Schulischen Praxisphasen wird eine wesentliche Bedeutung v.a. in der ersten Phase der Lehrerbildung zugesprochen, auch wenn nach wie umstritten ist, ob und inwiefern solche Praxiselemente Professionalisierungsprozesse anzuregen vermögen. Als eines der bedeutendsten Formate zur Verzahnung von Theorie und Praxis innerhalb von Praxisphasen wurden Unterrichtsbesprechungen identifiziert, die in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus empirischer Forschungsarbeiten gerĂŒckt sind.
Einer besonderen und bislang nicht untersuchten Form der Unterrichtsbesprechung widmet sich Sarah Katharina Zorn in ihrer umfangreichen Dissertationsschrift: dem Bilanz- und PerspektivgesprĂ€ch (BPG) im Praxissemester in NRW. Das Ziel der Autorin ist es, ausgehend von diesem GesprĂ€chsformat und mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse und der Dokumentarischen Methode, âdie Orientierungen [der GesprĂ€chsteilnehmer] in Bezug auf Professionalisierung im Rahmen der Begleitung von Praxisphasenâ (183) zu rekonstruieren und âdie interaktive Aushandlung dieser rekonstruierten VerstĂ€ndnisse in der gemeinsamen Gestaltung der Begleitung wĂ€hrend des Praxissemestersâ (184) zu fokussieren. Damit zielt Zorns Untersuchung auf ein Forschungsdesiderat ab, da mit den untersuchten 17 Bilanz- und PerspektivgesprĂ€chen (BPG) â anders als mit den âklassischenâ Unterrichtsvor- und -nachbesprechungen â eine GesprĂ€chsform vorliegt, die ĂŒber konkrete Unterrichtssituationen und deren Reflexion hinaus die (professionelle) Entwicklung von Studierenden zum Gegenstand hat und daher Einblicke in âimplizite ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisseâ (5) ermöglicht.
Als grundlegendes heuristisches Rahmenmodell fĂŒr die Studie fĂŒhrt die Autorin in Kapitel 1 das Modell einer Denkfigur zur Neugestaltung der Lehrerbildung ein, welches neben den Bezugssystemen âWissenschaftâ und âPraxisâ auch die âPersonâ berĂŒcksichtigt. Diese theoretische Rahmung erlaubt es ihr folgerichtig, eine Systematisierung von âProfessionalitĂ€tâ und âProfessionalisierungâ im Sinne des berufsbiographischen Bestimmungsansatzes vorzunehmen.
Dazu geht Zorn im theoretischen Teil ihrer Arbeit zunĂ€chst auf eine Begriffsbestimmung von âProfessionâ und âProfessionalitĂ€tâ ein und stellt daran anknĂŒpfend umfassend und kenntnisreich die etablierten BestimmungsansĂ€tze zur ProfessionalitĂ€t im Lehrerberuf dar (2. Kapitel).
Logisch daran anschlieĂend widmet sie sich im 3. Kapitel dem Diskurs um die âProfessionalisierungâ angehender LehrkrĂ€fte. AbschlieĂend erfolgt eine RĂŒckbindung der Darstellungen an das im 1. Kapitel eingefĂŒhrte heuristische Rahmenmodell, indem sie herausstellt, dass Professionalisierung unter diesem Blickwinkel bedeutet, dass angehende Lehrpersonen dazu befĂ€higt werden sollten, reflexiv BezĂŒge zwischen âWissenschaftâ, âPraxisâ und âPersonâ herzustellen. Allerdings wird weder hier noch an anderer Stelle geklĂ€rt â obwohl auf die Termini âreflexivâ und â(Selbst-) Reflexion/ReflexivitĂ€tâ immer wieder verwiesen wird â, was genau unter diesen Begriffen zu verstehen ist und was bspw. âin einem GesprĂ€ch reflektierenâ konkret bedeutet.
Das 4. Kapitel leistet nun weiterfĂŒhrend einen Ăberblick ĂŒber âPraxisphasen in der Lehrerbildungâ und spannt dabei den Bogen von einem historischen Abriss, ĂŒber Forschungsergebnisse zu kĂŒrzeren und verlĂ€ngerten Praxisphasen bis hin zu aktuellen Befunden zum Praxissemester in NRW, bevor erneut eine Einordnung der dargestellten Entwicklungslinien in das heuristische Rahmenmodell vorgenommen wird.
Aus den im vorangegangenen Kapitel dargestellten Forschungsbefunden arbeitet die Autorin nun den Konsens heraus, dass fĂŒr die QualitĂ€t von Praxisphasen besonders die Betreuung der Studierenden eine zentrale Rolle spielt und geht demnach im 5. Kapitel zunĂ€chst auf Formen und Konzepte von âBegleitung Studierender in Praxisphasenâ ein (z.B. Beratung, Mentoring, Coaching) und betrachtet dies auch aus berufsbiographischer Perspektive.
Da der Untersuchungsgegenstand der Studie, die Bilanz- und PerspektivgesprĂ€che, in das Praxissemester in NRW integriert sind, widmet sich Zorn im 6. Kapitel auf dem Wege einer Dokumentenanalyse (v.a. Lehrerausbildungsgesetz, Rahmenkonzeption) der âProgrammatikâ dieser Praxisphase. Dabei arbeitet sie Organisation, Verlauf, Ziele sowie strukturelle und inhaltliche Elemente heraus, geht dezidiert auf das Begleitformat des BPGs ein und fasst abschlieĂend das ProfessionalisierungsverstĂ€ndnis zusammen, wie es sich aus den analysierten Dokumenten ableiten lĂ€sst.
Ab dem 7. Kapitel nun leitet die Autorin ĂŒber zum empirischen Teil der Arbeit und greift die in der Einleitung angesprochenen âForschungsdesiderataâ und âErkenntnisinteressenâ auf und konkretisiert diese. Dabei wird noch einmal das zentrale Anliegen der Untersuchung herausgestellt, welches erstens in der deskriptiven Darstellung der Bilanz- und PerspektivgesprĂ€che besteht und zweitens in einer Rekonstruktion der handlungsleitenden ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse der GesprĂ€chspartner sowie ihrer interaktiven Relationierung.
Ihre Vorgehensweise, um den genannten Fragestellungen nachzugehen, benennt die Autorin im 8. Kapitel (âForschungsdesign und Methodenâ) als explorativ und qualitativ-rekonstruktiv, weshalb sie das Forschungsprojekt im Ganzen zunĂ€chst wissenschaftstheoretisch entsprechend verortet. Sowohl die Einbettung der Studie in die qualitativ-rekonstruktive Forschung als auch die methodologische Reflexion der Dokumentarischen Methode zeugen von einer umfassenden Kenntnis des Instrumentariums. Die ergĂ€nzend zur deskriptiven Darstellung der GesprĂ€che gewĂ€hlte Qualitative Inhaltsanalyse wird anschlieĂend ebenso fundiert und umfassend dargelegt. Auch wenn Zorn in diesem Kapitel die Wahl ihrer methodischen ZugĂ€nge nachvollziehbar begrĂŒndet, wĂ€re noch eine kurze Anmerkung erhellend gewesen, weshalb sie sich gerade den interaktiven PhĂ€nomenen der BPGs nicht mittels einer (pragma-) linguistischen GesprĂ€chs- bzw. Sequenzanalyse annĂ€hert, so wie es auch in denjenigen Untersuchungen zu GesprĂ€chen in Praxisphasen der Fall ist, auf die sie u.a. in ihrem 5. Kapitel zutreffend verweist.
Eine Darstellung der zentralen Ergebnisse dieses geschilderten methodischen Vorgehens erfolgt dann im 9. Kapitel. ZunĂ€chst liefert Zorn eine âdeskriptive Darstellungâ der BPG, die auf der qualitativ-inhaltlichen Analyse des Datenmaterials beruhen, und zeigt schlieĂlich unter beratungstheoretischer Perspektive auf, inwiefern die GesprĂ€che hinsichtlich GesprĂ€chsfĂŒhrungsmethoden und Beratungsimpulsen ausgestaltet werden. Dieser AnnĂ€herung an den Forschungsgegenstand folgt nun eine âexemplarische Darstellung von Fallportraitsâ. Mittels der Dokumentarischen Methode bzw. Interpretation rekonstruiert die Autorin im Folgenden den âfallspezifischen handlungsleitenden Orientierungsrahmenâ (308) der GesprĂ€chsbeteiligten, indem sie drei minimal und maximal kontrastierende FĂ€lle sowie drei ErgĂ€nzungsfĂ€lle einander gegenĂŒberstellt.
Die ausfĂŒhrliche, 117 Seiten umfassende Interpretation und Analyse der FĂ€lle nimmt Zorn auf Grundlage von GesprĂ€chstranskripten vor, die ergĂ€nzt werden von ebenfalls transkribierten Einzelinterviews mit den Studierenden sowie Gruppeninterviews. Diese multiperspektivischen ZugĂ€nge ermöglichen es der Autorin, einen vertieften Einblick in die Ausbildungspraxis sowie in die unterschiedlichen VerstĂ€ndnisweisen von Professionalisierung zu gewinnen.
Diese fallspezifischen Orientierungsrahmen werden anschlieĂend zu einer Basistypik abstrahiert und in unterschiedliche Typen der ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse im BGP spezifiziert. Zorn kann hierbei die Typen âLernenâ, âBegleitungâ, âErfahrungâ und âDeterminierungâ rekonstruieren, die sich im âGrad der Autonomie und AktivitĂ€t [âŠ], der Gestaltung ihrer Ausbildungsbedingungen und ihres Professionalisierungsprozessesâ (472) voneinander unterscheiden.
Das empirische 9. Kapitel abschlieĂend geht die Autorin nun noch der Frage nach, wie die GesprĂ€chsbeteiligten ihr VerstĂ€ndnis von Professionalisierung im GesprĂ€ch (interaktiv) thematisieren und verhandeln. Dabei kommt Zorn zu der â wenig ĂŒberraschenden â Erkenntnis, âdass die beteiligten Akteure im Rahmen der Begleitung entweder identische, sich komplementĂ€r ergĂ€nzende oder divergente bzw. kontrĂ€re ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisse aufweisen könnenâ (478).
Das 10. Kapitel dieser Arbeit liefert schlieĂlich eine âDiskussionâ der Ergebnisse und einen âAusblickâ. Dabei kommt Zorn zu dem Gesamtfazit, dass es sich (1) beim BPG um ein GesprĂ€chsformat handelt, das sich grundsĂ€tzlich von anderen Unterrichtsbesprechungen unterscheidet, dass (2) die BPGs (auch) dazu dienen, kommunikative Praktiken zur Inszenierung von ProfessionalitĂ€t einzuĂŒben und dass (3) âfĂŒr die Gestaltung der Begleitungspraxis angehender Lehrpersonen [âŠ] die interaktive Relationierung unterschiedlicher ProfessionalisierungsverstĂ€ndnisseâ (517) von zentraler Bedeutung ist. Mit einer kritisch-reflexiven und umsichtigen Analyse der inhaltlichen und forschungsmethodischen Limitationen sowie Anschlussmöglichkeiten der Arbeit, wird dieses letzte Kapitel beschlossen.
Insgesamt liefert Sarah Katharina Zorn mit ihrem Buch einen interessanten und tiefgrĂŒndigen Einblick in ein bislang nicht erforschtes GesprĂ€chsformat im Kontext von schulischen Praxisphasen. Sowohl die theoretische Verortung des Forschungsgegenstandes und -kontextes als auch in die anspruchsvolle und fundierte methodische Vorgehensweise sowie die stringente und klarsichtige Analyse zeugen von der Relevanz dieser Untersuchung. Mit ihrer Studie leistet Sarah Katharina Zorn somit einen wesentlichen Beitrag fĂŒr die Forschung zur Professionalisierung in schulischen Praxisphasen.
EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)
Professionalisierungsprozesse im Praxissemester begleiten
Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Bilanz- und PerspektivgesprÀch
Wiesbaden: Springer VS 2020
(586 S.; ISBN 978-3-658-30302-0; 69,99 EUR)
Felician-Michael FĂŒhrer (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Felician-Michael FĂŒhrer: Rezension von: Zorn, Sarah Katharina: Professionalisierungsprozesse im Praxissemester begleiten, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Bilanz- und PerspektivgesprĂ€ch. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830302.html
Felician-Michael FĂŒhrer: Rezension von: Zorn, Sarah Katharina: Professionalisierungsprozesse im Praxissemester begleiten, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Bilanz- und PerspektivgesprĂ€ch. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365830302.html