
Angesichts dieses Desiderats greift Astrid Ebner-Zarl auf das Konzept der „differenziellen Zeitgenossenschaft“ von Heinz Hengst [1, 2] zurück, mit dem der Fokus auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen gelegt wird und nicht auf den Vergleich von Kindern unterschiedlicher Generationen. Ihre Ausführungen münden schließlich in der „Differenzierung zwischen Kindheit und Kindsein, das Denken im Plural (Kindheiten, verschiedene Formen des Kindseins, Entgrenzungen, Begrenzungen), aber auch die Offenheit, (sic!) über den Entgrenzungsbegriff und über Kindheit hinaus, (sic!) differenzielle Zeitgenoss*innenschaft in den Blick zu nehmen bzw. die enge Verwobenheit von Kindheit/Kindsein mit der allgemeinen Verfasstheit der Gesellschaft zu bedenken.“ (150).
Letztere nimmt sie im dritten Kapitel anhand von vier Dimensionen in den Blick, die auch für ihre Medienanalyse zentrale Leitplanken bilden: Mediatisierung, Sexualisierung, Kommerzialisierung sowie Leistungs- und Talentförderung und daraus resultierender Druck. In differenzierter Weise stellt sie den Forschungsstand zu diesen vier Themenfeldern dar und reflektiert diesen auf das Konzept der Entgrenzung, wobei sie zu der Einschätzung gelangt, dass aus soziologischer Perspektive ein Konzept der Entgrenzung nur rudimentär möglich sei (358).
Für die Analyse der ausgewählten Sendungen ergibt sich, dass Astrid Ebner-Zarl die dort repräsentierten Bilder von Kindheit oder Kindsein nicht für sich interpretiert, sondern die Kinder als Darstellende im Vergleich zu den erwachsenen Moderator*innen und Juror*innen betrachtet. Zur Beantwortung der oben genannten Forschungsfragen wählt sie Casting Shows als Analysegegenstand, konkret die Beispiele ‚Kiddy Contest‘ und ‚The Voice Kids‘. Bei der Sendung ‚Kiddy Contest‘ handelt es sich um eine österreichische Musik-Casting Show mit 25-jähriger Tradition, in der Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren gegeneinander antreten. ‚The Voice Kids‘ ist ein ähnliches Sendungsformat, das seit 2014 in Deutschland ausgestrahlt wird. Drei Folgen des ‚Kiddy Contests‘ (2015, 2016, 2017) sowie eine Staffel von ‚The Voice Kids‘ (2017) wurden eingehender analysiert. Die leitfadengestützte Inhaltsanalyse orientierte sich zum einen an der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring [3] und Schreier [4] und zum anderen an dem medienanalytischen Vorgehen von Paus-Haase [5], Bause [6] sowie Mikos [7]. Die von der Autorin adaptierte Vorgehensweise, die auf verschiedenen Formen des Codierens basieren (z. B. deskribierendes, notierendes, transkribierendes, kontextualisierendes sowie konkludierendes Codieren) wird ausführlich dargelegt und unterstreicht die Komplexität der Analyse. Astrid Ebner-Zarl nimmt alle Bestandteile der Sendungen in den Blick, einschließlich der dargebotenen und zum Teil abgewandelten Songs. Die Ausführungen zur (langwierigen) Entwicklung des Instruments, die auch schließlich zu der Entscheidung geführt haben, das Material manuell und nicht softwaregestützt zu codieren, mögen für einige Leser*innen mitunter sehr viel Raum einnehmen; für diejenigen, die sich mit ähnlichen praktischen Fragen qualitativer Inhaltsanalyse befassen, können diese – auch mit Blick auf die Reflektion des Vorgehens in Kapitel 6 – durchaus hilfreich sein und einige Umwege ersparen.
In Kapitel fünf werden auf 254 Seiten die Ergebnisse der Medienanalyse vorgestellt und auf die obengenannten vier zentralen Dimensionen reflektiert. Der Autorin zufolge spiegeln sich die Dimensionen Kommerzialisierung und Frühförderung/Leistungsorientierung in beiden Sendungen am stärksten wider. Mediatisierung zeigt sich am deutlichsten an der direkten und indirekten Einbindung von Social Media (z. B. Einbindung von Social Media Stars in die Show, eigenen begleitenden Social-Media-Kanälen etc.). Formen der Sexualisierung finden sich indes vergleichsweise wenig und eher in Bezug auf Mädchen.
Insgesamt – so schlussfolgert die Autorin in Kapitel sieben – lassen sich in den analysierten Sendungen Konstruktionen verschiedenster Kindheitsbilder identifizieren, z. B. der/die kompetente Selbstvermarkter*in, der/die Konsument*in, der/die professionelle Sänger*in bzw. der potenzielle Star, das erfahrene oder das sorgsam gestylte Kind (698). Gleichzeitig weisen diese Bilder vom Kind bzw. Kindsein viele Überschneidungen mit den Bildern von Erwachsenen auf (z.B. über Liedauswahl, Styling, professionelle Selbstdarstellung etc.). Auch im Hinblick auf die untersuchten Genderunterschiede stellt die Autorin eine „Koexistenz aus Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Geschlechtergruppen, aber auch aus Überwindung und Reproduktion von Geschlechterstereotypen“ (706) fest. Die Antwort auf die Frage, inwieweit sich das Konzept der Entgrenzung zur Beschreibung von Gegenwartskindheit eignet, mutet etwas ausweichend an, wenn die Autorin auf das Konzept der differenziellen Zeitgenoss*innenschaft verweist und als Antwort die Hypothese postuliert, dass beide Konzepte ineinandergreifen würden: „ZeitgenossInnenschaft ist zunächst die gemeinsame Grundlage, in die alle Gesellschaftsmitglieder zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft eingebettet sind. ZeitgenossInnenschaft bringt per se mit sich, dass in vielen Hinsichten keine Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen existieren, zumindest keine Grenzen grundlegender Natur. Aus dieser ZeitgenossInnenschaft kann sich in manchen Hinsichten auch spezifische Entgrenzung von Kindheit ergeben, z. B. im Zeitvergleich […] oder im entwicklungspsychologischen Sinne […].“ (712). Damit ist jedoch nicht das von der Autorin selbst identifizierte Problem gelöst, dass Grenzen bekannt sein müssen, um Entgrenzungen erfassen zu können. Auch zeigt sich die Autorin gegenüber den Möglichkeiten einer systematischen Analyse des Verhältnisses zwischen Zeitgenoss*innenschaft und Entgrenzung angesichts fehlender Kontextinformationen und Befunde eher skeptisch. Stattdessen verweist sie auf mögliche Anschlussforschungen in Form von kulturellen Vergleichen und Rezeptionsstudien (722). Den Abschluss der Arbeit bilden Empfehlungen für die Überarbeitung der beiden untersuchten Sendungsformate, wobei die Autorin grundsätzlich in Frage stellt, inwieweit es medial ausgetragene Talentwettbewerbe für Kinder überhaupt braucht (723).
Mit ihrer Arbeit hat Astrid Ebner-Zarl eine (ge-)wichtige Grundlage geschaffen, die all jenen ans Herz zu legen ist, die sich mit der Frage befassen, wie Kinder und Jugendliche in mediatisierten Lebenswelten aufwachsen und was Kindheit bzw. Kindsein heute bedeutet. Auch denjenigen, die sich mit der qualitativen Analyse audiovisueller Medieninhalte beschäftigen, finden in dem Band hilfreiche methodische Anregungen und Reflektionen. Insofern lohnt es sich in mehrfacher Hinsicht, einen Blick in dieses umfassende Werk zu werfen und sich mit den theoretischen und methodischen Herausforderungen und Grenzen gegenwärtiger Kindheits- und Medienforschung auseinanderzusetzen.
[1] Hengst, H. (2005). Kindheitsforschung, sozialer Wandel, Zeitgenossenschaft. In H. Hengst & H. Zeiher (Hrsg.), Kindheit soziologisch (S. 245-265). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
[2] Hengst, H. (2013). Kindheit im 21. Jahrhundert: Differenzielle Zeitgenossenschaft. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
[3] Mayring, P. (2008). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 10. Aufl., Weinheim/Basel: Beltz
[4] Schreier, M. (2014). Varianten qualitativer Inhaltsanalyse: Ein Wegweiser im Dickicht der Begrifflichkeiten. Forum: Qualitative Sozialforschung/Social Research, 15(1), 1-27.
[5] Paus-Haase, I. (1992). Neue Helden für die Kleinen. Das (un)heimliche Kinderprogramm des Fernsehens. Münster/Hamburg: LIT Verlag, I–VII.
[6] Bause, U., Rullmann, A. & Welke, O. (1992). Von Märchen und anderen Geschichten. Zur theoretischen Basis und Methode der Analyse. In I. Paus-Haase (Hrsg.), Neue Helden für die Kleinen. Das (un)heimliche Kinderprogramm des Fernsehens (S. 57-94). Münster/Hamburg: LIT Verlag.
[7] Mikos, L. (2008). Film- und Fernsehanalyse. 2. Aufl., Konstanz: UVK.