternehmen“ (40). Die theoretische Gegenstandsbestimmung bleibt insofern unpräzise, als dass – zugespitzt formuliert – Lernen als Aneignung und Weiterbildung als Vermittlung bestimmt wird. Um was es dabei eigentlich geht, ist unklar. Hier wären einige Präzisierungen – etwa im Verständnis des Pädagogischen – als Differenz von Wissensvermittlung, -aneignung und -überprüfung hilfreich.
Die ausführliche Darstellung der Methodik im dritten Kapitel (63-81) erfolgt im Sinne der methodologischen Begründung der gewählten Methode und stellt im Bereich qualitativer Weiterbildungsforschung eher die positive Ausnahme dar. Neben der Darstellung zentraler Prinzipien und Schritte der Grounded Theory gibt Böhm dem methodischen Vorgehen eine eigene Note, indem er Interviews als Gleichniserzählungen versteht (64-72). Zwar bleiben die Ausführungen zur Grounded Theory (72-81) aufgrund ihres allgemeintheoretischen Charakters recht abstrakt. In der folgenden Ergebnisdarstellung gewinnen sie jedoch eine gewisse empirische Konkretheit.
Im vierten, umfangreichsten Kapitel der Arbeit (82-252) werden zunächst die neun Fälle entlang der Analyseschritte Interviewwiedergabe, offene, axiale und selektive Kodierung dargestellt (82-217). Stringent nutzt Böhm das zuvor entwickelte systematische Raster für die Interpretation und Darstellung der Ergebnisse. Die generierten Kategorien werden immer im Verhältnis zu den festgelegten Referenzen Unternehmen, Profession, Lernen gesehen. Relevante Referenzen der Interviewten jenseits dieser festgelegten Referenzen kommen so kaum in den Blick. Das ist schade, da das empirische Material viele Hinweise auf andere relevante Referenzen gibt, wie etwa auf familiäre, lebensgemeinschaftliche, schulische, Reise- oder Karrierereferenzen.
Schließlich werden zentrale Elemente der versprochenen Theorie zu individuellen Weiterbildungsstrategien formuliert (217-252). Hierbei ist die Unterscheidung zwischen Umweltanpassung und Selbstbestimmtheit zentral. Zum Lernen veranlasse demnach nicht die Profession Informatik, sondern das Unternehmen. Es ginge den Professionellen nicht um Veränderung oder Widerstand, vielmehr um umweltförmige Anpassung. Damit wird Vorstellungen von einem selbstbestimmten, an eigenen Bedürfnissen ausgerichteten Lernen eine klare Absage erteilt. Unterschieden werden vier Typen der Erlangung von Umweltförmigkeit durch Lernen: Hinnahme, Übernahme der Lernaufgabe, eigene Methode und eigenes Potenzial zum Lernen. Entsprechend seien die Referenzen Profession und Unternehmen mal als statische und mal als dynamische konstituiert, was wiederum Auswirkungen darauf habe, inwieweit Lernen als aktuelle oder als kontinuierliche Aufgabe gesehen wird.
In beiden Kapiteln werden zwar immer wieder empirische Fälle bemüht, jedoch ohne exemplarisch mit Interviewzitaten zu arbeiten. Der bloße Verweis auf die Transkriptionen, die im Internet zu finden sind, hilft dabei wenig. Die Ausführungen bleiben dadurch empirisch „fleischlos“.
In den letzten beiden Kapiteln 5 und 6 werden die analysierten Strategien in der Debatte um betriebliche Weiterbildung unter Berücksichtigung von Kontextbezogenheit, Motivlage und Selbstbestimmung verortet (253-256) sowie eine kritische Einschätzung des Forschungskalküls vorgenommen (257-262).
Fazit: Mit der empirisch-analytischen und biografisch orientierten Ausrichtung leistet Böhm einen Beitrag zur Erforschung sozialer Voraussetzungen und Bedingungen des Lernens von Erwachsenen, speziell in betrieblichen Kontexten. Die Arbeit ist somit deutlich von solchen Arbeiten abzugrenzen, die primär im pädagogisch-normativen Sinne auf Fragen der Gestaltung von Lernprozessen ausgerichtet sind. Trotz der irritierenden Begriffsverwendung von „individuell“ (individuelle Weiterbildungsstrategien), kann Böhm im theoretischen und empirischen Teil seiner Arbeit plausibel darlegen, dass Weiterbildungsstrategien bzw. Lernen eben keine individuellen Angelegenheiten sind. Vielmehr sind sie vielfältigen Umwelteinflüssen ausgesetzt und durch sie mitbedingt. Hervorzuheben sind die so aufgezeigten Grenzen selbstbestimmten Lernens. Die vor diesem Hintergrund sich regelrecht aufdrängende kritische Hinterfragung der anfangs stark gemachten konstruktivistischen Erwachsenenbildung bleibt leider aus.
Hervorzuheben ist auch, dass die Arbeit sich durch einen hohen grundlagentheoretischen und methodisch-methodologischen Anspruch auszeichnet. Allerdings ist damit auch ein zentrales Problem verbunden. Der Stellenwert des theoretischen Unterbaus in Bezug auf Auswertung und generierte Theorie konterkariert auf eigentümliche Weise den methodisch-methodologischen Anspruch. Erstens wird das für qualitative Forschung und insbesondere für die Grounded Theory so zentrale Prinzip der Offenheit durch das vorbestimmte Raster stark beschnitten. Und zweitens werden die sehr interessanten Falldarstellungen zu schnell zu abstrakt theoretisiert. Statt mit exemplarisch ausgewählten und illustrierenden Zitaten die Plausibilität der Ergebnisse zu stärken, wird sie durch eine am systemtheoretischen Sprachduktus orientierte Darstellung der Ergebnisse eher erschwert.
Insgesamt bieten die Ergebnisse gegenstandstheoretisch vielfältige Anschlussmöglichkeiten für Wissenschaft und Praxis: Einmal hinsichtlich empiriebezogener Erforschung des Lernens und einmal hinsichtlich einer empirisch begründeten Praxisgestaltung.
EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)
Individuelle Weiterbildungsstrategien
Zum Lernen von Professionellen in Unternehmen
(Reihe Berufsbildung, Arbeit und Innovation – Dissertationen/Habilitationen; Bd. 17)
(Reihe Berufsbildung, Arbeit und Innovation – Dissertationen/Habilitationen; Bd. 17)
Bielefeld: Bertelsmann 2008
(279 S.; ISBN 978-3-7639-3695-3; 35,00 EUR)
Olaf Dörner (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Olaf Dörner: Rezension von: Böhm, Stefan: Individuelle Weiterbildungsstrategien, Zum Lernen von Professionellen in Unternehmen (Reihe Berufsbildung, Arbeit und Innovation – Dissertationen/Habilitationen; Bd. 17) . Bielefeld: Bertelsmann 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393695.html
Olaf Dörner: Rezension von: Böhm, Stefan: Individuelle Weiterbildungsstrategien, Zum Lernen von Professionellen in Unternehmen (Reihe Berufsbildung, Arbeit und Innovation – Dissertationen/Habilitationen; Bd. 17) . Bielefeld: Bertelsmann 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393695.html