Der Band umfasst acht Aufsätze, größtenteils verfasst von Mitgliedern der EPIK-Arbeitsgruppe. Im ersten Beitrag stellen Schratz, Paseka und Schrittesser das EPIK-Konzept und dessen theoretische Referenzen vor (insb. Giddens, Joas, Oevermann und Senge). Das Konzept besteht darin, fünf Domänen pädagogischer Professionalität zu postulieren. Für die AutorInnen entsprechen diese „der höchsten Klassifizierungskategorie von Kompetenzfeldern, die wir für die Lehrerprofession – unabhängig von ihren Fächern bzw. Schul(typ)en – zum gegenwärtigen Forschungsstand als essentiell ansehen“ (25). Die Domänen umfassen:
• Reflexions- und Diskursfähigkeit als die Fähigkeit, eigene Praxis aus verschiedenen Perspektiven theoriegeleitet einzuordnen, um die so gewonnenen Erkenntnisse in Diskurse mit KollegInnen, Schulleitung, Erziehungsberechtigten und der Öffentlichkeit einzubringen;
• Professionsbewusstsein als die Fähigkeit, einen dem pädagogischen Berufsstand entsprechenden Habitus im „Arbeitsbündnis“ (Oevermann) mit den SchülerInnen zu zeigen;
• Kooperation und Kollegialität als die individuelle Bereitschaft und strukturelle Möglichkeit, die zellulare Struktur von Schule zu überwinden;
• Differenzfähigkeit als die Fähigkeit, unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Gruppen¬unterschiede zu berücksichtigen und ihnen, sofern geboten, gerecht zu werden;
• schließlich Personal Mastery als die Fähigkeit, Wissen und Können situationsspezifisch einzusetzen und die dabei unvermeidlichen Ungewissheitsstrukturen zu bewältigen.
Es folgen sieben Beiträge, welche die Darstellung des Konzepts aus verschiedenen Perspektiven und mit Blick auf unterschiedliche Facetten vertiefen.
M. Schratz ordnet das EPIK-Konzept in internationale Entwicklungen in der Bildungsforschung (vergleichende Schulleistungstests, Output-/ Outcome-Fokussierung) sowie -politik (nationale Bildungsstandards, Initiativen von EU und OECD) ein.
I. Schrittesser grenzt die fünf Domänen des EPIK-Konzepts von „topischen“ (95) Kompetenzkatalogen ab. Sie argumentiert, die Domänen ergäben sich aus der „inneren Struktur professionalisierten Handelns“ (38). Von daher könne das Domänenkonzept auch Bereichen gerecht werden, die sich „nicht auf unmittelbare und performativ sichtbare Problemlösefähigkeiten beschränken lassen“ (95).
A. Paseka analysiert die Dialektik von (situativen) Handlungen und (situationsübergreifenden) Strukturen. Sie arbeitet Befunde einer Interviewstudie zur Frage auf, wie LehrerInnen nach Strukturlogiken suchen, um handlungsfähig zu werden bzw. zu bleiben.
E. Nairz-Wirth konkretisiert unter Rückgriff auf Bourdieus Habituskonzept, dass der im EPIK-Konzept angestrebte reflexiv-pädagogische Habitus nicht nur individuelle Professionalisierung erfordere, sondern ebenso eine adäquate Gestaltung des ihn umgebenden Praxisfeldes.
C. Schenz fragt nach dem „eigentümlich Pädagogischen“ in professionell-pädagogischen Handlungsfeldern (189). Sie argumentiert, Professionelle müssten sich unhinterfragt auf ein Verständnis verlassen können, wie sich ihr pädagogisches Handeln zu den Zielen „Erziehung“ einerseits und „Bildung“ andererseits verhält. Nur so sei eine Orientierung im „Pluralismus der Ansprüche“ (40) möglich.
A. Fraunhofer diskutiert die Frage, wie es LehrerInnen in einem Schulsystem mit dem Auftrag zu qualifizieren und zu selektieren gelingen kann, „differenzsensibel“ zu agieren. Eine entsprechende Attitüde auf individueller wie organisationaler Ebene wird als „nicht mehr wegzudenkende Ressource“ (248) herausgestellt.
J. Köhler stellt Ergebnisse einer Befragung von SchülerInnen vor, die das Ziel hatte, das EPIK-Konzept auf Plausibilität und etwaige Leerstellen zu prüfen. Dabei wird deutlich, dass sich die vielfältigen Anforderungen der SchülerInnen mit denen der EPIK-Arbeitsgruppe decken.
Welche Funktion übernimmt eine Gruppe von ExpertInnen, die pädagogische Professionalität quer-, um- und neu denken will, um so Impulse für next practice zu geben? Es scheint, es sollte die wichtige Funktion einer Linse sein: gleichsam vielfältige Lichtquellen im Theoriesystem bündeln, aus denen sich Entwicklungsrichtungen für Praxissystem ergeben. So betrachtet fragt sich erstens, was zur Bündelung herangezogen wurde, zweitens, wie gebündelt wurde und drittens, welche Konsequenzen sich für das österreichische Bildungswesen ableiten lassen.
Zum Ersten: Gerade wer quer-, um- und neu denken will, kommt nicht ohne Verweise auf Bestehendes aus. Dies gilt im Besonderen für VertreterInnen des Wissenschaftssystems, dessen Autorität sich vor allem aus dem Kumulieren von Erkenntnis ergibt. Die Forschungsaktivitäten zu Professionalität im Lehrberuf lassen sich zwei zentralen „Theoriefamilien“ zuordnen: quantitative Forschung mit psychologischem Hintergrund (vor allem Per¬sönlichkeitsansatz und Expertenparadigma) und qualitativ-rekonstruierende Forschung mit soziologischem Hintergrund. Das EPIK-Konzept bezieht sich fast ausschließlich auf die zweite Theoriefamilie und dabei speziell auf strukturtheoretische Professionsansätze. Für eine Auftragsarbeit mit dem eingangs genannten Ziel wäre allerdings wichtig gewesen, alle relevanten Traditionen zunächst zu inventarisieren, um anschließend zu argumentieren, inwieweit sich Einschränkungen auf eine Theoriefamilie (und damit grundlagentheoretische Vorentscheidungen) mit dem Ziel der Arbeit vereinbaren lassen. Ebenfalls erklärungsbedürftig erscheint die Bezugnahme auf eine Handlungstheorie (Joas) und einen Ansatz der Organisationsentwicklung (Senge) sowie deren spezifische Relevanz für den Kontext des Konzepts.
Zum Zweiten: Im Sammelband wird das Domänenkonzept dargestellt und es werden zahlreiche theoretische Referenzen gemacht. Allerdings wird nicht systematisch spezifiziert, wie sich das erste aus dem zweiten ergibt. (Episodisch gelingt dies durchaus nachvollziehbar, vgl. z.B. den Beitrag von Schenz.) Darüber hinaus wäre es für ein Konzept, mit dem Entwicklungsschübe für das Bildungssystem initiiert werden sollen, sehr wichtig gewesen, systematisch den Bezug zum empirischen Forschungsstand der relevanten Disziplinen herauszuarbeiten.
Hinzu kommt, dass das Domänenkonzept in seiner Binnenstruktur (puzzle-teil-artig, 26) bislang diffus bleibt. Beispielhaft herausgegriffen sei der Status der „sechsten Disziplin“ (25). Das Konstrukt ist dem Konzept von Senge entnommen und wird, hier wie dort, verstanden als „integrative Disziplin, die alle [fünf Domänen, SF] miteinander verknüpft und sie zu einer ganzheitlichen Theorie und Praxis zusammenfügt“ [2]. Dass die sechste als Disziplin und nicht als Domäne bezeichnet ist, deutet ihre kategoriale Eigenheit an. Offenbar wird nach dem Verbindenden gesucht bzw. alles Trennende (d.h. alle „kontextspezifischen Aspekte der unterrichtlichen Tätigkeit“, 25) in die „sechste Disziplin“ ausgelagert.
Es könnte freilich folgenreich sein, nur um der Generalität des Konzeptes wegen gerade fach-inhaltliche und fachdidaktische Aspekte sowie die Philosophie des Schulfaches und den Schultyp (insbesondere mit Blick auf das in Österreich bedeutende, aber distinkte berufsbildende Schulwesen) als Komponenten pädagogischer Professionalität auszuschließen. Es ist eine empirische Frage, ob es die gewünschte „verbindende Klammer“ (24) tatsächlich gibt bzw. was ggf. im Zuge ihrer Konstruktion verloren geht.
Zum Dritten: Gerade strukturtheoretische Professionsansätze bemühen sich, den Idealtyp pro¬fessionellen Handelns nicht nur normativ zu rekonstruieren, sondern diesen zur Bestimmung von Professionalisierungsdefiziten zu nutzen. Es ist insofern verwunderlich, dass die gegenwärtige Situation in Österreich in der Darstellung unthematisiert bleibt. Man kann sich Impulse durchaus zunächst ungerichtet vorstellen. Allerdings wäre es wünschenswert, ihre Ausrichtung wissenschaftswissensbasiert zu spezifizieren. Gerade in seiner Sensitivität für die Bedeutung von Strukturen sollte das EPIK-Konzept nicht abgeschnitten von der gegenwärtig in Österreich tobenden Diskussion zur so genannten „PädagogInnenbildung NEU“ und dem dortigen Austausch von Argumenten für und wider bestimmte Aufmerksamkeitsfoci in der LehrerInnenbildung bleiben.
Der Rezensent hat versucht, dahingehend einige Implikationen des Konzepts zu überschauen: Zunächst fallen die teils sehr anspruchsvollen Anforderungen an das Bildungspersonal ins Auge (37ff und 236ff). Diesen gerecht zu werden, dürfte zumindest teilweise Fähigkeiten erfordern, die eng mit Persönlichkeitsmerkmalen korrespondieren. Da deren Ausbildbarkeit begrenzt ist, müssten Fragen von Attrahierung und Eingangsselektion für Lehramtsstudien in den Blick rücken. Andernfalls könnte der Versuch zu professionalisieren in Zynismus oder Überforderung münden. Für die ausbildbaren Anteile der geforderten Fähigkeiten müssten die Konsequenzen des Domänenkonzepts für die LehrerInnenausbildung auf mindestens drei Ebenen diskutiert werden:
- Pädagogische Professionalität ist ein Ausbildungsziel. Da sie im EPIK-Konzept explizit unabhängig vom Fach konzipiert ist, dürften die hierfür vorgesehenen Kapazitäten mit denen der Fach(didaktik)¬anteile um die begrenzte Ausbildungszeit konkurrieren. Gerade für eine elaborierte Fachdidaktik aber gibt es sehr gute empirisch gestützte Argumente.
- Auf der Mikroebene brechen hinsichtlich der Leitidee „Professionalität durch Reflexion“ (27) essentielle Fragen auf, nämlich, wie genau Reflexion Handeln anleiten soll, inwieweit derartige Versuche mit dem Ziel der Habitusformation konfligieren und inwieweit Reflexion bei BerufsanfängerInnen empirisch die Handlungsfähigkeit tatsächlich verbessert.
- Eine diesbezügliche Position müsste auf die Makroebene der LehrerInnenausbildung zurückwirken. Auf Oevermanns Forderung einer „doppelten Professionalisierung“ (1996) wird im Sammelband mehrfach Bezug genommen. Folglich müsste aus dem Domänenkonzept deduziert werden, wie und in welcher Architektur Distanz und Einlassung über die Spanne von Ausbildung und (zumindest) Berufseintritt ermöglicht werden sollen.
[1] Schratz, M. / Schrittesser, I. / Forthuber, P. / Pahr, G. / Paseka, A. / Seel, A. (2007): Domänen von Lehrer/innen/professionalität. Entwicklung von Professionalität im internationalen Kontext (EPIK). Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung 7 (2), 70 – 80.
[2] Senge, P. M. (1996): Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart: Klett-Cotta, 21.