EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)

Susann Gessner
Politikunterricht als Möglichkeitsraum
Perspektiven auf schulische politische Bildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2014
(342 S.; ISBN 978-3-7344-0006-3; 36,80 EUR)
Politikunterricht als Möglichkeitsraum Zu wichtigen Fragen des politischen Lernens in der Einwanderungsgesellschaft liegen bisher wenige empirische Forschungserkenntnisse vor, etwa dazu, wie Jugendliche aus zugewanderten Familien politische Bildung in der Schule wahrnehmen, was sie von dieser erwarten und welche Konzepte von Politik sie haben. Diese Lücke versucht die 2014 von Susann Gessner publizierte Dissertation zu schließen. Die qualitative Studie basiert auf leitfadengestützten Interviews mit Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Die Autorin analysiert darin die subjektiven Perspektiven der Befragten auf ihren Politikunterricht mithilfe eines Raumkonzeptes, welches Politikunterricht als „Möglichkeitsraum“ betrachtet. Hierfür zieht sie raumbezogene Perspektiven aus der Soziologie als auch aus der Adoleszenz- und Entwicklungstheorie heran. Davon ausgehend identifiziert sie verschiedene Problemlagen und zieht entsprechende politikdidaktische Rückschlüsse. Gessner, die als Studienrätin im Hochschuldienst und pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Didaktik der Sozialwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen arbeitet, besitzt selber langjährige Erfahrung als Politiklehrerin.

An den Anfang der Arbeit stellt sie einen Überblick über wesentliche Entwicklungen in der interkulturellen Pädagogik sowie zu aktuellen Diskussionen zur Didaktik politischer Bildung im Kontext von Migration, die für die konzeptionelle Anlage der Untersuchung relevant sind. Ausgehend von der Kritik an der Fixierung auf die Kategorie Kultur stellt sie erweiterte Ansätze interkultureller Pädagogik vor – etwa die reflexive interkulturelle Pädagogik, die Migrationspädagogik und die Diversity-Pädagogik – und geht dabei auch auf die Gefahr der Reproduktion dominanter Unterscheidungsmuster ein, die in der Thematisierung und Anerkennung von Differenz besteht. Im nächsten Schritt fasst Gessner aktuelle Diskurse des deutschsprachigen Raumes aus dem Bereich der Didaktik politischer Bildung mit Bezug zu Migration zusammen und stellt einige empirische Studien und Aufgabenfelder der politischen Bildung vor, die migrationsbezogene Fragestellungen aufgreifen (Kapitel zwei). Sie schließt das Kapitel mit sozialkonstruktivistischen Überlegungen zum Lehren und Lernen in heterogenen Gruppen ab. Leider bleiben die Ausführungen in diesen beiden Kapiteln etwas unverbunden nebeneinander stehen. Eine Einordnung der vielen vorgestellten Ansätze in Bezug auf ihre Bedeutsamkeit für die Anlage der Studie wäre wünschenswert gewesen.

So wird dann etwas unvermittelt im nächsten Schritt dazu übergegangen, das verwendete qualitative Forschungsdesign und den Forschungsprozess zu beschreiben (Kapitel drei). Dabei orientiert Gessner sich methodisch an der Grounded Theory. Ausführlich werden Fallauswahl, die Erstellung des in den Interviews verwendeten Leitfadens und jeweils beispielhaft das Vorgehen beim offenen, axialen und selektiven Codieren beschrieben. Insgesamt wurden 13 Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Herkunft der zehnten Klassen aus allen Zweigen einer Gesamtschule interviewt.

Sehr spannend liest sich das vierte Kapitel, in dem Gessner das als theoretischen Code bei der Auswertung des empirischen Materials verwendete Konzept „Möglichkeitsraum“ erklärt, das sie für die theoretische Fassung der Rezeption schulischer politischer Bildung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund heranzieht. Hierfür nimmt sie Bezug auf soziologische, adoleszenzbezogene und entwicklungstheoretische Raumkonzepte. Diese Zugangsperspektiven nutzt sie als sensibilisierendes Konzept, mit dem der „Dimensionalität von Unterricht“ (109) entsprochen werden soll – und zwar einerseits im Sinne der verschiedenen Ebenen, auf denen Politikunterricht für Jugendliche relevant ist, als auch im Sinne der verschiedenen Elemente, deren Zusammenspiel den Politikunterricht aus der Perspektive der Jugendlichen konstituiert. Sie betrachtet Schule somit als eine Art geschützten Raum, der Schüler/-innen die Möglichkeit bieten kann, Handlungen zu erproben, mit dem eigenen kreativen Potenzial zu experimentieren und so eine Veränderung ihres Selbst- und Weltverhältnisses und des Umgangs mit Wissen zu erlangen. In Anlehnung an Löw [1] geht Gessner davon aus, dass die befragten Akteure durchaus „in der Lage sind, zu verstehen und zu erklären, wie sie Räume erschaffen“ (125). Diese Auffassung liegt der Auswertung der Interviews zugrunde. Ihr geht es dabei darum, die Bedingungen zu untersuchen, die förderlich oder hemmend sind, um die Potenziale von Schulunterricht als „adoleszentem Möglichkeitsraum“ bzw. als „potential space“ zwischen individuellen Voraussetzungen, adoleszenter Wahrnehmung und der „Realität“ zu fördern, so dass er den Lernenden über die pädagogische Interaktion Erfahrungserweiterungen und damit transformatorische Bildungsprozesse ermöglicht. Hierzu sei der Blick zunächst auf die Transformationsprozesse selbst, auf ihre Verlaufsformen und Bedingungen zu richten. King und Koller [2] zitierend, stellt Gessner zudem dar, dass Adoleszenz unter den Bedingungen von Migration eine doppelte Herausforderung für Bildungsprozesse sei bzw. eine „doppelte Transformationsanforderung“ darstelle und liefert damit auch eine Begründung für die Fokussierung auf die Gruppe der Interviewten.

Nach einer Darstellung der empirischen Analyseergebnisse in Form von neun sehr spannenden, ausführlichen und facettenreichen Fallportraits (Kapitel fünf) werden die Ergebnisse in das Konzept Politikunterricht als Möglichkeitsraum überführt (Kapitel sechs). Dabei werden entlang von vier zentralen Bereichen jeweils zwei Fälle einander gegenüber gestellt, die das Spektrum in diesem Bereich abbilden sollen. Diese vier Bereiche – Selbstpositionierung, Verarbeitung von Inhalten des Politikunterrichts, Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Situation Politikunterricht sowie Bedeutsamkeit von Politikunterricht – betonen das prozesshafte Entstehen von Politikunterrichtsräumen. Durch die Beschreibung der Wahrnehmung von Politikunterricht mithilfe des Raumkonzeptes entstehen anschauliche Bilder der dimensionalen Verschränkung von Unterrichtsvariablen und individuellen Bedingungen wie etwa von Politikunterricht als „verschlossenem Raum“, „intersubjektivem Aushandlungsraum“, „Tor zur Welt“ oder „Hohlraum“. Durch diese Ausführungen werden sowohl die Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen Jugendlichen deutlich, die unter dem Label „Migrationshintergrund“ subsummiert werden. Zu Letzterem zählt etwa das Ringen um Legitimation und die Relevanz des Themas Gleichberechtigung, das für alle Schüler/-innen interessant gewesen sei – allerdings nicht lediglich auf den bisher im Unterricht fokussierten Aspekt der Geschlechterunterschiede, sondern im Kontext von Zuwanderung.

Davon abstrahierend werden anschließend – wieder entlang der vier Analyseebenen – problematische Ausgangslagen der schulischen politischen Bildung beschrieben (Kapitel sieben). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse ihrer Analyse zieht Gessner politikdidaktische Schlussfolgerungen, die sich auf die Konstitution des Möglichkeitsraums Politikunterricht als Aushandlungs-, Lern- und Bildungsraum beziehen. So sei etwa eine Überbetonung der institutionellen Seite von Politik zu vermeiden, vielmehr seien die jugendlichen Schüler/-innen über ihre Lebenslagen, Bedürfnisse und Interessen einzubinden. Auch eine einseitige Ausrichtung auf deutschlandspezifische Themen und eine konkretistische, am Tagesgeschehen orientierte Themenaufbereitung sei nicht zielführend für eine tiefergehende Durchdringung von politischen Phänomenen. Ein auf funktionalisierte Wissensaneignung fokussierter Unterricht verhindere ein dynamisches Politikverständnis. Befragte, die durch den Migrationsstatus besonders um Zugehörigkeit ringen, hätten sehr hohe Erwartungen an den Politikunterricht wie auch die Lehrperson, die als „absoluter“ Inhaber des normativ richtigen Wissens erscheine, das es zu übernehmen gilt. Eine kommunikativ freie Atmosphäre sei vor dem Hintergrund dieser Verunsicherung daher wichtig. Die Jugendlichen seien darauf angewiesen, zu erfahren, wie andere denken, um sich ihrer selbst zu vergewissern, sich als zugehörig zu erfahren und die Wahrnehmung von Politik als etwas Statischem, Hierarchischem zu überwinden. Auch wenn nicht alle Schüler/-innen ihren schulischen Politikunterricht mit Bedeutung füllen können, hebt Gessner doch positiv hervor, dass alle Befragten diesen an sich als bedeutsam erachten.

Insgesamt plädiert Gessner für einen subjektorientierten Politikunterricht, der die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler und die konkrete Situation im Klassenraum aufgreift, um sich gesellschaftlichen und politischen Phänomenen anzunähern. Werden die Schülerinnen und Schüler mit ihren Bedürfnislagen zum Ausgangspunkt gemacht, beantwortet sich damit auch die Frage, ob und inwiefern der Politikunterricht migrationsbedingte Heterogenität thematisieren sollte. Jugendliche (mit Migrationshintergrund) seien Experten in eigener Sache, was „ihr Thema“ und die davon ausgehenden Bedürfnisse betreffe, und der Unterricht müsse dafür Reflexionsräume bieten.

Mit Hilfe des Konzepts des „Möglichkeitsraums“ gelingt es Gessner, die Wechselwirkungen zwischen subjektiven Verarbeitungsweisen und sozialen und strukturellen Merkmalen von Unterricht deutlich zu machen. Gerade im Kontext einer immer stärkeren Ausrichtung schulischer Bildung auf die Daten der evidenzbasierten Bildungsforschung ist dies ein Gewinn, da gezeigt werden kann, dass simple Kausalitätsannahmen der Verwobenheit der unterschiedlichen persönlichen und unterrichtlichen Dimensionen des politischen Lernens nicht gerecht werden. Gessner macht mit ihrer Studie darauf aufmerksam, „dass die Chance der sozialen Situation von Politikunterricht einen Wert an sich darstellt“ (312). Der Politikunterricht, so konnte sie zeigen, stellt potenziell einen schützenden Rahmen dar, in dem Ansichten und Einstellungen verhandelt werden können, in dem Nichtverstandenes zur Sprache gebracht werden kann und in dem sich Jugendliche über das Sprechen ihrer selbst versichern können. Jugendliche, die „darum Ringen, eine eigene Sprache zu finden“ (312), müssen Zugang zu diesem Raum erhalten, indem er offen und gleichberechtigt gestaltet wird.

Der Ansatz, Jugendlichen mit Migrationshintergrund, über die viel geredet wird, die aber zu selten selbst zur Sprache kommen, zuzuhören und ihnen Raum zum Sprechen zu geben, ist so einfach wie überzeugend. Die einzelnen Fallporträts und die anschauliche Beschreibung bieten bemerkenswerte Einblicke in die vielfältigen Lebenswelten Jugendlicher. Die Studie ist somit für alle relevant, die sich für gesellschaftliche Perspektiven Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft interessieren. Sie zeigt, dass keineswegs Politikverdrossenheit oder schulisches Desinteresse bestimmend sind, sondern Jugendliche um Anerkennung, Legitimität und Durchdringung politischer und sozialer Strukturen ringen. Der Fokus auf die Differenzlinie Herkunft / Migration lässt allerdings die Frage offen, inwiefern die Rezeption des Politikunterrichts von Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte anders gelagert ist.

[1] Löw, M.: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
[2] King, V. / Koller, H.-C.: Adoleszenz als Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse unter Migrationsbedingungen. Eine Einführung. In: King, V. / Koller, H.-C. (Hrsg.): Adoleszenz, Migration, Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. 2., erweiterte Auflage. Wiesbaden: Beltz 2009, 9–26.
Marlene Menk (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marlene Menk: Rezension von: Gessner, Susann: Politikunterricht als Möglichkeitsraum, Perspektiven auf schulische politische Bildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978373440006.html