EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Martin Rothland
Disziplin oder Profession: Was ist SchulpÀdagogik?
Wiesbaden: Springer VS 2021
(156 S.; ISBN 978-3-658-35708-5; 22,99 EUR)
Disziplin oder Profession: Was ist SchulpĂ€dagogik? SchulpĂ€dagogik als Wissenschaftsdisziplin in der Lehrer*innenbildung vermochte sich vor allem in den 1960er Jahren an den PĂ€dagogischen Hochschulen zu etablieren und erfuhr mit der Eingliederung der PĂ€dagogischen Hochschulen in UniversitĂ€ten eine wissenschaftliche Aufwertung. Inwiefern die SchulpĂ€dagogik aber den Kriterien fĂŒr eine wissenschaftliche Disziplin genĂŒgt, ist Gegenstand eines lĂ€nger wĂ€hrenden Diskurses, die den Ausgangspunkt der Publikation bildet: Die seither gefĂŒhrte Diskussion um Gestalt, Aufgaben, AnsprĂŒche und Leistungen der SchulpĂ€dagogik bringt fĂŒr Martin Rothland mehr kritische Fragen als tragfĂ€hige Antworten hervor, die er in seiner 2021 erschienenen Monografie „Disziplin oder Profession: Was ist SchulpĂ€dagogik?“ durchleuchtet: Zur Beantwortung seiner Titelfrage setzt er nicht an den Lehrinhalten und Forschungsthemen an (auch wenn diese im dritten Kapitel gestreift werden), „sondern an den ‚Beschreibungen‘ von SchulpĂ€dagogik (
) und der kritischen ‚Reflexion der Voraussetzungen‘, die diesen Beschreibungen notwendigerweise zu Grunde liegen“ (3). Rothland dekonstruiert den Gegenstand penibel in drei Kapiteln und legt anschließend einen Vorschlag zur Lösung des Problems der fehlenden kognitiven SpezifitĂ€t der SchulpĂ€dagogik vor (Kapitel 4).

Im ersten Kapitel ‚Was ist SchulpĂ€dagogik?‘ begrĂŒndet der Autor seine Leitfrage. Die bisherigen und zahlreichen Antworten in EinfĂŒhrungen, Lehr- und StudienbĂŒchern, Lexikon- und Handbuchartikeln scheinen ihm nicht zureichend und eher „oberflĂ€chlich Konsens stiftende Beschreibungen“ (2), die dem Autor zufolge weder wissenschaftlich ĂŒberzeugend noch empirisch gut begrĂŒndet sind.

Im zweiten Kapitel fragt er nach den „im neueren Diskurs gelĂ€ufige[n] Bestimmungen“ (33) von SchulpĂ€dagogik und stellt die Frage, ob sie als wissenschaftliche Sub-, Teil- oder Bereichsdisziplin beschrieben werden kann. In den tiefen AusfĂŒhrungen, deren LektĂŒre lohnt, die aber hier nicht wiedergegeben werden können, arbeitet Rothland heraus, dass sich die SchulpĂ€dagogik als Profession entwerfe und damit die Anforderungen an eine wissenschaftliche Disziplin verfehle. SchulpĂ€dagogik konstituiere sich demgemĂ€ĂŸ in der selbst gegebenen Aufgabe, fĂŒr die Praxis nĂŒtzlich zu sein. In der Verquickung von Disziplin und Profession und von Theorie und Praxis sieht der Autor das Alleinstellungsmerkmal der SchulpĂ€dagogik gegeben und konzediert, dass sie damit nicht anschlussfĂ€hig an das Wissenschaftssystem sei, weil sie sich außerhalb des Wissenschaftssystems – in Praxis und Profession – verankere.

Das dritte Kapitel diskutiert die Fragestellung des Titels mit Bezug auf das Personal in der SchulpĂ€dagogik und ihren Themen und GegenstĂ€nden. Zuerst greift Rothland das Schulpraxiserfordernis auf, das seit 2004 zwar nicht mehr im Hochschulrahmengesetz des Bundes steht, bislang aber nur in Nordrhein-Westfalen gestrichen wurde. Er schließt nach informativen AusfĂŒhrungen die Frage an, ob dieses Erfordernis noch Sinn macht, oder eher dazu fĂŒhrt, die Lehrer:innenbildung an UniversitĂ€ten und PĂ€dagogischen Hochschulen ihres wissenschaftlichen Anspruchs zu berauben und sie schon dadurch zu einer „Meisterlehre“ (100) zu degradieren. Der zweite Teil des Kapitels wendet sich – und dies recht knapp wie eingangs skizziert – den inhaltlichen GegenstĂ€nden zu: Womit soll sich die SchulpĂ€dagogik befassen? Hier referiert der Autor EntwĂŒrfe von Dietrich Benner, Rudolf Keck und Dieter Lenzen, sieht aber letztlich vor dem Hintergrund der ausgewiesenen Breite, in welcher eine Abgrenzung zu bildungssoziologischen und pĂ€dagogisch-psychologischen ZugĂ€ngen schwerlich möglich ist, seine Kernthese bestĂ€tigt: „Über die angefĂŒhrten Gegenstandsbereiche scheint die subdisziplinspezifische Sichtweise (
) nicht fassbar, zumal die Bestimmungen in ihrer Vielzahl, HeterogenitĂ€t und bezogen auf ihren Umfang zuweilen beliebig erscheinen“ (108).

Insgesamt wird in den Ă€ußerst literaturfundierten DurchgĂ€ngen der beiden Hauptkapitel des Bestimmungsversuchs von Rothland herausgearbeitet, dass die SchulpĂ€dagogik erstens den Anforderungen an eine wissenschaftliche ‚Disziplin‘ kaum entsprĂ€che und dies weder unter Rekurs auf disziplinspezifische Merkmale noch im Hinblick auf ihre GegenstĂ€nde, zweitens sie nur schwerlich als ‚Vermittlungs- und Integrationswissenschaft angesehen werden kann‘, weil sie sich eher vom Bildungsauftrag der Schule (also der Profession) her konstituiert und drittens schon gar nicht als ‚Berufswissenschaft‘ der LehrkrĂ€fte fungieren könne. Im Kern fehlt ihr die kognitive SpezifitĂ€t, die eine Disziplin konstituiert.

Kam die bisherige Argumentation so einer durchaus wohlbegrĂŒndeten und scharfen Dekonstruktion der SchulpĂ€dagogik gleich, so wartet Rothland im vierten Kapitel mit einem ĂŒberraschenden Wurf auf: Er legt selbst einen Vorschlag zu einer möglichen kognitiven SpezifitĂ€t vor und sieht diese im Zusammenspiel von Allgemeiner Didaktik und Unterrichtsforschung gegeben (die auch zugleich die Denomination seiner Professur in MĂŒnster darstellen und die durchaus in einem konkurrierenden SpannungsverhĂ€ltnis stehen). Diese Gedankenfigur begrĂŒndet er nachfolgend umfassend. AusfĂŒhrliche VerhĂ€ltnisbestimmungen mĂŒnden in die Frage, wie beide – die Allgemeine Didaktik und empirische Unterrichtsforschung – als Teilgebiete der SchulpĂ€dagogik auszuweisen seien? Er erkennt fĂŒr die Allgemeine Didaktik zu ihrem Theorie- und Empirieproblem zusĂ€tzlich auch ein Reflexionsproblem dahingehend, als sie die Voraussetzungen des Unterrichts nicht zureichend betrachtet. Gerade aber das böte die Möglichkeit, die Allgemeine Didaktik als Reflexionsinstanz zu konzeptualisieren und sie in der Funktion von Relativierung und Kontrolle einzubinden. Er argumentiert: „Im Zusammenspiel von Allgemeiner Didaktik und Unterrichtsforschung im Sinne der schulpĂ€dagogischen Kombination der Perspektiven auf good und effective teaching könnte die Grenze der empirisch-quantitativen Unterrichtsforschung ĂŒberwunden werden (
)“ (142), was er zusĂ€tzlich mit einem grafischen Modell unterstreicht. Damit ist fĂŒr ihn die kognitive SpezifitĂ€t gefunden: Spezifisch ‚schulpĂ€dagogisch‘, so die Quintessenz der vorgestellten Überlegungen, wird Unterrichtsforschung durch eine schultheoretische Rahmung und in Kombination mit den fĂŒr schulischen Unterricht konstitutiven, unhintergehbaren normativen Problemstellungen der Allgemeinen Didaktik.

Rothlands Buch ist ein literaturfundiertes und argumentativ tiefes Buches geworden, das nicht nur schonungslos die fehlende kognitive SpezifitĂ€t der SchulpĂ€dagogik offenlegt und damit ihre Konstitution als Wissenschaftsdisziplin in Frage stellt, sondern – und das ist Ă€ußerst bemerkenswert – darĂŒber hinausgeht und in der Verbindung von Allgemeiner Didaktik und Empirischer Unterrichtsforschung einen begrĂŒndeten Vorschlag fĂŒr die ausgewiesene Leerstelle auf der Unterrichtsebene unterbreitet. Die AusfĂŒhrungen stellen eine laterale BeschĂ€ftigung mit der Diskussion dar und werden deshalb zurecht vom Autor als Beitrag zur Grundlagenforschung verstanden, die es ermöglichen, die Diskussion um die Konstitution der Wissenschaftsdisziplin SchulpĂ€dagogik auf einer theoretisch und empirisch höheren Ebene zu fĂŒhren, die ĂŒber den oberflĂ€chigen Konsens weit hinausreichen. Die sehr grĂŒndliche Argumentation legt den Finger auf offene Wunden und stellt auch dem Rezensenten, der hier nicht als Experte, sondern nur als Interessent urteilen kann, manche Denkaufgabe. Die Publikation sei deshalb insbesondere allen Lehrstuhlinhaber:innen der SchulpĂ€dagogik zur LektĂŒre wĂ€rmstens empfohlen – auch als LektĂŒre fĂŒr die vielfach auszubringenden Vorlesungen ‚EinfĂŒhrung in die SchulpĂ€dagogik‘.
Wenngleich der Auffassung des Autors aufgrund der vorgebrachten Argumente gut zu folgen ist, bleibt zu fragen, ob die in den AusfĂŒhrungen vertretene Konfrontationsstellung zur Praxis nicht zu einem Selbstentwurf der SchulpĂ€dagogik fĂŒhrt, welche gleichsam die Gefahr in sich birgt, die völlige Delegitimierung im Elfenbeinturm der Wissenschaft zu erfahren, weil ihr auf die Profession zielender Beitrag fĂŒr angehende Lehrer:innen kaum mehr ersichtlich scheint.

Zum tieferen VerstĂ€ndnis der Argumentation sind dem Buch zwölf wichtige Exkurse beigegeben, die auf blauem Hintergrund abgedruckt sind (z.B. Gegenstimmen zur Erfolgsgeschichte, Disziplin und Profession, Mythos wissenschaftlicher RationalitĂ€t u.a.m.). Sie geben den geneigten Leser:innen Ă€ußerst wichtige Hintergrundinformationen zu den Kontexten und bisherigen Positionen, bergen aber zugleich die Gefahr, die fundierten Argumentationslinien etwas aus dem Blick zu verlieren. Hilfreich wĂ€re es deshalb gewesen, die Kernaussagen der drei aufeinander aufbauenden Kapitel an ihrem Ende nochmals deutlicher zu bĂŒndeln und ohne Rekurs auf weitere Literatur herauszuheben.
Albrecht Wacker (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Albrecht Wacker: Rezension von: Rothland, Martin: Disziplin oder Profession, Was ist SchulpĂ€dagogik?. Wiesbaden: Springer VS 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365835708.html