
Der Band orientiert sich an den Themen, die von der Jubilarin in ihrer erwachsenenbildungswissenschaftlichen Forschung vorangetrieben werden und verknüpft theoretische Betrachtungen mit Forschungsergebnissen, Praxisbefunden und konkreten Ideen für eine verstärkte Ausrichtung der Praxis an den Idealen einer kritischen Bildungstheorie. Dieses pädagogische Feld hat sich aus Kritik an bestehenden Verhältnissen heraus entwickelt und steht in engem Zusammenhang mit demokratiepolitischen Entwicklungen. Es ist eine zentrale Funktion von allgemeiner Erwachsenenbildung, auf sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen zu reagieren, und mittels bildungspraktischen Handelns und kritisch-solidarischen Wissenschafts-Praxis-Kooperationen einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt zu leisten.
Christine Zeuner ist Professorin für Erwachsenenbildung an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg und beschäftigt sich mit der Frage, wie Partizipation von Menschen gelingen kann. In den einführenden Worten zu diesem Band, der ‚Vorrede‘ (15-27), betont Oskar Negt die hohe gesellschaftspolitische Bedeutung der Forschungsarbeit Zeuners. Setzt sie doch damit bedeutsame Impulse, die dazu anregen, Demokratie als Lebens- und Staatsform zu lernen, täglich zu üben und zu praktizieren.
Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes sind in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt „Utopie: ‚Politische Bildung in unsicheren Zeiten‘“ führen Katja Petersen und Katja Schmidt (31-41) in die Grundbegriffe und Ideen des utopischen Denkens ein, die im Artikel von Daniela Holzer (42-54) mit bestehenden Konzepten wie Negation und Kritik in Zusammenhang gebracht werden. So wird ein Verständnis von Bildung hervorgebracht, das in der Reflexion bestehender gesellschaftlicher Bedingungen die Fähigkeit zur Kritik, Urteils- und Handlungskraft ausbaut. Die Negation bestimmt das Problem und die Utopie verdeutlicht die Richtung des Möglichen. So positioniert, argumentiert Jens Korfkamp (55-66), reagiert Erwachsenenbildung auf aktuelle demokratiepolitische Themenstellungen und Fragen der Zukunftsentwicklung. Der Beitrag von Helmut Bremer (67-84) reflektiert die Bedeutung unterschiedlicher Gesellschaftsbilder für die politische Bildungsarbeit.
Die vier Beiträge des zweiten Abschnittes „Lernen – Bildung – Utopie: ‚Was bringe ich ans Licht, wenn ich die Praxis zur Sprache bringe?‘“ thematisieren aktuelle bildungspraktische Herausforderungen und Widersprüche. Der bestehende Zusammenhang zwischen utopischem Denken und Erwachsenenbildung wird sichtbar gemacht, indem Melanie Benz-Gydat und Antje Pabst (87-99) das Aufgreifen von Zielen der Aufklärung wie „Mündigkeit, Emanzipation und Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft“ (94) in der Entstehung des Handlungsfeldes Erwachsenenbildung herausarbeiten. Zielsetzungen wie Befähigung und Selbstermächtigung beschreiben das utopische Element. In klarer Opposition zu Instrumentalisierung und Ökonomisierung von Bildung wird kritisiert, dass es nicht ausreichend ist, bestehende Systeme durch Bildung zu stabilisieren. In der Gegenposition zu Standardisierungs- und Homogenisierungsbestrebungen fordern die beiden Autorinnen daher kritisch-emanzipatorische Bildungsangebote ein. Dazu passend wird von Jana Trumann (100-111) ein Forschungsprojekt vorgestellt, das im Rahmen von „Utopiewerkstätten“ (105) die Lernprozesse von Akteur:innen eines Repaircafés untersucht. Hieran zeigt sich, wie in informellen Bildungsprozessen die Fähigkeit zur kritischen Reflexion von Handlungsstrategien weiterentwickelt wird. Klaus-Peter Hufner (112-126) kritisiert die vorherrschende Ausrichtung von Bildung an ökonomischen Werten, und Elke Gruber (127-142) verweist auf die Wirkung von Menschenbildern im Diskurs um das lebenslange Lernen.
Der dritte Abschnitt des Bandes bietet unter dem Titel „Historisch – International – Utopie: ‚Lernen ohne Grenzen‘“ Beiträge, die das beschriebene Spannungsfeld zwischen den Forderungen nach Anpassung, kritischer Reflexion und Mit-Gestaltung theoretisch aufarbeiten und Praxis reflektieren. Silke Schreiber-Barsch und Sabine Schmidt-Lauff (145-148) verorten die politische Figur von Bürger:innen. Freie Demokratien fördern politische Bildung, um Rechte ebenso wie Verantwortung offenzulegen und aktive Partizipation zu ermöglichen, so das zentrale Argument von Elisabeth Meilhammer (149-162). Eine Struktur für die lokale Umsetzung einer so verstandenen Bildung bietet die internationale Agenda 21. In Projekten können solidarische Lebens- und Handlungsweisen als Kontrast zur üblichen neoliberalen Praxis entwickelt, ausprobiert und geübt werden. Michael Schemmann (163-178) betont das hohe Potential zur aktiven Stärkung von Bürger:innen und zur Initiierung von regionalen Veränderungen in diesen Prozessen.
Die Einordnung der Textsorte als Festschrift mag erklären, dass der rote Faden des Bandes nicht immer ganz deutlich zu Tage tritt. Jedoch erschließt sich durch die Lektüre der „Nachrede“ (181-204) der inhaltlich enge Zusammenhang. Christine Zeuner zeigt anhand der Entwicklungsgeschichte des Antigonish Movements in Nova Scotia, Kanada, wie mittels Bildung lokale, gesellschaftliche Utopie realisiert werden kann. Ausgangspunkt der ins Zentrum gerückten sozialen Bewegung waren schlechte ökonomische Bedingungen für große Teile der dortigen Bevölkerung. Eine bürgerschaftliche Partizipation an der Gemeinschaft war diesen Gruppen dadurch nicht möglich, bot jedoch den Anlass, soziale und politische Mitgestaltungsmöglichkeiten aktiv zu fördern. An diesem Beispiel arbeitet Zeuner die Verbindung von Erwachsenenbildung, Partizipation, Negation, kritischer Reflexion, dem Denken in Utopien und aktivem politischen Wirken klar heraus, wodurch die Verbindungslinien zwischen den Beiträgen des Bandes ersichtlich werden.
Die Lektüre dieses Sammelbandes ist sowohl für die Erwachsenenbildungspraxis als auch für die Erwachsenenbildungsforschung anregend. Insgesamt gesehen bietet der Band eine schlüssige Darstellung der Diskussion, wie sich Erwachsenenbildung positionieren kann, um auf aktuelle Krisensituationen zu reagieren. Die Beiträge konfrontieren Praktiker:innen wie Forscher:innen mit der Frage, unter welchem Paradigma die eigenen Bestrebungen stehen. Es wird Anschluss an die Frage hergestellt, welchen Beitrag Bildung leisten kann, um Gesellschaft und Zukunft mitzugestalten. Die Lektüre kann darin bestärken, sich selbst in einem kritisch-emanzipatorischen Paradigma zu verorten, eigene Werte und die Handlungspraxis in dem beschriebenen Spannungsfeld zwischen Eingliederung in und Anpassung an bestehende Verhältnisse zu reflektieren. Kritisch-emanzipatorische Erwachsenenbildung greift diese gesellschaftlichen Spannungsfelder und konträren Forderungen auf und die Autor:innen dieses Bandes fordern dazu auf, Utopie in Theorie und Praxis als Element einer so verstandenen Bildung voranzubringen.