EWR 16 (2017), Nr. 1 (Januar/Februar)

Siegfried Baur / Hans Karl Peterlini (Hrsg.)
An der Seite des Lernens
Erfahrungsprotokolle aus dem Unterricht an SĂŒdtiroler Schulen – ein Forschungsbericht
Reihe: Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Band 2
Innsbruck: Studien Verlag 2016
(224 S.; ISBN 978-3-7065-5579-1; 29,90 EUR)
An der Seite des Lernens Der zweite Band der Reihe Erfahrungsorientierte Bildungsforschung stellt die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen“ vor und bindet diese in den aktuellen Diskurs zu „lernseiteigen Aspekten“ des Lernens ein [1]. Das Medium dieser AnnĂ€herung an die Seite des Lernens stellen die „Vignetten“ dar, die von den Forscherinnen und Forschern im Rahmen des Projekts – Evi Agostini, Siegfried Baur, Doris Kofler, Helmut MathĂ , Hans Karl Peterlini, Barbara Saxer, Gerda Videsott – an 16 Mittelschulen in SĂŒdtirol aufgezeichnet wurden. Im Fokus der Untersuchung steht die Lernerfahrung ausgewĂ€hlter SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in der 1. Klasse von vierzehn deutschsprachigen und zwei ladinischen Mittelschulen im Schuljahr 2012 / 13. Die Auswahl der Schulen sowie der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler erfolgte unter BerĂŒcksichtigung der HeterogenitĂ€t soziokultureller und geographischer Kriterien. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher haben in je zwei mal drei Besuchstagen „versucht, so unbefangen wie möglich das Geschehen im Unterricht auf sich wirken zu lassen“ (23) und in Vignettenform festzuhalten.

Der deskriptive Zugang ermöglicht eine bestimmte Erfahrungsperspektive: „Vignetten sind sprachliche Gestaltungen konkreter, sinnlicher Erfahrungen“ (17) – unterstreicht Meyer-Drawe in ihrem Vorwort mit der Überschrift „Über die Kunst des ErzĂ€hlens“. Es handelt sich auch in dem Sinne um eine Kunst, da das phĂ€nomenologische Verfahren der Beschreibung sich als ein wissenschaftskritisches Verfahren versteht: „Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklĂ€ren: diese von Husserl der anfangenden PhĂ€nomenologie gegebene erste Losung, „deskriptive Psychologie“ zu sein, zurĂŒckzugehen auf „die Sachen selbst“, ist zunĂ€chst eine Absage an ‚die‘ Wissenschaft“ [2]. Somit sind die hergestellten Vignetten keine Protokolle, die Ergebnisse des Lernens, Erfolgsmessungen oder Leistungskontrollen verzeichnen, sondern sie beinhalten erzĂ€hlerische Momente, die „an unsere sinnlichen Wahrnehmungen und GefĂŒhle“ (16) appellieren.

Methodisch knĂŒpft das Forschungsprogramm an das phĂ€nomenologische Konzept des Lernens von Meyer-Drawe [3] an, das mit der Kernthese „Lernen als Erfahrung“ eine Hinwendung zu lernseitigen ErfahrungsvollzĂŒgen und leiblichen Aneignungsprozessen fokussiert. Darin wird auch der theoretische Rekurs auf das Denken der Leiblichkeit, wie es vor allem in den phĂ€nomenologischen AnsĂ€tzen bei Merleau-Ponty und Waldenfels zur Entfaltung gelangt, deutlich (24). In diesem VerstĂ€ndnis sind Menschen nur aufgrund der Leiblichkeit erfahrungs- und lernfĂ€hig. Die Vignettenarbeit soll die sinnliche Erfahrung der Lernenden und Lehrenden sowie deren „gelebte Zwischenleiblichkeit“ (17) berĂŒcksichtigen und fĂŒr das Lernen fruchtbar machen.

Nach dem oben genannten Vorwort folgt eine kurze Kontextualisierung des Projekts im aktuellen Lerndiskurs von Peterlini unter der Überschrift „Fenster zum Lernen“, worin der „aufs Neue tradierte Glaube an die Machbarkeit von Lehren“ (22), ferner die vielen neuen Konzepte zur Kompetenzvermittlung, zugunsten der Verwertbarkeit in Kontrast zu der hier avisierten phĂ€nomenologischen Haltung, die „teilweise eine Abwendung vom Lehren bedeutet und sich eines evaluatorischen Blicks bewusst enthĂ€lt“ (23), gesetzt wird.

In den zwei darauf folgenden Hauptteilen des Bandes „Im Scheitern gelingen – im Gelingen scheitern“ (31f) und „LektĂŒre von Vignetten“ (55f) spielen die im Rahmen des Forschungsprojekts entstandenen Beobachtungsprotokolle eine zentrale Rolle. Im ersten Teil werden insgesamt 36 ausgewĂ€hlte Vignetten vorgestellt. Die einzelnen kurzen Texte vermitteln erst einmal einen Eindruck von der „verdichteten Erfahrung in der Vignette“ (13) und konkretisieren damit die eingangs angebrachte theoretische HinfĂŒhrung. Bereits die prĂ€gnanten Titel wie „Verloren sein“, „TĂŒrme bauen, Hintergrundprogramme mitlaufen lassen“, „Sich vertiefen, bis es aufgeht“ oder „Die Perfektion ĂŒberlisten“ weisen einen Überschusscharakter auf. Die ungefĂ€hr halbseitigen Texte stellen Situationen, Wahrnehmungen und Erfahrungen fokussiert aber wie abgeschnitten und fragmentiert dar. Es sind Fragmente einer Lehr-Lernsituation, die auf eine aufmerksame Beobachtung zurĂŒckgefĂŒhrt sind und meistens eine intersubjektive Verflechtung beinhalten. Die Leserin oder der Leser wird zum / zur Beobachtenden und unmittelbar von dem Beschriebenen affiziert. So formuliert Merleau-Ponty treffend: „Weit mehr als ein Mittel ist die Sprache so etwas wie ein Sein, und eben deshalb kann sie uns so gut jemanden gegenwĂ€rtig machen“ [4]. Durch diese VergegenwĂ€rtigung beim Lesen der Vignette „wird unsere leibliche ResponsivitĂ€t angesprochen“ (17); das bedeutet, dass wir z.B. die EnttĂ€uschung, die Scham oder die Unsicherheit der / des Lernenden mitempfinden können. Ferner verweist dieses Empfinden-können auf unsere eigne Erfahrung, die mittels der Vignette zum Vorschein kommt.

Der zweite Hauptteil „LektĂŒre von Vignetten – Reflexive Zugriffe auf ErfahrungsvollzĂŒge des Lernens“ dokumentiert mögliche Lese- und InterpretationszugĂ€nge von 30 ausgewĂ€hlten Vignetten. WĂ€hrend der vorherige Hauptteil die Vignettensammlung vorstellte, steht hier die LektĂŒre im Vordergrund, die beispielhaft den Umgang mit den mehrdeutigen, prĂ€gnanten Texten dokumentiert. So unterstreicht Agostini das Konzept des Vignettenschreibens als das des „Beispiel-Gebens“, die LektĂŒre der Vignetten hingegen richtet sich am „Beispiel-Verstehen“ aus (59). Beim Lesen zeigt sich die in der Vignette dargestellte Situation mit der dort „verkörperten“ Erfahrung; ferner geht die LektĂŒre mit der Erkundung eigener lebensweltlicher Erfahrung einher (61). Die Perspektiven der Selbst- und Fremdwahrnehmung werden durch eine theoretische Fundierung erweitert. Nur so kann „in der nachtrĂ€glichen und perspektivischen Reflexion des Geschehens“ (ebd.) eine neue Be-deutung bzw. ein neuer Sinn hervortreten. Die verschiedenen Lese- und Deutungsperspektiven werden auch in diesem Band dokumentiert, indem fĂŒr einige Vignetten mehrere LektĂŒren vorgestellt werden.

Im Nachwort „MöglichkeitsrĂ€ume lernseits erkunden“ (201) hebt Schratz die in den Vignetten dokumentierte „Vielfalt des Erfahrungsgeschehens“ (203) hervor, wie es sich „lehrseits“ und „lernseits“ des Unterrichts zeigt. Dabei sind Lehren und Lernen miteinander verflochten und verweisen auf eine Verwicklung zwischen Lernenden und Lehrenden. Diese Verwicklung beinhaltet eine Ereignisstruktur und kann im Sinne einer genuinen Lernerfahrung verstanden werden (ebd.). Somit ermöglicht die durch die Vignettenforschung eröffnete Perspektive „eine Neubewertung in der Beziehung von Lernen und Lehren“ (204), worin ein leiblich und lebensweltlich verankertes Subjekt des Lernens in seinen heterogenen BezĂŒgen BerĂŒcksichtigung findet.

Der Band richtet sich in erster Linie an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Bereich der Lern- und Bildungsforschung, die an einem erfahrungsfundierten Lerndiskurs interessiert sind. Der starke Praxisbezug adressiert empirisch arbeitende Erziehungswissenschaftlerinnen sowie Lehreinnen und Lehrer an Schulen und Referendarinnen und Referendare. Die LektĂŒre des Bandes setzt allerdings ein theoretisches Vorwissen hinsichtlich phĂ€nomenologischer Philosophie und Methodik voraus. Damit die phĂ€nomenologischen Vorgehensweisen wie EpochĂ©, Deskription und der RĂŒckgang auf die Erfahrungs- und Lebenswelt in die Perspektive der Praxis ĂŒberfĂŒhrt werden können, bedarf es einer systematischen HinfĂŒhrung. Diese leistet der Forschungsbericht nicht, hingegen werden relevante Begriffe und Themen umkreist. Der Rekurs auf den Begriff der Erfahrung und vor allem eine „Verkörperung“ der Erfahrung in der Vignette bleiben hinsichtlich der methodologischen Schritte undeutlich. Dennoch zeigt die LektĂŒre der Vignetten sehr eindrucksvoll die Verflechtung und Überkreuzung der diversen Perspektiven auf das Lernen als pĂ€dagogische Interaktion im Klassenzimmer, worin ErfahrungsqualitĂ€ten nachvollziehbar werden. Auch durch die Neuausrichtung des Blicks auf die lernseitigen Aspekte im Kontext des Unterrichts und durch die EinfĂŒhrung einer reflexiven Praxis des Beschreibens lĂ€sst sich dieser phĂ€nomenologisch fundierte Zugang positiv bewerten. Ferner wĂ€re es wĂŒnschenswert, dass eine solche (deskriptive) Reflexion der heterogenen Perspektiven und der Erfahrungen nicht nur im Rahmen eines befristeten Forschungsprojekts stattfindet, sondern als alltĂ€gliche Praxis im Kontext des Lernens und Lehrens verstetigt wird.

[1] Vgl. dazu auch den ersten Band der Innsbrucker Vignettenforschung: Schratz, M. / Schwarz, J. F. / Westfall-Greiter, T. (Hg.): Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Innsbruck: Studien Verlag 2012.

[2] Merleau-Ponty, M.: PhÀnomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter 1966, 4.

[3] Vgl. dazu: Meyer-Drawe, K.: Diskurse des Lernens. MĂŒnchen: Fink 2008.

[4] Merleau-Ponty, M.: Zeichen. Hamburg: Felix Meiner 2007, 58.
Anna Orlikowski (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Orlikowski: Rezension von: Baur, Siegfried / Peterlini, Hans Karl (Hg.): An der Seite des Lernens, Erfahrungsprotokolle aus dem Unterricht an SĂŒdtiroler Schulen – ein Forschungsbericht Reihe: Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Band 2. Innsbruck: Studien Verlag 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 1 (Veröffentlicht am 02.02.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978370655579.html