Es ist nicht zu übersehen: Exkludierende Wirkungen von Bildung geraten (wieder) zunehmend in den Blick der Forschung. Darauf verweisen die aktuellen Studien zu Selektionsmechanismen im Bildungssystem. Ferner lässt sich beobachten, dass Inklusion als gesellschaftliches Leitbild Eingang in den öffentlichen Diskurs gewinnt. Auf bildungspolitischer Ebene wird dies besonders deutlich bei den EU- Bildungsprogrammen, die „Inklusion" und „soziale Kohäsion“ als Zielgröße formulieren. In der Weiterbildung ist bisher das Konzept der Inklusion kaum aufgegriffen worden, wie auch ein Blick in die einschlägigen Handbücher zeigt, während z. B. die Dimension im Feld der Sonder- und Heilpädagogik im Ansatz der „Inklusiven Pädagogik“ eingeflossen ist.
Inklusion ist zunächst eine zentrale soziologische Kategorie. Insofern weckt dieser Sammelband auch die Neugierde, wie anschlussfähig internationale sozialwissenschaftliche Konzepte für erziehungswissenschaftliche Diskurse im nationalen Kontext sind. Dies war eine der Fragen, die der Rezensent an dieses Buch gestellt hat, zumal es auf dem Klappentext heißt: „Der vorliegende Band stellt aktuelle Resultate interdisziplinärer Forschung an der Schnittstelle von Erwachsenenbildung und Soziologie vor“.
Dazu liefert die Einleitung des Herausgebers zu den Entstehungskontexten aufschlussreiche Hinweise. Sieben Wissenschaftler/-innen des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE) in Bonn und der Herausgeber Martin Kronauer, Soziologe und Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, haben sich zu einer Arbeitsgruppe zusammengefunden. Insofern wird dieser Band auch als „ein Ergebnis projektförmigen Lernens“ präsentiert (9). Diese kontinuierliche Zusammenarbeit schlägt sich positiv in der Kohärenz des Sammelbandes nieder. Davon zeugt sowohl der abschließende Beitrag eines Autorenkollektivs, als auch die Vorbemerkungen der Programmverantwortlichen im DIE, Monika Kil, die auf die „Dringlichkeit, Vielschichtigkeit und Breite, mit der dieses Thema für die Erwachsenenbildung bearbeitet wird und werden muss“ hinweist (7). Die Einzelbeiträge identifizieren als zentrale Handlungsfelder Arbeitslose (Gerhard Reutter), Migranten (Prasad Reddy), Ältere (Jens Friebe), Literalität (Sabina Hussain), Analphabetismus / Grundbildung (Monika Tröster), Gender / Männlichkeit (Angela Venth), und Organisationen (Felicitas von Küchler). Die Beiträge umfassen durchschnittlich 20-40 Seiten und beziehen das Begriffspaar Inklusion / Exklusion auf ihr Untersuchungsfeld jeweils umfänglich, zumeist auch historisch verortet, mit mehrseitigen Literaturangaben versehen und sorgfältig redigiert. Die Qualität der Beiträge ist gleichbleibend auf hohem Niveau.
Kronauer entfaltet in seinem grundlegenden Artikel „Inklusion-Exklusion“, der laut Untertitel eine „historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart“ leisten will, aus einer soziologischen Perspektive das Themenfeld. Wenngleich hier der Blick stark auf das gesellschaftliche Phänomen der Exklusion gelegt wird, stellt er auch das Gegenbild eines multidimensionalen Begriffs der Inklusion vor, der sich an „drei Modi von Teilhabe und Zugehörigkeit orientiert: am Bürgerstatus, ausgestattet mit persönlichen, politischen und soziale Rechten; an der Einbindung in die [...] Wechselseitigkeiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung; an den Reziprozitätsverhältnissen in sozialen [...] Nahbeziehungen“ (32).
Wie die nachfolgenden Beiträge zeigen, erweist sich das Begriffspaar Inklusion / Exklusion als äußerst anregend, vorherrschende Diskurse und tradierte Selbstverständlichkeiten der Weiterbildung in zielgruppenorientierten Handlungsfeldern herauszufordern. Neben einer stärkeren sozialwissenschaftlichen Fundierung und einer erhöhten Sensibilität für Risikolagen der Zielgruppen gehört dazu auch eine gesteigerte Selbstreflexion und Rechenschaft der Weiterbildung. Inwieweit allerdings der im Untertitel des Buches verwendete Begriff der „Reflexionen“ den Sachverhalt trifft, ist m.E. nicht eindeutig. Beim Lesen der Beiträge stellt sich eher der Eindruck ein, dass eine überfällige Grundsatzdebatte angestoßen werden soll und normative Positionierungen gesucht werden. Ein Blick in die Einleitung zeigt auf, dass es sowohl um einen analytischen Rahmen als um normative Implikationen geht. „Herauszufinden, worin die Besonderheit – und gegebenenfalls Fruchtbarkeit – der analytischen Perspektive von Inklusion und Exklusion für die Weiterbildung liegt und was den normativen Gehalt des Begriffspaars für die praktische Orientierung von Weiterbildung ausmachen könnte, darin bestand das Ziel der Zusammenarbeit.“ (10)
Der Sammelband wird als „Beginn einer Debatte“, so der abschließende Beitrag, verstanden. Neben einer veränderten Zielgruppenperspektive gilt es – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Entstehens von regionalen und kommunalen Lernlandschaften – stärker die system- und institutionsbezogenen Mechanismen der Exklusion in den Blick zu nehmen. Hier erweist sich der Beitrag „Organisationen der Weiterbildung im Spannungsfeld von Exklusionsdynamik und Inklusion (zielen)“ (Felicitas von Küchler) als besonders aufschlussreich. Die Argumentation, dass Weiterbildungsorganisationen als eigene Steuerungsebene aktiv an der Herstellung von Inklusion / Exkluson beteiligt (sind), indem sie leitbildhafte Strategien für ihre Profilbildung und ihre regionale Positionierung auswählen“ (289), verlangt organisationalen Prozessen der Inklusionsbildung durch Forschung und Gestaltung mehr Aufmerksamkeit zu geben.
Wenn man die eingangs aufgeworfene Frage aufgreift, wie fruchtbar sich das sozialwissenschaftliche Konzept von Inklusion und Exklusion für die Diskurse im Weiterbildungsbereich erweist, dann darf abschließend gefolgert werden, dass dieser Sammelband das Potenzial eindrucksvoll aufzeigt und seinen gehaltvollen Beitrag für folgende Debatten geleistet hat – neben der originären Leistung, interdisziplinäre Themen in Projektgruppen kohärent zu bearbeiten und die Ergebnisse in den wissenschaftlichen Diskurs zu bringen. Wie jedoch das konkrete Agenda-Setting Inklusion erfolgen wird, gerade was auch die Veränderung der Weiterbildungspraxis betrifft, bleibt abzuwarten. Für den politischen Weiterbildungsdiskurs, aber auch für eine stärkere Forschungsfundierung liefert dieser Band bereits jetzt wertvolle Markierungen.
Ein Bereich, in dem das Buch mit Gewinn eingesetzt werden könnte, ist die Arbeit in Hochschulseminaren: sich in das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Analyse und normativen Positionierungen zu begeben bietet einen reizvollen Ansatzpunkt für die Entwicklung professioneller Handlungskompetenz. Darüber hinaus stellt sich beim Lesen eine Ernüchterung gegenüber allzu schnellen pädagogischen Wirksamkeitsversprechen und bildungspolitischen Zukunftsentwürfen ein.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Inklusion und Weiterbildung
Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart
(Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung)
(Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung)
Bielefeld: Bertelsmann Verlag 2010
(316 S.; ISBN 978-3-7639-1964-2; 32,90 EUR)
Wolfgang JĂĽtte (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wolfgang JĂĽtte: Rezension von: Kronauer, Martin (Hg.): Inklusion und Weiterbildung, Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart (Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bielefeld: Bertelsmann Verlag 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376391964.html
Wolfgang JĂĽtte: Rezension von: Kronauer, Martin (Hg.): Inklusion und Weiterbildung, Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart (Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung). Bielefeld: Bertelsmann Verlag 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978376391964.html