EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Merle Hinrichsen / Merle Hummrich (Hrsg.)
Schule und Transnationalisierung
Erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen
Wiesbaden: Springer VS 2023
(216 S.; ISBN 978-3-658-42104-5; 84,99 EUR)
Schule und Transnationalisierung Die International vergleichende und Interkulturelle Bildungsforschung (inzwischen umbenannt in Bildung und Erziehung in der Migrationsgesellschaft) haben sich in der gemeinsamen DGfE-Sektion SIIVE über Jahrzehnte weitgehend unabhängig voneinander mit inhaltlich eng verknüpften Forschungsthemen befasst. Seit einigen Jahren wird versucht, die Brücke zwischen ihnen über die erziehungswissenschaftliche Adaptation des ursprünglich aus der Soziologie stammenden Konzepts der Transnationalisierung (Pries 1997) zu schlagen [1]. Der hier vorgestellte, am Schnittpunkt erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung und Schulforschung angesiedelte Sammelband mit dem schlichten Titel „Schule und Transnationalisierung. Erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen“, versteht sich als ein Beitrag dazu.

Die Herausgeberinnen Merle Hinrichsen und Merle Hummrich verweisen in ihrer Einleitung darauf, dass der Band aus der 2021 an der Goethe-Universität Frankfurt veranstalteten Online-Tagung „Grenzüberschreitungen und Verflechtungen. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Schule und Transnationalisierung“ hervorgegangen ist. Diese war inspiriert durch das Kooperationsprojekt „GLOBIS. Globale Verantwortung. Internationalisierung und Interkulturalität in der Schule“. Ziel des Projektes war es, auf der Grundlage einer explizit erziehungswissenschaftlich akzentuierten Heuristik von Transnationalisierung zwischen Internationalisierung und Interkulturalität zu vermitteln. Es ging zudem darum zu zeigen, dass es über diese verbindende Perspektive möglich wird, spezifische Ungleichheits- und Machtverhältnisse im Bildungssystem der Migrationsgesellschaft(en) prägnant herauszuarbeiten. Die Beiträge des Bandes teilen dieses Anliegen. Sie verweisen eindrücklich auf Widersprüchlichkeiten, Verstrickungen und Spannungen, die sich daraus ergeben, dass Schule nach wie vor national (regional und lokal) verfasst ist, während sich durch migrations- und weltgesellschaftliche Transformationsprozesse Anforderungen an ein erweitertes Verständnis der Transnationalisierung von Schule in Schulorganisation und -praxis ergeben. Es wird in den theoretisch sowie methodisch-methodologisch durchaus sehr unterschiedlichen Beiträgen deutlich, wie es Schule in den etablierten Strukturen und Orientierungen (nicht) gelingt, dies angemessen zu adressieren, während andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen versuchen, entsprechende Leerstelle zu bearbeiten. In diesem Sinne nehmen die facettenreichen Beiträge überwiegend auf Basis qualitativ empirischer Methoden verschiedene schulentwicklungsrelevante Ebenen und Akteursperspektiven (darunter Eltern, Schüler*innen, Lehrkräfte, Schulleitungen, außerschulische Bildungsorganisationen) mit Bezug auf die Bedeutung von Transnationalisierung in und von Schule in den Blick.

Der Sammelband umfasst neben der Einleitung der Herausgeberinnen, die die folgenden Beiträge theoretisch rahmt und die Strukturlogik der Zusammenstellung der Beiträge nachzeichnet, fünf Teile mit insgesamt 12 Beiträgen.
Teil I zu systematischen und methodischen Perspektiven beginnt mit einem instruktiven theoretisierenden Beitrag von Merle Hummrich und Nicolle Pfaff zu „Schule und Transnationalisierung“. Die Autorinnen pointieren Transnationalisierung „als Klammer (…), in der sich unterschiedliche Vorstellungen und Aushandlungsprozesse von Internationalisierung und Interkulturalität im Sinne eines symbolischen Kampfes um mehr oder weniger exklusive Teilhabe und mehr oder weniger inklusive Zugehörigkeitsoptionen theoretisch systematisieren lassen“ (17). Sie identifizieren verschiedene Phänomene von schulischer Transnationalisierung als Arenen der Privilegierung (etwa Elitenmobilität in internationalen Schulaustauschprogrammen bzw. Besuch Internationaler Schulen) und De-Privilegierung (eigene bzw. familiäre Erfahrungen mit transnationaler Migration) und bieten damit auch einen analytischen Bezugsrahmen für die Einordnung der folgenden Beiträge.

Unter dem Titel „ Transnational Education and the city. Die Rolle von Schulen und anderen Organisationen“ verdeutlicht Javier A. Carnicer am Beispiel einer ersten explorativen Übersicht zu Angeboten in der Stadt Hamburg, inwiefern (nicht nur schulisch vermittelte) transnationale Bildung durch ein komplexes Geflecht von privaten, kommunalen, nationalen und transnationalen Einrichtungen bzw. Organisationen lokal ermöglicht wird. Diese tragen zur Entstehung und Reproduktion transnationaler sozialer Räume bei, die vielfach Angebotslücken im nationalstaatlich organisierten Regelschulsystem decken und dabei einen Gegenpol zur De-Privilegierung in diesem setzen. Die holistische Einbeziehung aller identifizierbaren Angebote unterschiedlicher Akteur*innen im Bildungsbereich kann in ihrer Nicht-Hierarchisierung als besonders innovativ bezeichnet werden.

Simona Szakács-Behling und Catharina I. Keßler widmen sich in ihrem Beitrag über „Das Transnationale im virtuellen Raum“ Online-Darstellungen von schulischen Austauschprogrammen als Ausdruck der Reaktion von Schulen auf den zunehmenden „Internationalisierungsdruck“. Sie identifizieren Schulwebsites als (virtuelle) Räume, in denen Transnationalisierungsprozesse öffentlich beobachtet, analysiert und verglichen werden können. Die Autorinnen unterscheiden dabei zwischen Transnationalisierung als breites gesellschaftliches Phänomen und Internationalisierung als gesteuerte, programmatische Agenda in Bildungsinstitutionen. Ihre Analysen fördern zwei gegenläufige Modi der Ausrichtung von Auslandsprogrammen zutage, die auf die Reproduktion transnationaler soziale Hierarchien in diesen Internationalisierungsaktivitäten von Schulen verweisen.

In Teil II finden sich zwei Beiträge, die internationale Vergleichsperspektiven auf die Bedeutung von Transnationalisierung für Schulen offerieren. Tomoko Kojima gelingt es, in der Gegenüberstellung von je einer Privatschule mit internationaler Ausrichtung in Frankfurt am Main und Tokyo den Einfluss nationaler Rahmenbedingungen und je spezifischer Lernumgebungen auf Bildungsinhalte und Bildungsbeteiligung in internationalen Privatschulen herauszuarbeiten. Während die Privatschulen in Frankfurt am Main zunehmend zahlungskräftige transnationale Migrant*innen anziehen, dienen entsprechende Schulen in Tokyo ausschließlich der Ausbildung von Japaner*innen als zukünftige Eliten für das an globalen wirtschaftlichen Aktivitäten ausgerichtete Japan.

Christine Baur und Adina Küchler-Hendricks widmen sich in ihrem Beitrag den (national) unterschiedlichen Grundlagen für die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Eltern in Schulen am Beispiel der Länder Dänemark, Frankreich und Deutschland. Sie beziehen sich dabei auf das Konzept von Schule als „sicherem Ort“ im Fluchtmigrationskontext. Im Ländervergleich zeigen sich, von den Autorinnen sehr eindrücklich nachgezeichnet, unterschiedlich weit entwickelte Perspektiven nicht nur auf multiprofessionelle Zusammenarbeit in Schule, sondern vor allem auf die Rolle der Zusammenarbeit mit (geflüchteten) Eltern. Deutschland wird in seiner Entwicklung diesbezüglich deutlich hinter Frankreich und Dänemark positioniert.

Der dritte Teil des Bandes nimmt Transnationalisierung im Kontext schulischer Segregation und Differenzverhältnisse in den Blick. Caroline Gröschner bearbeitet aus schulkulturtheoretischer Perspektive die Wahrnehmungen von Grundschulleitungen gegenüber transnationalen Lebensweisen ihrer Schüler*innen sowie die Bedeutsamkeit von Transnationalität für den Schulalltag auf Ebene der Einzelschule. Die Gegenüberstellung von zwei Grundschulen mit unterschiedlich hohem Anteil an Schüler*innen mit sogenanntem Migrationshintergrund fördert bisherige Befunde bestätigende Erkenntnisse zu Lehrer*innenhaltungen gegenüber der Tatsache der Migration zutage. Auch wenn sie die „neue Normalität“ von migrationsbedingter Transnationalität im Kontext der Migrationsgesellschaft durchaus zur Kenntnis nehmen, zeigt sich in beiden Fällen eine gleichermaßen hohe Persistenz von „nationalgeprägten Orientierungen“ (110) bei den Schulleitungen.

Magnus Frank und Thomas Geier befassen sich in ihrem Beitrag mit den „Hizmet-Inspirierten Schulen“ des von der türkischen Gülen-Bewegung ausgehenden transnational agierenden Hizmet-Bildungsnetzwerkes. Auf der Basis von Interviews mit Gründer*innen und Nutzer*innen sowie Zeugnissen der öffentlichen Wahrnehmung dieser privaten Schulgründungen in Deutschland arbeiten sie heraus, dass diese auf regionale migrationsgesellschaftliche Problematiken der Differenzsetzung, Diskriminierung und verweigerten Zugehörigkeit insbesondere im Hinblick auf muslimische Migrant*innen mit Türkeibezug im Regelschulsystem reagieren. Damit kommt ihnen in Deutschland eine andere Funktion zu als in anderen nationalen Kontexten, in denen sie eher Teil eines regionale Eliten adressierenden Privatschulwesens sind.

Teil IV widmet sich dem Teilaspekt Lehrkräfte und Professionalisierung. Merle Hinrichsen präsentiert Teilergebnisse der GLOBIS-Studie zu „Anforderungen an Lehrkräfte im Kontext schulischer Transnationalisierung“. Die Gegenüberstellung der Adressierung von Internationalisierung und Interkulturalität seitens des Lehrpersonals einer reformpädagogischen Schule mit dominanzkulturell positionierter, privilegierter Schüler*innenschaft und einer Sekundarschule mit migrantisch positionierter, de-privilegierter Schüler*innenschaft verdeutlicht, dass Internationalisierung, Interkulturalität und Migration in beiden Fällen als relevante Bezugspunkte pädagogischer Professionalisierung erkannt werden. Ihre Bewertung als bildungs- und entwicklungsförderlich (reformpädagogische Schule) bzw. als zu bewältigende Herausforderung (Sekundarschule) ist jedoch abhängig von den schulkulturellen Möglichkeitsräumen, sozialen Positionierungen und biographischen Erfahrungen der Lehrkräfte. Internationalität bzw. Internationalisierung und Migration werden so nicht zusammengeführt, sondern als Gegensätze wahrgenommen.

Im anschließenden Beitrag spürt Caroline Rau den epistemologischen Überzeugungen von Lehrkräften aus der Perspektive eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs nach Reckwitz nach. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass den Unterrichtsgegenständen geisteswissenschaftlicher Fächer angesichts der Gleichzeitigkeit einer nationalen und transnationalen Bestimmtheit von Schule eine Ambiguität innewohnt. Diese trägt das Potential, migrationsgesellschaftlich bedingte „Vielfalt an Kulturobjektivationen“ (151) und Erinnerungskulturen produktiv als Kontextbedingung unterrichtlichen und schulischen Handelns aufzugreifen. Ihre Studie verweist sowohl auf das damit verbundene Risiko einer Essentialisierung sozialräumlicher wie „transnationaler Kollektivitäten“ (150) durch Lehrkräfte als auch auf ihren Professionalisierungsbedarf im Hinblick auf selbstreflexive Differenzsensibilität und Diskriminierungskritik.

Hier will Anke Redeckers Beitrag ansetzen, der unter Bezug auf das Konzept Transkulturalität nach Wolfgang Welsch Reflexionsübungen für Lehrkräfte zur Sensibilisierung gegenüber eigenen Vorurteilen präsentiert. Die Bearbeitung des angeführten Fallbeispiels zu einer „migrantischen Jugendgang“, in der „parallelgesellschaftliche Bestrebungen verfolgt“ würden (170), läuft allerdings in der affirmativen Darstellung des Falls durch die Autorin Gefahr, bei seiner Nutzung in Fortbildungen ebenjene Reifizierung in Lehrer*inneneinstellungen gegenüber „migrantischen Jugendlichen“ zu befördern, die eigentlich einer reflexiven Bearbeitung zugeführt werden sollen.

Unter dem Schwerpunkt „Schule und transnationale Bildungsräume“ in Teil IV befassen sich Charlotte Röhner und Laura Heiker migrationspädagogisch und unter Rückgriff auf einen raumtheoretischen Ansatz mit transnationalen Lebens- und Bildungswelten geflüchteter Jugendlicher und ihrer Nutzung von Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Kommunikationstechnologie. Die Befunde zum Raumempfinden und zur Raumaneignung von geflüchteten Jugendlichen und Kindern im virtuellen transnationalen Raum verweisen darauf, dass sich ihnen damit eine Möglichkeit bietet, selbständig und selbstbestimmt emotionale Nähe, Loyalität, plurilokale soziale Beziehungen und Verflechtungen unter den Bedingungen raum-zeitlicher Distanz aufrecht erhalten zu können – eine wichtige Rahmenbedingung für die Umsetzung selbstwirksamer Bildungsprozesse.

Im letzten Beitrag des Bandes zeigt Anita Rotter auf, wie die „postmigrantische Generation“ von Jugendlichen in Österreich (gemeint sind die Enkelkinder der „Gastarbeiter*innen“ der 1960er bis 1970er Jahre), über die Ressource ihrer transnationalen Familiennetzwerke in Eigenregie ihre spezifischen Möglichkeitsräume für transnationale Bildungserfahrungen in Schule und Universität nutzt. Damit stellt der Beitrag eine weiterführende Ergänzung der Befunde zu Migrant*innenorganisationen als Bereitsteller*innen transnationaler Bildungsräume bei Carnicer im gleichen Band dar.

Der Band liefert in der Summe seiner vielfach theoretisch wie methodologisch voraussetzungsvollen Beiträge vor allem für die wissenschaftliche Betrachtung des Feldes weiterführende Impulse. Diese sind insbesondere im Hinblick darauf inspirierend, als sie die unterschiedlichen Bearbeitungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten einer eigenständigen erziehungswissenschaftlichen Transnationalismus- und Transnationalisierungsforschung in ihrer Verhältnisbestimmung zu Internationalisierung und Inter- bzw. Transkulturalität aufzeigen.

[1] Pries, Ludger (1997): Neue Migration im transnationalen Raum, in: Pries, Ludger (Hrsg.): Transnationale Migration, Baden-Baden, Nomos-Verlag, S. 15-46.
Yasemin KarakaĹźoÄźlu (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Yasemin KarakaĹźoÄźlu: Rezension von: Merle, Hinrichsen, / Merle, Hummrich, (Hg.): Schule und Transnationalisierung, Erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen. Wiesbaden: Springer VS 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365842104.html