Vor dem Hintergrund bĂŒrgerlich-standardisierter Denkarten treten Erziehung und Bildung als pĂ€dagogische Grundkonfigurationen der leistungsorientierten Gesellschaft in Erscheinung und ergeben sich aus der Notwendigkeit einer pĂ€dagogischen Rahmung subjektspezifischer Freiheitspotenziale. Bei nĂ€herer Betrachtung der kontrastierenden Behandlung des Freiheitsbegriffs eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen Erziehung einerseits, die eine Eingliederung des Subjekts in die vorhandene symbolische Ordnung und infolgedessen eine Objektwerdung des Subjekts fokussiert, und Bildung andererseits, die eine emanzipative Entfaltung des Freiheitspotenzials des Subjekts und eine gleichsam symbiotische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt intendiert. Die Abkehr von erziehungstheoretischen Denkmustern, die sich im Wesentlichen im Zuge eines kritisch-reflexiven Zweifelns an bislang unhinterfragten gesellschaftlichen Konventionen und Normen manifestiert, sowie eine daraus folgende erkenntnisoffene Haltung rĂŒcken die Bedeutsamkeit einer eingehenden Aufarbeitung ethischer Aspekte pĂ€dagogischer Praxis in den Mittelpunkt.
Auf dem Weg hin zu der Herausarbeitung zentraler Bedingungen einer Bildungsethik widmet sich David Kergel zunĂ€chst dem Versuch einer Klarlegung und Analyse derjenigen Begrifflichkeiten, die fĂŒr die weitere Vorgehensweise von substanzieller Bedeutung sind. Mit dem Aufgreifen der Grundideen bĂŒrgerlicher Philosophie, die sich als Folge der Genese einer bĂŒrgerlichen Gesellschaft um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts und in den Schriften zahlreicher Vertreter*innen des Deutschen Idealismus niederschlugen, zeichnet der Autor die Annahme einer vorbĂŒrgerlichen NatĂŒrlichkeit des Subjekts nach, das aufgrund seiner SelbstbehauptungsfĂ€higkeit und Interaktion mit der Welt zur autonomen WissenserschlieĂung imstande ist. Die Ambivalenz des bĂŒrgerlichen Freiheitsbegriffs, die sich im Recht auf Selbstbestimmung einerseits und der Notwendigkeit der Freiheitsbegrenzung andererseits manifestiert, und die damit eng verbundenen Vorstellungen von Erziehung und Bildung, richten den Blick auf das bereits benannte SpannungsverhĂ€ltnis, welches Kergel in der Folge als Quelle fĂŒr die Ausformulierung einer zeitgemĂ€Ăen Bildungsethik dient.
In der Absicht, bildungstheoretische Termini in die empirische Forschung einzubetten, um in der Folge diametrale GegenĂŒberstellungen von Bildung und Erziehung zu ĂŒberwinden sowie eine AnnĂ€herung an die bildungsethische Praxis zu gewĂ€hrleisten, greift der Autor auf die durch Wilhelm von Humboldt festgeschriebenen pĂ€dagogischen Konzepte Kraft und Freiheit als Vorbedingungen von Bildung als natĂŒrlicher, fortwĂ€hrender Prozess der Selbst-Welt-Interaktion zurĂŒck. Um eine Operationalisierung der Humboldtâschen Bildungsmerkmale als Grundlage darauffolgender AusfĂŒhrungen vorzunehmen, rekurriert der Autor auf Vertreter*innen der integrativen Bildungsforschung als eine Disziplin, die eine Verquickung bildungstheoretischer Reflexionen mit sozialwissenschaftlich-empirischen Forschungsstrategien fokussiert. Mit den, aus der integrativen Bildungsforschung stammenden Termini âKonzept der explorativen Neugierâ und âSelbstwirksamkeitserwartungâ leitet der Autor schlieĂlich eine neue Phase des Begreifens von Bildungserfahrungen als infinites Kontinuum eines Subjekt-Welt-Wechselspiels ein.
Unter Verwendung des Begriffs âBildungslernenâ subsummiert der Autor die Wechselwirkung der Bildungsmerkmale âexplorative Neugierâ (Kraft) als Bezeichnung der, dem Subjekt innewohnenden erkenntnisoffenen Haltung und âSelbstwirksamkeitserwartungâ (Freiheit) als Ausdruck des subjektspezifischen, uneingeschrĂ€nkten Handlungspotenzials. Unter RĂŒckgriff auf Friedrich Nietzsches Rede âVon den drei Verwandlungenâ, im Rahmen dessen sich die Figur des âKamelsâ als kritikloses, den HerrschaftsverhĂ€ltnissen unterworfenes Subjekt durch den Prozess der kritisch-reflexiven Abgrenzung in die Gestalt des âLöwenâ als rebellierendes, sich gegen konventionelle Taxonomien symbolischer Ordnung auflehnendes Subjekt verwandelt, gelangt David Kergel in den Bereich einer âRebellenethikâ. Im Zuge der Ausformulierung der Denkfigur der âRebellenethikâ und unter Berufung auf SĂžren Kierkegaards âEntweder Oderâ sowie Albert Camusâ âDer Mensch in der Revolteâ gelingt es dem Autor einmal mehr, die Relevanz der Wahl-, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit sowie der Loslösung von etablierten AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnissen und standardisierten Kategorien als Eigenarten des ethischen Individuums herauszustreichen.
Die antiautoritĂ€re Erziehungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre als Gegenmodell unhinterfragter autoritĂ€rer Strukturen und eine daraus resultierende Eröffnung neuer Denkmöglichkeiten bilden die Grundlagen eines zeitgemĂ€Ăen VerstĂ€ndnisses von Bildung als erkenntnisoffener, unreglementierter Prozess der kontinuierlichen Wissensgenerierung. Hinzu kommt, dass sich sowohl Bildung als auch Bildungsethik als Folge sozialer Dynamiken entfalten. Exemplarisch lĂ€sst sich dies anhand des kritischen Infrage Stellens eigener Reflexionen in Dialogen und Polylogen als Chance der MultiperspektivitĂ€t, den durch Pjotr Alexejewitsch Kropotkin empirisch gestĂŒtzten âGeselligkeitstriebâ des Menschen und der neurowissenschaftlich fundierten These einer angeborenen FĂ€higkeit des MitfĂŒhlens beziehungsweise -leidens zum Ausdruck bringen. Dass dem Prinzip eines prosozialen Miteinanders als Voraussetzung kooperativer Lernprozesse die Nichtetikettierung anderer auf Basis standardisierter Kategorien vorausgehen muss, zeigt David Kergel unter Bezugnahme Emmanuel Levinasâ ethischer Denkfigur des âAnderenâ. Ausgehend von den Ăberlegungen Levinasâ zieht der Autor die Schlussfolgerung der Notwendigkeit einer unendlichen Verantwortung und ethischen Verpflichtung gegenĂŒber anderen, die sich aus dem â von sozialen und kategorialen Vorgaben symbolischer Ordnung unbeeinflussten apriorischen und unmittelbaren â Erleben des GegenĂŒbers erschlieĂt. Im Sinne einer Transponierung der Konzeptionen Emmanuel Levinasâ in die SphĂ€re der modernen Queer-Bewegung verweist der Autor schlieĂlich auf das Potenzial von Aushandlungsprozessen der GeschlechtsidentitĂ€ten, die durch kritisches Infrage stellen fixierter Kodierungsdynamiken und explorative Neugier bedingt sind.
Wenngleich der Band im Sinne einer hermeneutischen Herangehensweise die Auslegung des Bildungsbegriffs unter Bezugnahme auf relevante historische Konzeptionen in den Mittelpunkt stellt, werden deskriptive Analysen erzieherischer Praxis sowie potenzielle Herausforderungen einer Bildungsethik demgegenĂŒber als zweitrangig behandelt. Vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen und eines damit einhergehenden Wertepluralismus leistet die durch David Kergel vollzogene Abhandlung dennoch einen wichtigen Beitrag zur Anbahnung einer zeitgemĂ€Ăen ethischen Perspektivierung von Bildung als infiniter Prozess der erkenntnisoffenen, autonomen, prosozialen und kritisch-reflexiven Wissensaneignung.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Bildungsethik
Zur normativen Dimension pÀdagogischer Praxis
Wiesbaden: Springer VS 2021
(139 S.; ISBN 978-3-658-33154-2; 61,67 EUR)
Flora Woltran (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Flora Woltran: Rezension von: Kergel, David: Bildungsethik, Zur normativen Dimension pĂ€dagogischer Praxis. Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365833154.html
Flora Woltran: Rezension von: Kergel, David: Bildungsethik, Zur normativen Dimension pĂ€dagogischer Praxis. Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365833154.html