EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)

Jörg-Peter Pahl
Berufsschule
Annäherung an eine Theorie des Lernortes
Bielefeld: Bertelsmann 2008
(702 S.; ISBN 978-37639-3635-9; 59,00 EUR)
Berufsschule In sieben Kapiteln lotet Jörg-Peter Pahl in der vorliegenden Veröffentlichung die Berufsschule hinsichtlich Entwicklung und Formen, systemischer Einbettung, beteiligter Personen und Gruppen, Lernorganisation, Didaktik und Methodik und künftiger Perspektiven aus. Ähnlich wie die im Jahr zuvor erschienene Veröffentlichung „Berufsbildende Schule – Bestandsaufnahme und Perspektiven“ zeichnet sich auch diese Publikation durch eine klare Struktur aus. Damit wird einem seit Jahrzehnten bestehendem Desiderat, diesen Lernort systematisch darzustellen, Folge geleistet.

Pahl unterscheidet die Berufsschule als Teilzeitschule und Dienstleisterin im Hinblick auf die Arbeitswelt von anderen Schulformen. Die Darstellung bietet Raum für eine theoretische Annäherung an eine mögliche Theorie, welche die Institution als Forschungsgegenstand legitimiert und das Bildungspotential im beruflichen Lernen offenlegt. Der vorliegende Band ist darüber hinaus ein nützliches Nachschlagewerk für Ausbildungsverantwortliche in Schule und Betrieb. Pahl zeichnet die historische Entwicklung nach und geht der Entstehung der Berufsschule auf den Grund, mit einem überraschenden Ergebnis: Es lässt sich kaum verbindlich sagen, wann die Berufsschule genau entstanden ist. Mit Sicherheit handelt es sich um eine „Schöpfung des 20. Jahrhunderts“. Als Vorläufer erwähnt er die religiöse Sonntagsschule (1739), die gewerblichen Sonntagsschulen (ab 1790), die Handwerker mittels Unterricht zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft formen sollten. Ab 1850 bis ca. 1900 spricht man von Fortbildungsschulen, ab 1921 etabliert sich der Begriff Berufsschule.

Der Wandel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen fordert von den Berufsschulen die Bereitschaft, sich den immer schneller werdenden Veränderungen anzupassen, diese frühzeitig zu erkennen und adäquat in ihren Lernort zu integrieren.

Die wechselseitige Beziehung zwischen „Theorie“ und „Praxis“ bzw. zwischen Schule und Betrieb ist spannungsgeladen und anfällig für Simplifizierungen. Hier mischt sich der Autor ein: Er trennt Sein (was die Berufsschule ist) und Sollen (was sie leisten müsste) und verhindert damit ein ausuferndes Wunschdenken. Allen Schulen ist eigen, dass sie Orte des Lehrens, Lernens und Erziehens sind. Als organisierte Einrichtungen sind sie außerdem Teil eines Bildungssystems und geschichtlich entstandene gesellschaftliche Institutionen.

Die Berufsschule muss aber zusätzlich dem Anspruch genügen, einen fachlich-inhaltlichen und erzieherischen Teil zu übernehmen, der auch in der betrieblichen Ausbildung wahrgenommen wird. Die Schule ist daher nicht nur Partnerin, sondern dienstleistende Zulieferin der Industrie. Die Lehrinhalte sind eng an die Ansprüche der Wirtschaft gekoppelt, die Lernenden besuchen die Berufsschule, weil sie Berufliches lernen wollen. Somit unterscheiden sich Berufsschulen von allgemeinbildenden Schulen im Hinblick auf ihre Autonomie: Sie sind Ausbildungspartner im dualen System. Wenn Berufsschulen Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung sein sollen, dann gilt es, diese in ihrer Gesamtheit zu reflektieren, mit Bezug auf ihre Organisation, ihre Strukturen und besonderen Merkmale, Ziele und Aufgaben. Zu beachten sind auch ihre spezifische Lernorganisation und die Lehrpläne sowie ihre eigenständige Didaktik und Methodik. Jede moderne Schule erfüllt im Weiteren Funktionen der Sozialisation, Bildung, Qualifikation, Selektion, Allokation und Kulturüberlieferungsfunktion. Für die Berufsschule gibt es trotz Übereinstimmung mit den erwähnten Funktionen bislang kaum eine geschlossene Theorie.

Die Eigenständigkeit der Berufsschule zeigt sich z.B. 1930 in der „Frankfurter Methodik“ (344ff.), die curriculare, lernpsychologische und organisatorische Strukturen im Hinblick auf die technische Berufsausbildung einschloss. Mathematisch-naturwissenschaftlich fundierte Fächer münden in die Werkkunde, Programmierung des Unterrichts durch Entwicklung von Modellreihen, Arbeits-, Übungs- und Aufgabenblättern. Auf diese Methodik stützten sich nach dem 2. Weltkrieg das experimentelle Lernen und die Entwicklung zum Werkstatt- und Demonstrationsunterricht. Bis Mitte der 1960er Jahre vermittelte die Berufsschule Fachtheorie, in den darauf folgenden Jahren gewinnt die Allgemeinbildung an Bedeutung, da man sich auf den eigentlichen Bildungsauftrag zurückbesinnt und man Auszubildende zu beruflicher Tüchtigkeit und Mündigkeit befähigen will.

Heute richtet sich die Unterrichtsplanung der Lehrpersonen nach Lernkonzepten, die Fragen der Berufs- und Lebenswelt komplex zu vernetzen wissen. Unterrichtsinhalte müssen in einen Gesamtzusammenhang gestellt werden und dabei soll gleichzeitig zu selbstständigem und eigenverantwortlichem Lernen angeregt werden. Diese Lernorganisation führt zu theoretischen Ansprüchen der Schule und praktischen Zwängen der Ausbildungsorte. Lehrpersonen müssen sich mit beruflichen und schulischen Curricula auseinandersetzen. Eine Möglichkeit sieht Pahl in der Kooperation der Lehrpersonen mit den Ausbildern im Hinblick auf die Erstellung von Curricula. Dies erfordere aber auch eine entsprechende Schulung. Die gemeinsame praktische Arbeit öffnet eine Perspektive für den Theoriebildungsprozess in der Berufsschule.

Seinem Anspruch, die gegebenen und veränderlichen Faktoren der Institution Berufsschule differenziert darzustellen, ist Pahl gerecht geworden. Wohl nirgends werden die Möglichkeiten der Profilierung von Berufsschulen in der Ausbildungs- und Bildungslandschaft so deutlich und strukturiert diskutiert wie im vorliegenden Werk. Von besonderem Interesse ist das umsichtige Aufzeigen der beteiligten Akteure im Kapitel 4 wie auch seine Aussage, was die Bildungsinstitution „Berufsschule“ bewahren muss und wo sie dem Wandel folgen soll (im Kapitel 7 mit den Überlegungen zu Innovationen und Reformoptionen für die Lernorganisation).

Eine zu entwickelnde Theorie des Lernortes Berufsschule ist ein Prozess, und dies demonstriert Pahl überzeugend, der aktuelle Sachverhalte und Ergebnisse weiterhin sammelt, systematisiert, fortentwickelt und auch modifiziert. Neue Erkenntnisse, die für die Dynamik der beruflichen Welt förderlich und somit unumgänglich sind, fließen als bereichernde Ansätze in bestehende.

Pahl appelliert an die Bereitschaft, den Wandel zu begrüßen und dennoch den Anspruch einer Theoriebildung für die Berufsschule aufrechtzuerhalten. Wenn ein Ansatz oder eine als sicher geltende Erkenntnis schneller aufgegeben werden muss als anderswo, dann ist das ein Schritt in die Richtung der berufsschulspezifischen Theorie. Der Autor der vorliegenden Veröffentlichung hat den ersten schweren Stein ins Rollen gebracht: Berufsschulen, und wir ergänzen, diese als Lernorte im deutschen dualen Berufsbildungssystem, sind im Fokus des Forschungsinteresses, weil ihr Entstehen und die beteiligten Akteure in der Institution Schule historisch und systematisch aufgearbeitet werden.
Daniela Plüss (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniela Plüss: Rezension von: Pahl, Jörg-Peter: Berufsschule, Annäherung an eine Theorie des Lernortes. : . In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393635.html