EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sarah Katharina Zorn
Professionalisierungsprozesse im Praxissemester begleiten
Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Bilanz- und PerspektivgesprÀch
Wiesbaden: Springer VS 2020
(586 S.; ISBN 978-3-658-30302-0; 69,99 EUR)
Professionalisierungsprozesse im Praxissemester begleiten Schulischen Praxisphasen wird eine wesentliche Bedeutung v.a. in der ersten Phase der Lehrerbildung zugesprochen, auch wenn nach wie umstritten ist, ob und inwiefern solche Praxiselemente Professionalisierungsprozesse anzuregen vermögen. Als eines der bedeutendsten Formate zur Verzahnung von Theorie und Praxis innerhalb von Praxisphasen wurden Unterrichtsbesprechungen identifiziert, die in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus empirischer Forschungsarbeiten gerĂŒckt sind.

Einer besonderen und bislang nicht untersuchten Form der Unterrichtsbesprechung widmet sich Sarah Katharina Zorn in ihrer umfangreichen Dissertationsschrift: dem Bilanz- und PerspektivgesprĂ€ch (BPG) im Praxissemester in NRW. Das Ziel der Autorin ist es, ausgehend von diesem GesprĂ€chsformat und mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse und der Dokumentarischen Methode, „die Orientierungen [der GesprĂ€chsteilnehmer] in Bezug auf Professionalisierung im Rahmen der Begleitung von Praxisphasen“ (183) zu rekonstruieren und „die interaktive Aushandlung dieser rekonstruierten VerstĂ€ndnisse in der gemeinsamen Gestaltung der Begleitung wĂ€hrend des Praxissemesters“ (184) zu fokussieren. Damit zielt Zorns Untersuchung auf ein Forschungsdesiderat ab, da mit den untersuchten 17 Bilanz- und PerspektivgesprĂ€chen (BPG) – anders als mit den ‚klassischen‘ Unterrichtsvor- und -nachbesprechungen – eine GesprĂ€chsform vorliegt, die ĂŒber konkrete Unterrichtssituationen und deren Reflexion hinaus die (professionelle) Entwicklung von Studierenden zum Gegenstand hat und daher Einblicke in „implizite ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse“ (5) ermöglicht.

Als grundlegendes heuristisches Rahmenmodell fĂŒr die Studie fĂŒhrt die Autorin in Kapitel 1 das Modell einer Denkfigur zur Neugestaltung der Lehrerbildung ein, welches neben den Bezugssystemen ‚Wissenschaft‘ und ‚Praxis‘ auch die ‚Person‘ berĂŒcksichtigt. Diese theoretische Rahmung erlaubt es ihr folgerichtig, eine Systematisierung von ‚ProfessionalitĂ€t‘ und ‚Professionalisierung‘ im Sinne des berufsbiographischen Bestimmungsansatzes vorzunehmen.

Dazu geht Zorn im theoretischen Teil ihrer Arbeit zunĂ€chst auf eine Begriffsbestimmung von ‚Profession‘ und ‚ProfessionalitĂ€t‘ ein und stellt daran anknĂŒpfend umfassend und kenntnisreich die etablierten BestimmungsansĂ€tze zur ProfessionalitĂ€t im Lehrerberuf dar (2. Kapitel).

Logisch daran anschließend widmet sie sich im 3. Kapitel dem Diskurs um die ‚Professionalisierung‘ angehender LehrkrĂ€fte. Abschließend erfolgt eine RĂŒckbindung der Darstellungen an das im 1. Kapitel eingefĂŒhrte heuristische Rahmenmodell, indem sie herausstellt, dass Professionalisierung unter diesem Blickwinkel bedeutet, dass angehende Lehrpersonen dazu befĂ€higt werden sollten, reflexiv BezĂŒge zwischen ‚Wissenschaft‘, ‚Praxis‘ und ‚Person‘ herzustellen. Allerdings wird weder hier noch an anderer Stelle geklĂ€rt – obwohl auf die Termini ‚reflexiv‘ und ‚(Selbst-) Reflexion/ReflexivitĂ€t‘ immer wieder verwiesen wird –, was genau unter diesen Begriffen zu verstehen ist und was bspw. ‚in einem GesprĂ€ch reflektieren‘ konkret bedeutet.

Das 4. Kapitel leistet nun weiterfĂŒhrend einen Überblick ĂŒber ‚Praxisphasen in der Lehrerbildung‘ und spannt dabei den Bogen von einem historischen Abriss, ĂŒber Forschungsergebnisse zu kĂŒrzeren und verlĂ€ngerten Praxisphasen bis hin zu aktuellen Befunden zum Praxissemester in NRW, bevor erneut eine Einordnung der dargestellten Entwicklungslinien in das heuristische Rahmenmodell vorgenommen wird.
Aus den im vorangegangenen Kapitel dargestellten Forschungsbefunden arbeitet die Autorin nun den Konsens heraus, dass fĂŒr die QualitĂ€t von Praxisphasen besonders die Betreuung der Studierenden eine zentrale Rolle spielt und geht demnach im 5. Kapitel zunĂ€chst auf Formen und Konzepte von ‚Begleitung Studierender in Praxisphasen‘ ein (z.B. Beratung, Mentoring, Coaching) und betrachtet dies auch aus berufsbiographischer Perspektive.
Da der Untersuchungsgegenstand der Studie, die Bilanz- und PerspektivgesprĂ€che, in das Praxissemester in NRW integriert sind, widmet sich Zorn im 6. Kapitel auf dem Wege einer Dokumentenanalyse (v.a. Lehrerausbildungsgesetz, Rahmenkonzeption) der ‚Programmatik‘ dieser Praxisphase. Dabei arbeitet sie Organisation, Verlauf, Ziele sowie strukturelle und inhaltliche Elemente heraus, geht dezidiert auf das Begleitformat des BPGs ein und fasst abschließend das ProfessionalisierungsverstĂ€ndnis zusammen, wie es sich aus den analysierten Dokumenten ableiten lĂ€sst.

Ab dem 7. Kapitel nun leitet die Autorin ĂŒber zum empirischen Teil der Arbeit und greift die in der Einleitung angesprochenen ‚Forschungsdesiderata‘ und ‚Erkenntnisinteressen‘ auf und konkretisiert diese. Dabei wird noch einmal das zentrale Anliegen der Untersuchung herausgestellt, welches erstens in der deskriptiven Darstellung der Bilanz- und PerspektivgesprĂ€che besteht und zweitens in einer Rekonstruktion der handlungsleitenden ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse der GesprĂ€chspartner sowie ihrer interaktiven Relationierung.

Ihre Vorgehensweise, um den genannten Fragestellungen nachzugehen, benennt die Autorin im 8. Kapitel (‚Forschungsdesign und Methoden‘) als explorativ und qualitativ-rekonstruktiv, weshalb sie das Forschungsprojekt im Ganzen zunĂ€chst wissenschaftstheoretisch entsprechend verortet. Sowohl die Einbettung der Studie in die qualitativ-rekonstruktive Forschung als auch die methodologische Reflexion der Dokumentarischen Methode zeugen von einer umfassenden Kenntnis des Instrumentariums. Die ergĂ€nzend zur deskriptiven Darstellung der GesprĂ€che gewĂ€hlte Qualitative Inhaltsanalyse wird anschließend ebenso fundiert und umfassend dargelegt. Auch wenn Zorn in diesem Kapitel die Wahl ihrer methodischen ZugĂ€nge nachvollziehbar begrĂŒndet, wĂ€re noch eine kurze Anmerkung erhellend gewesen, weshalb sie sich gerade den interaktiven PhĂ€nomenen der BPGs nicht mittels einer (pragma-) linguistischen GesprĂ€chs- bzw. Sequenzanalyse annĂ€hert, so wie es auch in denjenigen Untersuchungen zu GesprĂ€chen in Praxisphasen der Fall ist, auf die sie u.a. in ihrem 5. Kapitel zutreffend verweist.

Eine Darstellung der zentralen Ergebnisse dieses geschilderten methodischen Vorgehens erfolgt dann im 9. Kapitel. ZunĂ€chst liefert Zorn eine ‚deskriptive Darstellung‘ der BPG, die auf der qualitativ-inhaltlichen Analyse des Datenmaterials beruhen, und zeigt schließlich unter beratungstheoretischer Perspektive auf, inwiefern die GesprĂ€che hinsichtlich GesprĂ€chsfĂŒhrungsmethoden und Beratungsimpulsen ausgestaltet werden. Dieser AnnĂ€herung an den Forschungsgegenstand folgt nun eine ‚exemplarische Darstellung von Fallportraits‘. Mittels der Dokumentarischen Methode bzw. Interpretation rekonstruiert die Autorin im Folgenden den „fallspezifischen handlungsleitenden Orientierungsrahmen“ (308) der GesprĂ€chsbeteiligten, indem sie drei minimal und maximal kontrastierende FĂ€lle sowie drei ErgĂ€nzungsfĂ€lle einander gegenĂŒberstellt.

Die ausfĂŒhrliche, 117 Seiten umfassende Interpretation und Analyse der FĂ€lle nimmt Zorn auf Grundlage von GesprĂ€chstranskripten vor, die ergĂ€nzt werden von ebenfalls transkribierten Einzelinterviews mit den Studierenden sowie Gruppeninterviews. Diese multiperspektivischen ZugĂ€nge ermöglichen es der Autorin, einen vertieften Einblick in die Ausbildungspraxis sowie in die unterschiedlichen VerstĂ€ndnisweisen von Professionalisierung zu gewinnen.

Diese fallspezifischen Orientierungsrahmen werden anschließend zu einer Basistypik abstrahiert und in unterschiedliche Typen der ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse im BGP spezifiziert. Zorn kann hierbei die Typen ‚Lernen‘, ‚Begleitung‘, ‚Erfahrung‘ und ‚Determinierung‘ rekonstruieren, die sich im „Grad der Autonomie und AktivitĂ€t [
], der Gestaltung ihrer Ausbildungsbedingungen und ihres Professionalisierungsprozesses“ (472) voneinander unterscheiden.

Das empirische 9. Kapitel abschließend geht die Autorin nun noch der Frage nach, wie die GesprĂ€chsbeteiligten ihr VerstĂ€ndnis von Professionalisierung im GesprĂ€ch (interaktiv) thematisieren und verhandeln. Dabei kommt Zorn zu der – wenig ĂŒberraschenden – Erkenntnis, „dass die beteiligten Akteure im Rahmen der Begleitung entweder identische, sich komplementĂ€r ergĂ€nzende oder divergente bzw. kontrĂ€re ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse aufweisen können“ (478).
Das 10. Kapitel dieser Arbeit liefert schließlich eine ‚Diskussion‘ der Ergebnisse und einen ‚Ausblick‘. Dabei kommt Zorn zu dem Gesamtfazit, dass es sich (1) beim BPG um ein GesprĂ€chsformat handelt, das sich grundsĂ€tzlich von anderen Unterrichtsbesprechungen unterscheidet, dass (2) die BPGs (auch) dazu dienen, kommunikative Praktiken zur Inszenierung von ProfessionalitĂ€t einzuĂŒben und dass (3) „fĂŒr die Gestaltung der Begleitungspraxis angehender Lehrpersonen [
] die interaktive Relationierung unterschiedlicher ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse“ (517) von zentraler Bedeutung ist. Mit einer kritisch-reflexiven und umsichtigen Analyse der inhaltlichen und forschungsmethodischen Limitationen sowie Anschlussmöglichkeiten der Arbeit, wird dieses letzte Kapitel beschlossen.

Insgesamt liefert Sarah Katharina Zorn mit ihrem Buch einen interessanten und tiefgrĂŒndigen Einblick in ein bislang nicht erforschtes GesprĂ€chsformat im Kontext von schulischen Praxisphasen. Sowohl die theoretische Verortung des Forschungsgegenstandes und -kontextes als auch in die anspruchsvolle und fundierte methodische Vorgehensweise sowie die stringente und klarsichtige Analyse zeugen von der Relevanz dieser Untersuchung. Mit ihrer Studie leistet Sarah Katharina Zorn somit einen wesentlichen Beitrag fĂŒr die Forschung zur Professionalisierung in schulischen Praxisphasen.
Felician-Michael FĂŒhrer (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Felician-Michael FĂŒhrer: Rezension von: Zorn, Sarah Katharina: Professionalisierungsprozesse im Praxissemester begleiten, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Bilanz- und PerspektivgesprĂ€ch. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830302.html