EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Gerhard Zimmer / Peter Dehnbostel (Hrsg.)
Berufsausbildung in der Entwicklung – Positionen und Leitlinien
Duales System / Schulische Ausbildung / Übergangssystem / Modularisierung / Europäisierung
Bielefeld: wbv 2009
(214 S.; ISBN 978-3-7639-3694-6; 29,90 EUR)
Berufsausbildung in der Entwicklung – Positionen und Leitlinien Das deutsche Berufsbildungssystem befindet sich in einer „Krise“, die kontrovers diskutiert wird. Symptome dieser Entwicklung sind der zahlenmäßige Rückgang betrieblicher Ausbildungsverträge, die Zunahme außerbetrieblicher und schulischer Ausbildungen sowie ein signifikanter Zuwachs an Jugendlichen, die sich aufgrund eines fehlenden Ausbildungsplatzes im so genannten „beruflichen Übergangssystem“ befinden.

Durch neue Strukturmodelle der Ausbildung, Entwicklung neuer Ausbildungsberufe und teure Förderprogramme, weiter durch die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes, dem Ausbildungspakt und der Gründung eines Innovationskreises beim Bundesministerium für Bildung und Forschung wurden erste Versuche unternommen, der Krise Einhalt zu gebieten und das Berufsbildungssystem zu modernisieren. Dennoch bleibt ein grundlegender Innovationsbedarf, der im Rahmen der Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Die von Gerhard Zimmer und Peter Dehnbostel herausgegebene Veröffentlichung beleuchtet im Rahmen von elf Einzelbeiträgen die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems. Thematisiert werden dabei unter anderem die steigenden Kompetenzanforderungen in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, die Durchlässigkeit des allgemeinen und beruflichen Bildungssystems auch im Rahmen des Europäischen Qualifikationsrahmens, das berufliche Vollzeitschul- und Übergangssystem, sowie Flexibilisierungsbestrebungen beruflicher Ausbildungen.

Der Band ist aus einer Vorlesungsreihe zur Reform der Berufsausbildung an der Helmut-Schmidt-Universität (vormals Universität der Bundeswehr) Hamburg hervorgegangen, zu welcher ausgewiesene Expertinnen und Experten aus den Bereichen Wissenschaft, Berufsentwicklung, Unternehmen und Gewerkschaften eingeladen wurden, ihre Positionen und Perspektiven zu der oben genannten Thematik darzulegen. Der erschienene Sammelband ist das Ergebnis der verschriftlichten Vorlesungen sowie weiterer Fachbeiträge mit dem Ziel die Reformbemühungen weiter voranzutreiben.

Die meisten Beiträge sind formal ähnlich aufgebaut. Zu Anfang wird die Problemlage der betreffenden Thematik kurz dargelegt; danach folgen Lösungsvorschläge oder aber Praxisbeispiele, wie im Beitrag von Ulrich Reißler mit dem Titel „Neue Wege in die Ausbildung – Antworten auf den demografischen Wandel aus Sicht der Automobilindustrie“ (119-126). Im Folgenden wird beispielhaft auf vier Beiträge näher Bezug genommen. Während die Darlegung von Gerhard Zimmer „Notwendigkeiten und Leitlinien der Entwicklung des Systems der Berufsausbildung“ (7-45) sowie diejenige von Gerhard Bosch „Herausforderungen für das deutsche Berufsbildungssystem“ (47-67) aufgrund ihrer einleitenden Funktion in das Themenfeld ausgewählt wurden, stellt Michael Ehrkes Beitrag „Patchwork oder Berufe? Berufsausbildung ist mehr als Modullernen“ (99-117) beispielhaft einen von vielen Themenschwerpunkten des Sammelbandes dar. Der abschließende Aufsatz von Dehnbostel „Berufsausbildung – Durchlässigkeit und Bildungsstandards“ (197-211) verknüpft viele der zuvor behandelten Themenfelder und stellt diese in einen neuen Zusammenhang.

Zimmer spricht in seinem Beitrag von einer fundamentalen Strukturkrise des Berufsbildungssystems, deren Ausgangspunkt er am Übergang von der industriell-maschinellen zur informationstechnisch-automatisierenden Produktionsweise verortet. Der Autor weist auf die veränderten Arbeits- und Kompetenzanforderungen der informationstechnischen Produktionsweise hin. Ausgehend von diesen Entwicklungen wird die Realisierung des Rechts auf eine erste anerkannte Berufsausbildung als oberstes Ziel der Systemreform deklariert. Zur Lösung dieser Strukturkrise werden zehn Reform-Leitlinien erläutert. Der Beitrag von Zimmer spannt einen weiten Bogen und nimmt Bezug zu weitestgehend allen in den folgenden Beiträgen behandelten Themenfeldern. Der Beitrag ist trotz oder gerade wegen seiner Kürze informativ, prägnant und grundlegend.

Im Beitrag von Bosch wird thematisiert, inwieweit Deutschland mit seinem starken System betrieblicher Ausbildung und dem vergleichsweise gering ausgeprägten tertiären Bildungssektor in Zeiten des globalen Wettbewerbs weiter Bestand haben kann. Zur Beantwortung dieser Frage beleuchtet Bosch die Gesamtkonstruktion des Bildungssystems, sowie die Beziehung seiner Elemente zum Arbeitsmarkt. Auf Grundlage aktueller Entwicklungen, sowohl innerhalb des dualen Systems als auch an den Schnittstellen Schule, Übergangssystem, Weiterbildung, Hochschule und Arbeitsmarkt, arbeitet Bosch die aktuellen Probleme heraus. Der Beitrag von Bosch hebt dabei vor allem die Chancen des deutschen Systems hervor ohne kritische Punkte zu verschleiern und zeichnet ein umfassendes Bild der aktuellen Diskussion.

Der Beitrag von Ehrke beschäftigt sich mit der sehr kontrovers diskutierten Modularisierungsdebatte innerhalb der beruflichen Bildung. Ehrke bezieht sich dabei auf ein Gutachten des Innovationskreises beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, welches den Vorschlag zur Neuordnung des Dualen Systems zu einem modularen Ausbildungssystem beinhaltet. Gleich zu Beginn bekundet der Autor seine Skepsis gegenüber Modularisierung und kritisiert die aktuell geführte Diskussion. Im Anschluss weist er auf die bereits existierenden Formen von Modularisierung im bestehenden Bildungssystem hin. Nach Ehrke unterscheidet sich das Modell des Ausbildungsberufs durch seine bildungstheoretischen Funktionen grundlegend vom Modulansatz als reines Qualifikationsmodell. Anstatt berufliche Identität zu entwickeln, schaffe das Modulsystem eine Patchwork-Biografie, die durch geringe Komplexität und Reichweite gekennzeichnet sei. Somit stelle das Modulkonzept keine Alternative, allenfalls eine Ergänzung des Ausbildungsberufes dar. Der Beitrag von Ehrke bezieht eine klare Position zugunsten des Dualen Systems und markiert eine Gegenposition zu Dieter Eulers Beitrag „Flexible Ausbildungswege in der dualen Berufsausbildung“ (87-98).

Der abschließende Beitrag von Dehnbostel diskutiert die bestehende Funktion des Berufs für die Aus- und Weiterbildung und kommt zu dem Schluss, dass eine „neue“ Beruflichkeit gefragt ist, die sich nicht mehr am herkömmlichen Berufskonzept orientiert. Der Autor spricht sich dabei für eine Reform des Berufsbildungssystems aus, die eine am Berufsprinzip angelehnte zukunftsorientierte Berufsausbildung ermöglicht. Im weiteren Verlauf wird auf die mangelnde Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems Bezug genommen, welcher gemäß Dehnbostel durch anerkannte Bildungsstandards zu begegnen sei. Insbesondere für den Bereich der sozial benachteiligten Jugendlichen in der beruflichen Bildung könnten Bildungsstandards verbindliche Anerkennungen von ausbildungsvorbereitenden und ausbildungsbezogenen Qualifizierungen schaffen und so die Integration in Ausbildung und Beruf fördern.

Im Hinblick auf die grundlegende Intention dieser Veröffentlichung, die Reformbemühungen innerhalb der Berufsausbildung weiter voranzutreiben, wäre ein abschließender Beitrag wünschenswert gewesen, der die diskutierten Sachverhalte noch einmal zusammenführt, konkurrierende Ansätze herausstellt und klare Handlungsperspektiven aufzeigt. Auch bleiben die Themenbereiche der Ausbildungsqualität sowie der Lernortkooperation leider weitestgehend unberührt.

Das Sammelwerk bietet trotz alledem einen guten Einblick in die aktuelle Diskussion um die Reform des Berufsbildungssystems und stellt unterschiedliche Ansatzpunkte, Vorschläge und Sichtweisen dar. Dabei gelingt es den meisten Autorinnen und Autoren der/m Leser/in in prägnanter Kürze das jeweilige Thema mit neuen Einsichten nahe zu bringen. Die Beiträge sind hierbei alles in allem verständlich geschrieben und deshalb auch für Studenten oder interessierte Laien durchaus empfehlenswert. Im Großen und Ganzen eine gelungenes Werk, das seinem Anspruch gerecht wird und Einblicke gibt.
Nina Fischer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nina Fischer: Rezension von: Zimmer, Gerhard / Dehnbostel, Peter (Hg.): Berufsausbildung in der Entwicklung – Positionen und Leitlinien, Duales System / Schulische Ausbildung / Ãœbergangssystem / Modularisierung / Europäisierung. Bielefeld: wbv 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393694.html