Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem Übergang von der Kindertagesstätte (Kita) zur Grundschule und untersucht dabei die Herstellungspraktiken von Differenz aus einer rassismuskritischen Perspektive. Um ein Verständnis davon zu erlangen, wie sich „neue Formationen von Rassismus, die nicht von absoluten Ausschlüssen gekennzeichnet sind“ (341), vollziehen, wird der Blick auf pädagogische „Praktiken und Diskurse“ (341) gerichtet. Die Studie ist auf den Berliner Raum bezogen, verfolgt einen ethnografischen Zugang und ist zwischen Kulturanthropologie und Erziehungswissenschaft angelegt.
Die Studie gliedert sich in acht Abschnitte: Eingeleitet wird die Arbeit mit einem Kapitel, das die eingenommene Perspektivierung auf den Übergang Kita-Grundschule beleuchtet (Kap. 1). Historisch nachgezeichnet wird das Ideal der Grundschule als eine Schule für alle Kinder, mit der Ausgrenzung und Stigmatisierung bestimmter Kindergruppen und ihrer Eltern eng verwoben bleibt. Weiter richtet die Autorin besonderes Augenmerk auf institutionelle Diskriminierung, wobei besonders indirekte Formen dabei herausgestellt werden. Demnach kann dem Handeln des pädagogischen Personals diskriminierendes Potenzial innewohnen, obwohl dies nicht intendiert ist. Dieses Verständnis sucht die Autorin mit rassismuskritischer Perspektive zu verbinden.
Dabei wird Rassismus als historisch gewachsenes, strukturelles Machtverhältnis verstanden, „das Menschen in hierarchische Beziehungen zueinander setzt und auf Prozesse der Fremdmachung abzielt“ (15). Zentral sind dabei Formationen eines ‚racial neoliberalism‘, die mit Argumentationsmustern über die andere Kultur, Religion‚ Ethnizität und nicht ausreichendes Deutsch einhergehen. Eine zentrale Perspektivierung auf die pädagogischen Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen im Übergang Kita-Grundschule stellen dabei Überlegungen zur (Neo-)Linguizismus, einer Form des Rassimus, die über Sprache verläuft, dar.
Daran schließt sich das Methodenkapitel an (Kap. 2). Der Studie liegt eine umfangreiche Datensammlung zu Grunde, die zwischen 2011 und 2015 erhoben wurde. Um die „interagierenden Praktiken und materiellen und diskursiven Strukturen“ (49) beim Übergang Kita-Grundschule zu erfassen, folgt die Autorin einer ethnografischen Regimeanalyse. Dabei wurden nicht nur Beobachtungsdaten zum Alltag in einer Kita, bei Tagen der offenen Tür, an Grundschulen, auf Spielplätzen, einem Elterncafé und bei öffentlichen Veranstaltungen erhoben, sondern 36 „Interviews mit – insbesondere hinsichtlich Rassismus und Klassismus – unterschiedlich positionierten Eltern, mit Erzieher*innen, Schulleitungen, Lokalpolitik*innen“ (49f.) sowie mit Akteur*innen aus dem Antidiskriminierungsbereich durchgeführt. Auch diskursives Material (z.B. policy-paper) wurde miteinbezogen. Die Autorin wählt einen reflexiven Zugang zum Forschungsfeld, sowie zu ihrer Methodik selbst, indem Sie die Leser*innenschaft teilhaben lässt an ihrem Forschungsprozess und ihrer Reflexion darüber. Die Interpretationen werden im Dialog mit Theorie erarbeitet.
Die Autorin bietet höchst aufschlussreiche Einblicke in Berliner Kitas und Grundschulen durch eine Vielzahl an Befunden. Den empirischen Teil gliedert sie anhand von fünf Themen (Kap. 3-8): Neo-linguizistische Praktiken, Schulwahlpraktiken, selbstorganisierte Gruppenanmeldungen durch Eltern bei Einschulung, Klasseneinteilungen nach Herkunft, Kämpfe um Anerkennung beim Elternengagement in Schule. Wir erlauben uns, nur auf einige der Befunde einzugehen.
Dean zeichnet (neo-)linguizistische Praktiken im Kitabereich nach, indem sie Interaktionen und Aussagen von Erzieher*innen auswertet (Kap. 3-4). In institutionellen Vorgaben zur Sprachverwendung, wie der Förderung verschiedener Sprachen durchs Zählen und Singen, werden problematische Handhabungen sichtbar, in denen die Kinder beispielsweise auf ihre Herkunftssprache reduziert werden. Somit erfahren diese Kinder Othering in Situationen, in denen Mehrsprachigkeit gefördert werden sollte.
Der pädagogische Umgang geht damit an der mehrsprachigen Lebenswelt der Kinder vorbei. Daraus zieht Dean den Schluss, dass es auf die jeweiligen Bedürfnisse der Schüler*innen und Fachkräfte zugeschnittene Lösungen braucht, d.h. ein beständiger Aushandlungs- und Reflexionsprozess notwendig ist.
In Kapitel fünf, sechs und sieben zeigt Dean, dass diese (neo-)linguizistischen Sprachregime auch bei der Verteilung der Schüler*innen auf Schulen eine Rolle spielen, da diese durch das Kriterium der Herkunftssprache geprägt ist. Eltern mit defizitorientiertem Blick auf andere Sprachen äußern sich in der Schulwahl dazu, dass sie ihre Kinder lieber auf eine Schule geben, bei der der Anteil von >deutschsprachigen< und >nicht-deutschsprachigen< ausbalanciert sei.
Wessen Engagement zählt? ist eine Frage, der Dean im achten Kapitel nachgeht. Dabei zeigt sie auf, dass auch Elternbeteiligung an Grundschule in rassistische Machtstrukturen verstrickt sein kann. Nachgezeichnet wird ein Konflikt zwischen >türkischen<, >arabischen< und weißen Eltern. Die Schulleitung scheint beim Konflikt selbst eine problematische Rolle einzunehmen, da ihr Zugriff auf migrantische Eltern rassistische Klassifizierungen aufweist, dagegen werden weiße Eltern als besonders bildungsorientiert wahrgenommen. Leider vermissen wir an dieser Stelle eine Diskussion darüber, was ein konstruktiver Umgang in solchen Situationen sein kann.
Kritisch anzumerken ist die Gliederung der Kapitel, die stark aufeinander aufbauen und daher ein schnelles Querlesen und gezieltes Nachschlagen erschweren. Vermisst wird eine forschungsführende Fragestellung für die Arbeit. Zentrale Aussagen müssen leider mühsam in den Fußnoten nachgelesen werden. Außerdem fehlt eine systematische Übersicht über alle analysierten Daten sowie ein Überblick über die Interviewpartner*innen. Auf eine Schlussbetrachtung verzichtet die Autorin zugunsten eines sehr knappen Ausblicks. Eine Zusammenfassung wichtigster Erkenntnisse mit zugespitzten Thesen wäre hilfreich gewesen, um die Fülle der Ergebnisse besser zu systematisieren und in den bestehenden Forschungsstand einordnen zu können, zumal auch Zwischenresümees fehlen.
Diese Einwände schmälern jedoch nicht den Gesamteindruck, dass Dean mit ihrer Dissertationsschrift eine überzeugende Studie vorgelegt hat. Als innovativ und produktiv erweist sich dabei der ethnografische Zugang in der Kombination mit macht- und affekttheoretischen Perspektiven, mit den die Autorin das Forschungsfeld erschließt. Dean versteht es, die Fülle ihres Materials auszuleuchten, aussagekräftige Zitate auszuwählen und dadurch Verständnis für die Perspektive der Akteur*innen zu ermöglichen. Im Schreibprozess schafft sie maximale Transparenz, indem sie sie selbst betreffende eigene Prozesse reflektiert und eigene Stereotype benennt. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zu der Debatte um positionierte Wissenschaft. Eindrücklich und spannend werden ganz verschiedene Facetten von Diskursen wie Sprachbildung, Schulwahl, elterliche Bildungsinteressen, Rassismuserfahrungen und pädagogische Situationen des „alltäglichen linguizistischen Othering“ (154) beleuchtet und empathisch eingeordnet. Es gelingt ihr, gewöhnliche wohlmeinende Bildungssituationen aus dem Kita- und Grundschulalltag in ein neues Licht zu rücken und als subtile, rassismusrelevante Diskriminierungsformen herauszuarbeiten. Die Ergebnisse können als Reflexionsfolie für professionelles pädagogisches Handeln von Erzieher*innen und Lehrer*innen genutzt werden und sind somit auch für Lehrende in der Erziehungswissenschaft interessant.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Bildung – Heterogenität – Sprache
Rassistische Differenz- und Diskriminierungsverhältnisse in Kita und Grundschule
Wiesbaden: Springer VS 2020
(393 S.; ISBN 978-3-658-30855-1; 64,99 EUR)
Stephanie von Steinsdorff & Anna Aleksandra Wojciechowicz (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stephanie von Steinsdorff & Anna Aleksandra Wojciechowicz: Rezension von: Dean, Isabel: Bildung – Heterogenität – Sprache, Rassistische Differenz- und Diskriminierungsverhältnisse in Kita und Grundschule. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830855.html
Stephanie von Steinsdorff & Anna Aleksandra Wojciechowicz: Rezension von: Dean, Isabel: Bildung – Heterogenität – Sprache, Rassistische Differenz- und Diskriminierungsverhältnisse in Kita und Grundschule. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830855.html