In den letzten Jahren haben konfliktuelle Diskurse um Zugehörigkeit und antagonistische gesellschaftspolitische Verhandlungen von Migration zugenommen. Seit dem sogenannten âSommer der Migrationâ [1] lassen sich Neuartikulationen von unterschiedlichen Rassismen wahrnehmen, die mit vielfĂ€ltigen Restriktionen und Zumutungen fĂŒr migrantisierte Menschen und Rufen nach effizienteren IntegrationsmaĂnahmen einhergehen. Aylin Karabuluts Dissertation problematisiert das âIntegrationsdispositiv als Dethematisierungsstrategie von strukturellem Rassimusâ (1). Die Autorin geht davon aus, dass sowohl politische als auch wissenschaftliche ZugĂ€nge zu Migration das so genannte Integrationsimperativ [2] zum Inhalt hĂ€tten, womit eine unhinterfragte weiĂe mehrheitsgesellschaftliche Perspektive auf âdie Anderenâ und an sie adressierte Integrationsforderungen einher gehen (ebd.). Letztere mĂŒssen insbesondere im Kontext pĂ€dagogischer Institutionen problematisiert werden, da an SchĂŒler*innen gerichtete Integrationsaufforderungen eine prĂ€gende sozialisierende Funktion in ihren Biographien einnehmen (8). Schule als Ort pĂ€dagogischen Handelns â(fungiert) als staatlich institutionalisiertes Instrument zur Wahrung mehrheitsgesellschaftlicher Privilegienâ (9) und ist als solche auch zu analysieren. Ausgehend von diesen Beobachtungen lĂ€sst sich Karabuluts Perspektive an der Schnittstelle von kritischer Migrationsforschung und Bildungsforschung verorten.
In Kapitel 1 werden gesellschaftliche und erziehungswissenschaftliche Dimensionen in Bezug auf Rassismuserfahrungen sowie Ungleichheitsmechanismen im Bildungssystem miteinander verknĂŒpft. Karabulut interessiert sich insbesondere fĂŒr Erfahrungen und Umgangsstrategien von SchuÌler*innen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind und setzt diese als ârassismusrelevante(s) Erfahrungswissen der SchuÌler*innenâ (8) in ihrer Untersuchung zentral. Sie arbeitet ĂŒber die Sichtbarmachung dieses Erfahrungswissen migrantisierter SchĂŒler*innen zudem heraus, wie Rassismuserfahrungen mit strukturellen Ungleichheiten verschrĂ€nkt sind. In der ZusammenfĂŒhrung dieser beiden Dimensionen schlieĂt sie, wie noch deutlich gemacht wird, eine gravierende LĂŒcke in der deutschsprachigen bildungswissenschaftlichen Forschung (8).
In Kapitel 2 werden die theoretischen Voraussetzungen gelegt: Karabulut stellt vor dem Hintergrund einer intersektionalen Perspektive GrundzĂŒge institutioneller Diskriminierungserscheinungen dar und erlĂ€utert Rassismus als spezifische Form von Diskriminierung. Es wird neben der Perspektive von Rassismus als struktureller Ungleichheitsdimension auf die rassismusrelevante âwir-ihrâ Konstruktion entlang natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitslinien verwiesen und die Logik des sogenannten âkulturellen Rassismusâ [3] herausgestellt. Karabulut beobachtet in gesellschaftlichen als auch wissenschaftlichen Kontexten eine unzureichende Auseinandersetzung mit dem Begriff race (44) und sieht als Folge dieser defizitĂ€ren BeschĂ€ftigung Relativierungs- und Verleugnungsmechanismen von Rassismus, die benachteiligend auf Betroffene wirken, wĂ€hrenddessen seine Artikulation strukturell behindert wird (43).
Hier setzt Karabulut mit ihrer Arbeit an: Anhand von zwei Gruppendiskussionen arbeitet sie mit Hilfe der dokumentarischen Methode unterschiedliche rassistische Diskriminierungserfahrungen von SchĂŒler*innen mit âZuwanderungsgeschichteâ an weiterfuÌhrenden Schulen heraus. Dieser method(olog)ische Zugang fokussiert auf die Wissensdimension rassismusrelevanter Erfahrungen und macht sie als kollektiviertes, implizites Wissen analysierbar.
In Kapitel 4 analysiert Karabulut prĂ€zise und nachvollziehbar, wie strukturelle Dimensionen von Rassismus auf SchĂŒler*innen einwirken und welche BewĂ€ltigungsstrategien sie entwickeln. In den ErzĂ€hlungen wird deutlich, wie stereotypisierende Anrufungen in dem einen Fall als Schwarze Person und in dem anderen Fall als Muslimin im Klassenzimmer an mehrheitsgesellschaftliche Diskurse anknĂŒpfen. Anhand der Gruppendiskussion Dalem, die mit SchĂŒler*innen der Oberstufe einer Höheren Handelsschule erhoben wurde, lĂ€sst sich Karabuluts Vorgehensweise in der Analyse exemplarisch nachvollziehen. In einer GesprĂ€chssequenz erzĂ€hlen zwei SchĂŒler*innen von wiederholt erlebten Adressierungen von LehrkrĂ€ften an sie als so genannte Migrationsandere. Sie werden dabei in Form von rassismusrelevanten Stereotypisierungen als deviant adressiert und markiert. Die SchĂŒler*innen selbst erklĂ€ren sich die diskriminierenden Praktiken der LehrkrĂ€fte auf der Basis von mehrheitsgesellschaftlichen Stereotypen, vereinfachenden und einseitigen Homogenisierungen aus dem medialen Diskurs einerseits sowie fehlenden Wissensressourcen ĂŒber Schwarze Menschen andererseits (76). Karabulut arbeitet aus den ErzĂ€hlungen der SchĂŒler*innen Umgangsstrategien heraus, mit denen sie den diskriminierenden Konfrontationen entgegentreten. Die beiden SchĂŒler*innen solidarisieren sich wĂ€hrend ihrer ErzĂ€hlungen ĂŒber rassismusrelevante Erfahrungen mit LehrkrĂ€ften, indem sie ĂŒber die verschiedenen Formen der Adressierung als Migrationsandere sprechen (75) und ĂŒber das laute und gemeinsame Nachdenken zu dem Verhalten von LehrkrĂ€ften und einem gegenseitigen BestĂ€rken ihres Erlebens als âstrukturidentische Erfahrungâ (76) âGegenstrategien zu Entsubjektivierungsprozessen rassismusrelevanter Anrufungenâ entwerfen.
Als zentrale Gemeinsamkeit der beiden Gruppendiskussionen werden die Erfahrungen der (Re-)Produktion von Differenz durch Lehrer*innen genannt, die âdominant als machtvolle unmarkierte weiĂe Akteur*innen in den ErzĂ€hlungen auftretenâ (85). Die verschiedenen Formen des Othering durch Lehrer*innen werden von Karabulut als institutionell legitimiertes (85) und machtvolles Positioniertwerden gekennzeichnet und als Bestandteil des kollektiven schulischen Erfahrungsraums der Diskutant*innen benannt: âDie SchuÌler*innen mit Zuwanderungsgeschichteâ eint die kollektive Erfahrung der Markierung als Migrationsandere und die Benachteiligung in der schulischen SphĂ€re. Sich stĂ€rker anzustrengen, um gleich behandelt zu werden, ist ein markanter Bestandteil des Erfahrungsraumes von SchuÌler*innen âmit Zuwanderungsgeschichteâ im deutschen Bildungssystem. Institutionelle Machtasymmetrien und die Unmöglichkeit, rassistisches Handeln objektiv herzuleiten, fuÌhren zu Erfahrungen von Machtlosigkeit und Ohnmacht rassistisch marginalisierter SchuÌler*innen, die durch das hierarchische Setting in schulischen RĂ€umen verstĂ€rkt wirdâ (88).
In der Ergebnisdiskussion werden Interventionsmöglichkeiten und Transformationsempfehlungen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene gesellschaftlichen Handelns beschrieben. Zentral wird die Notwendigkeit einer migrationsbedingten Transformation und Ăffnung der Schulen auf der Makroebene als Ă€uĂerst bedeutende Handlungsstrategie hervorgehoben (135). Aus der ĂŒberzeugenden VerschrĂ€nkung von kritischer Migrations- und Bildungsforschung benennt Karabulut vor allem rassismusrelevante Einstellungen und Handlungen âals Teil des heimlichen Lehrplans der Institution Schuleâ (136) und verlangt notwendige Reflexions- und Gegenstrategien. AbschlieĂend werden machtkritische Forschungsperspektiven auf die Institution Schule sowie auf Haltungen der Lehrer*innen in der Lehramtsausbildung eingefordert.
Die Arbeit von Karabulut stellt durch die Analyse des kollektiven Erfahrungsraums von SchĂŒler*innen âmit Zuwanderungsgeschichteââ einen aktuellen und wichtigen Beitrag zu diversitĂ€tssensibler und machtkritischer Migrations- und Bildungsforschung dar. In dieser Verortung liefert die Arbeit einen notwendigen Beitrag zu diversitĂ€ts- und migrationsbedingten Anforderungen an pĂ€dagogische Professionelle und schlieĂt sich somit einer Reihe aktueller Arbeiten zu pĂ€dagogischer ProfessionalitĂ€t an.
Ich schĂ€tze den problematisierenden Blick auf theoretische Defizite zum Rassismusbegriff und den theoretischen Einbezug der critical race theory angesichts der gegenwĂ€rtigen Aushandlungen um Migration als Ă€uĂerst gewinnbringend ein und als vielversprechenden Zugang im Hinblick auf eine machtkritischere Bildungsforschung.
Die Methode der Gruppendiskussion als dokumentarische Methode ĂŒberzeugt in ihrer begrĂŒndeten Auswahl und Anwendung im Hinblick auf kollektive Erfahrungen sowie BewĂ€ltigungsstrategien von rassifizierten SchĂŒler*innen. Die Arbeit ist als Ă€uĂerst wichtiger Beitrag zur kritischen Migrations- und Bildungsforschung einzuschĂ€tzen, da er die Erfahrungen der âMigrationsanderenâ ins Zentrum stellt. Die Empfehlungen fĂŒr diversitĂ€tssensible pĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t sind gerade mit Bezug auf die strukturell herausgearbeiteten Dimensionen der Bildungsinstitution Schule besonders wertvoll, da sie explizit auf Erfahrungen von rassifizierten SchĂŒler*innen in ihrer doppelt marginalisierten Positioniertheit â einerseits durch die schulische Machtasymmetrie in der Beziehung zu Lehrer*innen sowie andererseits durch die Anrufung und defizitĂ€re Zuschreibung als Migrationsandere â basiert.
[1] Kasparek, B., Speer, M. (2015, 7. September). Of hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration. https://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/
[2] Karakayalı, S., Tsianos, V. (2007). Movements that matter: Eine Einleitung. In Transit Migration Forschungsgruppe (Hrsg.), Turbulente RĂ€nder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas (S. 7â17; hier: S.8). Transcript.
[3] Balibar, E. (1992). Gibt es einen âNeo-Rassismusâ? In Balibar E. & Wallerstein I. (Hrsg.), Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente IdentitĂ€ten, (S. 23â38). Argument Verlag; Hall, S. (1989). Rassismus als ideologischer Diskurs. Das Argument, 178, 913â921.
EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)
Rassismuserfahrungen von SchuÌler*innen
Institutionelle Grenzziehungen an Schulen
Wiesbaden: Springer VS 2020
(161 S.; ISBN 978-3-658-31180-3; 54,99 EUR)
Saman A. Sarabi (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Saman A. Sarabi: Rezension von: Karabulut, Aylin: Rassismuserfahrungen von SchuÌler*innen, Institutionelle Grenzziehungen an Schulen. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365831180.html
Saman A. Sarabi: Rezension von: Karabulut, Aylin: Rassismuserfahrungen von SchuÌler*innen, Institutionelle Grenzziehungen an Schulen. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365831180.html