„Was soll ich tun?“ – Diese Frage stellt sich allen Menschen angesichts der vielfältigen Herausforderungen täglich. Aufgrund der zunehmenden Vielfalt von Handlungsoptionen gilt es mehr denn je, die Sinne für die ethische Relevanz des eigenen Handelns zu schärfen. Es sind prinzipielle Überlegungen anzustellen, die sich kritisch auf das zur Verfügung stehende Wissen beziehen und im Hinblick auf seine Tragfähigkeit überprüfen. Im Bereich der Werteorientierung in der Erwachsenenbildung gibt es bisher nur wenig konzeptionelle Erwägungen. Noch seltener wird wertorientierte Bildungsarbeit in einen Zusammenhang mit Blended-Learning-Szenarien gebracht. Vorliegende Publikation, welche die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „Treffpunkt Ethik“ (und seine Vernetzung mit dem Projekt „Weiterbildungsmodule für Lehrende zur ethischen Bildung“) bündelt und um weiterführende und vertiefende Impulse erweitert, nimmt daher eine besondere Stellung ein. Das Ziel des Projekts besteht darin zu erforschen, welche Chancen für milieu- und bereichsübergreifende ethisch-moralische Verständigungsprozesse in der internetgestützten Kommunikation liegen. Das Projekt wird von der Überzeugung geleitet, dass – in ähnlicher Weise wie bei der Wissensaneignung generell – Wertefindungs- und Wertevermittlungsprozesse häufig en passant erfolgen. Durch das besondere Lernarrangement soll der Flexibilisierung der Lebenswelten Rechnung getragen und ethischen Themen ein höherer Rang innerhalb der gesellschaftlichen Diskussion eingeräumt werden.
Die internetbasierten, von mehr als fünfundzwanzig Einrichtungen entwickelten Konzepte, die von der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung durchgeführt wurden, können – so die Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan im Vorwort – Modellcharakter für die gesamte Erwachsenenbildung haben. Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts erfolgte durch das Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover (FIPH) unter der Leitung von Gerhard Kruip. Europäische Ergänzung erhielt das deutsche Projekt durch die im Sokrates-Programm der EU geförderte GRUNDTVIG Lernpartnerschaft „Meeting Point Ethics“.
Der über 500 Seiten umfassende Band ist in fünf Kapitel (I-V) unterteilt und wird abgerundet durch einen „Ausblick“, der die Grenzen, Chancen und Perspektiven des Projekts auslotet (497-500). Grundlegende Reflexionen über ethische Bildung erfolgen im ersten Unterkapitel des Kapitels I (21-45). Im zweiten Unterkapitel werden die theoretischen Grundlagen des komplexen Lernarrangements des Blended-Learning erörtert (46-75). In Kapitel II wird das Projekt en detail vorgestellt (79-108). In diesem Hauptteil werden außerdem die Ergebnisse und die Empfehlungen der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts dargestellt. Im Anschluss an eine grundlegende Auseinandersetzung mit „Lernplattformen“ (109-155) wird schließlich die Plattform des Treffpunkt-Ethik-Servers zum Thema (156-173). Vorliegendes Internetangebot (www.treffpunkt-ethik.de), die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Medienberichterstattung werden abschließend ausgewertet (175-182). Das Folgekapitel III unterzieht die Projektergebnisse einer näheren Betrachtung (183-252). Während Kapitel IV einem „Blick über den Tellerrand“ gewidmet ist (253-330), werden in Abschnitt V exemplarisch elf Praxisbeispiele angeführt, die durch eine Checkliste zur Konzeption und Durchführung von Blended-Learning-Konzepten ergänzt wird (333-493).
In seinen philosophisch-anthropologisch akzentuierten Ausführungen über ethische Bildung regt Ralph Bergold einleitend an, über den in der Erwachsenenbildung zugrunde liegenden Bildungsbegriff nachzudenken. Der verantwortliche Gebrauch der Freiheit stelle nur eines der Ziele dar, so Bergold. Sorgsam wägt der Autor die Chancen und Risiken des komplexen Lernarrangements gegeneinander ab. Positiv seien die interaktiven Kommunikationswege, in denen Lernende nicht nur Rezipienten, sondern immer auch Akteure seien. Damit eröffne das Internet neue Wege der Vermittlung von Werten und Werthaltungen. Von Bedeutung sei auch die Erweiterung der Zielgruppenmilieus. Trotz dieser Vorzüge will der Verfasser nicht die herkömmlichen Formen des sozialen Lernens an den Rand gedrängt wissen.
Dies scheint mir ein wesentlicher Punkt zu sein. Das intellektuelle Angebot allein, sei es synchron oder asynchron konzipiert, von vorgegebenen Räumen und festgesetzten Zeiten vollständig oder teilweise entkoppelt, vermag keine Ich-Stärkung zu erreichen, von der die Verwendung erworbenen Wissens und die soziale Verantwortlichkeit seiner Anwendung abhängen. Die affektiven Prozesse, die in der Regel insbesondere in der Präsenzphase und den dort geknüpften sozialen Kontakten entstehen, sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So konstatieren auch Bergold, Gisbertz und Kruip: „Die sozialen Ausdrucks-, Umgangs- und Diskussionsformen im Netz spiegelten durchweg das Klima der Präsenztreffen wider“ (498). Gesinnung und Moral werden auswechselbar, wenn es die Menschen sind, mit denen man zu tun hat. Beim „Blend“ aus Methoden und Medien steht der zu vermittelnde Gegenstand im Vordergrund. Hierbei bestimmen die technischen Möglichkeiten den Mitteleinsatz. Beim „Learning“ ist es der Mensch. Die soziale Dimension des Lernens reicht also weiter als die Frage nach der Präsenz im Netz oder der Ermöglichung virtueller Gemeinschaften bzw. Kollaborationen. Unbeschadet dieses Sachverhalts sind Werte- und Wissensvermittlung dennoch immer in einem Kontext zu sehen (vgl. Ortner u.a., 259). Abgesehen von der Notwendigkeit, ethisch relevante Situationen diskursiv zu bearbeiten, ist es ebenso bedeutsam, sich auf einen kulturell bereits verfügbaren Wissensbestand zu beziehen und sich an ihm „abzuarbeiten“. Themenmodule hierzu, die auf dem Treffpunkt-Ethik-Server eingesehen werden können, werden im ersten Artikel des Kapitels IV vorgestellt (z.B. kulturelle Identität und interkulturelle Verständigung, Krieg und Frieden, Mensch und Umwelt, Gewalt und Ausgrenzung).
Katja Neuhoff und Uwe Fricke führen im Anschluss an Bergolds einführenden Artikel in das umfangreiche Themenfeld des Blended-Learning ein. Da sie ihren Ausführungen einen gemäßigten Konstruktivismus zugrunde legen, sind ihre Ausführungen nicht unmittelbar anschlussfähig an Bergolds philosophisch-anthropologisch akzentuierte Ausführungen. Ganz abgesehen davon, ob ein gemäßigter Konstruktivismus in der Lage ist, menschliche Emotionen zu erklären – diese Ansicht vertreten die beiden Autoren – , kann an dieser Stelle auch gefragt werden, ob die große Bedeutung, die affektive Prozesse während des Lernens haben, tatsächlich erst durch das Aufkommen der neuen Medientechnologien in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist. Hier scheint sich meines Erachtens eine Problematik aufzutun, die für das gesamte Projekt und damit für die komplexe Beziehung zwischen Technik und Mensch konstitutiv ist: Blended-Learning-Szenarien gehen zumeist von kognitivistischen, behavioristischen oder konstruktivistischen Lernparadigmen aus. Diese sind nicht ohne weiteres mit einem philosophisch-anthropologisch akzentuierten Bildungsmodell, wie es beispielsweise Bergold vertritt, in Einklang zu bringen.
Unter einer inhaltlichen Rücksicht lässt sich ein vorläufiges Resumée ziehen: Auch wenn durch die vorliegende hybride Lernform ein größeres Nutzermilieu erreicht wurde und die Akzeptanz des medial unterstützen ethischen Diskurses gewachsen ist, ist die Frage, ob eine Steigerung des individuellen ethischen Verhaltens damit einhergeht, noch nicht beantwortet (s.a. Bergold u.a., 498f.). Die Anlage für die Moralentwicklung eines Kindes vollzieht sich bekanntlich in den ersten drei Lebensjahren. Inwiefern Erwachsene in der Lage sind, anhand einer technologisch gestützten Bildung erfolgreiche Reparaturarbeiten möglicher Versäumnisse vorzunehmen, bleibt weiterer Forschung überlassen. Dennoch ist die Intention, die hinter dem Projekt steht, uneingeschränkt zu würdigen. Durch die Stärkung der Argumentations- und Urteilsfähigkeit des Einzelnen und die Erweiterung des individuellen und (als Folge davon des) gesellschaftlichen Problembewusstseins wird dem emanzipatorischen Anspruch der Erwachsenenbildung in optimaler Weise entsprochen. Vorliegendes Pilotprojekt bricht weiterhin die bisher vorherrschende leistungsorientierte Nutzung der neuen Medien auf und erweitert die charakteristische defensive Lernhaltung um einen selbstbestimmten Habitus.
Nicht zu vernachlässigen ist, dass vorliegendes Lernarrangement selbst auf ethischen Prämissen basiert: Der Lernende muss in nicht zu unterschätzendem Maße Eigenverantwortung für seinen Lernprozess übernehmen. Der Moderator muss einen Machtverlust in Kauf nehmen, um die Annäherung an das Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses zu gewährleisten, ganz abgesehen davon, dass er die Auswahl der Medien und Methoden rechtfertigen muss. Aber auch in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Themenmodule und der formulierten Lernziele wurden bereits inhaltliche Vorentscheidungen von ethischer Reichweite getroffen.
Katja Neuhoff vertritt mit Blick auf das Anforderungsprofil der medialen Präsenz im Netz die Ansicht, dass wichtige Inhalte, im Sinne einer thematisch angemessenen Komplexitätsreduktion, von weniger wichtigen – z.B. zusätzlichen Hilfestellungen, vertiefenden oder weiterführenden Inhalten – unmittelbar unterscheidbar sein sollten (vgl. 222). Es wäre auch der Übersichtlichkeit der vorliegenden Projektdokumentation geschuldet, wenn Artikel, die einen vertiefenden oder weiterführenden Anspruch haben, ebenfalls gesondert gekennzeichnet worden wären. Dies gilt sowohl für Kapitel II, welches das Projekt zwar einerseits im Wesentlichen darstellt, andererseits jedoch auch angrenzende Fragen thematisiert und somit weiter ausholt, als dies zum Verständnis der Konzeption nötig gewesen wäre. Kapitel IV kündigt seinen „Blick über den Tellerrand“ des Projekts zwar schon im Titel an, erweitert damit aber auch den Diskussionsradius erheblich.
Ein Leitfaden zur Handhabung der Publikation existiert leider nicht. Um das Projekt in seinem Aufbau und in seiner Struktur möglichst konkret zu erfassen, empfiehlt sich meines Erachtens die Lektüre der Praxisbeispiele (Kapitel V) zuerst. Das vorgestellte Spektrum an Musterbeispielen ist so beeindruckend wie heterogen. Ethische Fragen der Umweltbildung stehen ebenso im Fokus der Debatte wie medizinische, politische, religionspädagogische oder auch ökologische Fragestellungen. Erwähnenswert ist insbesondere das Konzept der „Frauenplattform Burgenland“, dessen Ziel darin besteht, ein gesellschaftspolitisches Frauennetzwerk aufzubauen. Interessierten Lesern kann empfohlen werden, im Anschluss an die Lektüre der Praxisbeispiele dem roten Faden der eigenen Gedankenführung zu folgen und relevante Artikel gezielt auszuwählen.
Vorliegende Publikation versteht sich als Handreichung für Verantwortliche in Bildungseinrichtungen, ist aber grundsätzlich für alle, die an ethischer Bildung und an der Komplexität des Zusammenspiels zwischen Technik und sozialen Lernbeziehungen interessiert sind, als Lektüre geeignet. Die Dokumentation dieses außergewöhnlichen Projekts umfasst nicht nur Fakten, Interpretationen und Hintergrundwissen, sondern stellt neben erfolgreichen Praxisbeispielen auch eine Checkliste zur Konzeption und Durchführung eigener Blended-Learning-Angebote in der Erwachsenenbildung zur Verfügung.
Es zeichnet sich ab, dass die nachfrageorientierten Lernumgebungen für ethische Diskurse zahlreiche weitere Forschungsfragen generieren und dass sich der Fokus der Forschung, nicht zuletzt bedingt durch den raschen technischen Wandel, laufend verändert. Alles in allem eröffnet vorliegendes Projekt jedoch eine zukunftsweisende Arena für bisher vernachlässigte ethische Diskurse in der Erwachsenenbildung.
EWR 7 (2008), Nr. 6 (November/Dezember)
Treffpunkt Ethik
Internetbasierte Lernumgebungen fĂĽr ethische Diskurse
Bielefeld: Bertelsmann 2007
(508 S.; ISBN 978-3-7639-3538-3; 36,90 EUR)
Gudrun Hackenberg-Treutlein (MĂĽnchen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gudrun Hackenberg-Treutlein: Rezension von: Bergold, Ralph / Gisbertz, Helga / Kruip, Gerhard (Hg.): Treffpunkt Ethik, Internetbasierte Lernumgebungen fĂĽr ethische Diskurse. Bielefeld: Bertelsmann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393538.html
Gudrun Hackenberg-Treutlein: Rezension von: Bergold, Ralph / Gisbertz, Helga / Kruip, Gerhard (Hg.): Treffpunkt Ethik, Internetbasierte Lernumgebungen fĂĽr ethische Diskurse. Bielefeld: Bertelsmann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376393538.html