Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Dissertationsschrift der Heil- und Sonderpädagogin Sophia Falkenstörfer, die von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln im Jahr 2019 angenommen wurde.
Bereits der Titel deutet auf ein höchst umfangreiches Vorhaben hin, nämlich sowohl einen historischen Überblick als auch eine theoretische (Neu-)Konzeptionierung von ‚Fürsorge‘ vorzulegen. Die derzeit beobachtete fachliche Kritik am Fürsorgekonzept aufgrund seiner Asymmetrie und seiner Neigung zu stellvertretendem Handeln nimmt die Autorin zum Anlass, dieses Konzept nicht einfach zurückzuweisen, sondern es reflexiv entlang der Dimensionen von Angewiesenheit und Abhängigkeit neu zu bestimmen (S. 7). Dies ist freilich ein höchst verdienstvolles Anliegen und könnte an bereits vorliegende sozialphilosophische Arbeiten im Fach zu benachbarten Fragestellungen von Peter Rödler, Ursula Stinkes oder Barbara Fornefeld und auch institutionen- und ideengeschichtliche Arbeiten im Bereich Geistiger Behinderung von Norbert Störmer, Johannes Gstach oder Thomas Hoffmann anschließen. Dies unternimmt die vorliegende Studie jedoch nicht, sondern möchte mit einem eigenen problem- und ideengeschichtlichen, sozialrechtlichen und sozialphilosophischen Zugang das Thema neu ausleuchten. Damit verschenkt die Autorin aber, einen definierten Forschungsstand zu skizzieren, an dem sich die eigene Arbeit abarbeitet und ihre Befunde einordnet.
Sophia Falkenstörfers ambitioniertes Vorhaben hat sich nach einer Einleitung in das Problemfeld in seinem zweiten Kapitel eine Geschichtsschreibung der Fürsorge von der Antike bis in die Gegenwart hinein vorgenommen und ist damit das umfangreichste Kapitel der Arbeit mit mehr als 160 Seiten. Den gewählten problemgeschichtlichen Zugang umreißt sie wie folgt: Das Problem der Fürsorge für eine spezifische Gruppe von Menschen habe es überhistorisch schon immer gegeben und sei jeweils begrifflich und institutionell unterschiedlich bearbeitet worden, was in der nachstehenden Rekonstruktion entfaltet wird: So wird der Umgang mit Armen und Sklaven in der Antike als Konzept einer gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Praxis skizziert, das auf wechselseitigen Gegenleistungen beruht habe, über die nicht jede:r gleichermaßen habe verfügen können. Hier wird auch auf den Umgang mit behinderten Menschen verwiesen, bei dem allerdings offenbar vorausgesetzt wird, es hätte ein überhistorisch einheitliches Verständnis von Behinderungen gegeben (was die Rezensentin durchaus bezweifelt und Sophia Falkenstörfer auch selbst anmerkte (S. 16, FN11)). Im Christentum habe sich dann ein Fürsorgeverständnis als Nächstenliebe herauskristallisiert, welches im Mittelalter durch das Almosenwesen ergänzt wurde. Behinderte, Kranke und Bedürftige seien so zu Empfängern „christlicher Mildtätigkeit“ transformiert worden (S. 37). Mit der Aufklärung hätten sich neben den bereits existierenden christlichen Fürsorgesystemen auch philanthropische gestellt, wobei die Industrialisierung das Fürsorgeproblem schließlich als (wohlfahrts-)staatliche Aufgabe habe erkennen lassen, diese Aufgabe jedoch auch neben den kirchlichen Trägern den neuen Wohlfahrtsverbänden im Sinne des Subsidiaritätsprinzips überlassen. In diesem Kontext seien aber auch disziplinatorische Absichten erkennbar (diese Ambivalenz hätte aber auch für alle anderen Epochen geprüft werden müssen, so die Auffassung der Rezensentin). Die wohlfahrtsstaatlichen Anfänge hätten sich unter dem Eindruck der Folgen des 1. Weltkriegs weiter entwickelt und wurden sozialstaatlich schließlich in der Bundesrepublik verankert (dass die Autorin an dieser Stelle auf die Darstellung sozialstaatlicher Prinzipien der DDR verzichtet, ist aus Komplexitätsgründen verständlich, aber durchaus bedauerlich. Zudem ist bedauerlich, dass die vorzügliche Darstellung der Herausschälung des Behinderungsverständnisses nach 1945 aus der Kriegsgeschädigtenfürsorge zur sozialrechtlichen Kategorie von Jan Stoll hier fehlt). Zunächst jedoch wird die Volkswohlfahrt und mit ihr die Bedrohung und Ermordung behinderter Menschen im NS-Staat beleuchtet. Im Fazit zu diesem umfangreichen Kapitel resümiert Frau Falkenstörfer, dass insbesondere die NS-Politik und die Fürsorge- und Heimerziehung den Fürsorgebegriff diskreditiert hätten (S. 177).
Das nachfolgende dritte Kapitel versucht anschließend das Prinzip der Fürsorge sowohl sozialpolitisch als auch sozialrechtlich einzuordnen und zwar mit dem Fokus auf Menschen mit komplexen Behinderungen. Hier wird der Akzent auf den aktivierenden Wohlfahrtstaat der jüngeren Vergangenheit gelegt. Dieses aufschlussreiche Kapitel wäre aber schon – wie das vorherstehende – eine eigene Arbeit Wert gewesen, da insbesondere die sozialpolitischen Leitlinien der jüngeren Geschichte und ihr Einwirken auf Behinderungs- und Fürsorgekonzepte auf der Basis einer Quellenstudie höchst interessant gewesen wäre.
Das vierte Kapitel widmet sich schließlich einer sozialphilosophisch grundierten Neuausrichtung des Fürsorgekonzepts – auch dieses hätte Gegenstand einer eigenständigen Arbeit sein können, denn die ausgearbeiteten Reflexionsbezüge, wie Autonomie, Vulnerabilität, Leiblichkeit und Care sind bereits umfassend thematisierte philosophische Fragestellungen, die im Licht der Fürsorge zu einer tief gehenden Analyse anregen, für die die hier vorgelegten 50 Seiten sicherlich zu knapp sind. (So vermisst man z.B. eine Auseinandersetzung mit dem Capability Approach, obgleich das Kapitel mit einem Zitat Martha Nussbaums eingeleitet wird.)
Im fünften abschließenden Kapitel werden die Erträge der Arbeit resümiert und in drei instruktive Grafiken eingeordnet.
Insgesamt zeigt sich, dass das Vorhaben nicht nur historisch höchst breit, sondern auch interdisziplinär angelegt ist, ein im Bereich der Heil- bzw. Rehabilitationspädagogik nicht unübliche Vorgehensweise, die aber die Gefahr der Überkomplexität birgt, die man wiederum nur mittels eher pauschaleren Darstellungen und Einschätzungen begegnen kann. Dies liegt auch am gewählten Dokumentenkorpus: Im historischen Teil werden Quellen lediglich illustrativ verwendet und in weiten Strecken auf Sekundärliteratur zurückgegriffen, die weniger Dissonanzen, als vielmehr einheitliche Schlaglinien präsentieren. Weiterhin ist fraglich, ob sozialrechtliche und sozialphilosophische Texte mit einer allein heilpädagogischen Expertise in dieser Dichte ausreichend ausgeleuchtet werden können. Diesen Schwierigkeiten begegnet die Autorin nicht nur mit einem klaren Fortgang der Untersuchung, sondern auch mit übersichtlichen Grafiken und Zeittafeln. Diese haben durchaus enzyklopädischen Charakter und damit kann auch die Stärke des vorliegenden Buches benannt werden: Es bietet einen großen Überblick über die Ideen- und Institutionengeschichte der Fürsorge und kann damit informierend für das Thema interessieren und zu vertiefenden Analysen von Einzelthemen anregen. Damit hat die Autorin auf jeden Fall ihr Ziel erreicht: Zum Nachdenken über das Fürsorgeprinzip neu anzuregen.
EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)
Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart
Eine Analyse im Kontext komplexer Behinderungen
Wiesbaden: Springer VS 2020
(358 S.; ISBN 978-3-658-30481-2; 69,99 EUR)
Vera Moser (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Falkenstörfer, Sophia: Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart, Eine Analyse im Kontext komplexer Behinderungen. Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830481.html
Vera Moser: Rezension von: Falkenstörfer, Sophia: Zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart, Eine Analyse im Kontext komplexer Behinderungen. Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830481.html