Die als Dissertation veröffentlichte Studie, die sich im Feld der interpretativen Sozialforschung verortet, will zeigen, wie sich in der Phase beruflicher Übergänge Prozesse körperlich-leiblicher Subjektivierung bei jungen Erwachsenen gestalten. Dabei wird die Phase des Übergangs als besondere Bewältigungslage verstanden, die körpertheoretisch noch nicht erschlossen sei. Kerstin Discher fragt daher erstens danach, welche individuelle Bedeutung dem Körper in dieser Phase beigemessen wird, zweitens, mit welchen körperlich-leiblichen Positionierungen sich junge Erwachsene in Bezug zur Arbeitswelt setzen sowie drittens, welche symbolisch-normativen Dimensionen von Körperlichkeit sich in dieser Hinsicht rekonstruieren lassen. Motiviert wird diese Themenstellung u.a. durch die Frage, wie in neoliberal strukturierten Gesellschaften (sozial-)pädagogische Praktiken zu gestalten sind, wenn sich Soziale Arbeit und Pädagogik emanzipativ gegenüber den repressiven Bestrebungen sozialpolitischer Aktivierungsdiskurse verhalten wollen.
Mit der Fokussierung auf die körperlichen Aspekte von Subjektivierungsprozessen reagiert Discher innovativ auf Desiderate der sozialwissenschaftlichen und (sozial-) pädagogischen Forschung. Denn die Frage nach der sozialen Bedeutung des Körpers für Bildungs- und Erziehungskontexte muss, trotz einer erstarkenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Körperforschung, noch immer als unterforscht gelten. Dies weist die Autorin nicht nur für die Kontexte der Jugendforschung, sondern auch für die (Sozial-)Pädagogik nach. Zwar sei der Wandel des Sozialstaates bereits vielfach diskutiert, welche körpertheoretischen und -praktischen Implikationen sich für aktuelle (sozial-)pädagogische Verhältnisse ergäben, sei jedoch weiterhin ungeklärt.
Basierend auf diesen Interessen werden im ersten Teil der Arbeit die theoretischen Rahmungen expliziert. Unter Rückgriff auf bekannte soziologische Beschreibungsfiguren – wie z.B. das ‚unternehmerische Selbst‘ (Bröckling) – und mit Verweis auf den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zum Thema Körper, werden jene gesellschaftlichen Verschiebungen beschrieben, die unter Vernachlässigung von strukturellen Zusammenhängen die Eigenverantwortung des Individuums betonen. Discher legt dar wie dabei Körper unter den Anspruch von Beschäftigungsfähigkeit gesetzt werden und in welcher Art Individuen mit den Idealen körperlicher Leistungsfähigkeit konfrontiert sind. Zudem stellt sie fest, dass Körpern, die in diesem Diskurs z.B. als alt, übergewichtig oder ungesund problematisiert werden, die Anerkennung größtenteils verwehrt bleibt. Dies führe zu einem gesellschaftlich hohen Interesse, Körper zu disziplinieren. Dabei sei zu konstatieren, dass insbesondere junge Erwachsene zu großen Teilen affirmativ auf die gesellschaftlichen Ansprüche reagieren, da sie die Rede von der Eigenverantwortlichkeit internalisiert hätten.
Wie die Autorin selbst feststellt, wurden die den Ausführungen zugrundeliegenden subjekttheoretischen Bezüge bereits weitläufig in (sozial-)pädagogischen Debatten rezipiert. Als Besonders muss jedoch herausgestellt werden, dass Discher alle Theoriefiguren konsequent körperbezogen wendet. Dies gilt auch für die Bezüge aus den Cultural Studies, die auf den Zusammenhang von Subjektivierung und Körper u.a. mithilfe von poststrukturalistischen Ansätzen (z.B. Foucault) körpertheoretisch dimensioniert werden. Auf diese Weise gelingt es, den Körper als Dimension des Sozialen auszuarbeiten, sogar mit Verweis auf intersektionale Zusammenhänge. Produktiv erweist sich darüber hinaus der Versuch, die subjekttheoretischen Grundlagen in Bezug zu körperlichen Erfahrungen und dem leiblichen Spüren zu setzen. Dies wird durch phänomenologische Ansätze (Schmitz) und über eine Ausarbeitung der Figurationen des ‚körperlichen Leibs‘ und des ‚leiblichen Selbst‘ unternommen. Einzig irritierend wirkt, dass jugendtheoretische Perspektiven nicht stärker ausgearbeitet werden – dabei hatte die Autorin diesbezüglich eine Forschungslücke identifiziert.
Im folgenden zweiten Teil werden die körpertheoretischen Setzungen empirisch aufgegriffen. Dafür wählt die Autorin einen biographieanalytischen Zugang. Ein Argument hierfür ist, dass in beruflicher Hinsicht Individuen dazu aufgerufen seien, sich produktiv zu den stets wandelnden Erwerbserfordernissen ins Verhältnis zu setzen. Zudem argumentiert Discher, dass die Arbeit an der eigenen Biographie in Form eines doing biography in das gesellschaftliche Anspruchssystem integriert sei. Im Wechsel von Datenerhebung und -auswertung (theoretical sampling nach Glaser/Strauss) wurden vierzehn biographisch-narrative Interviews geführt. Alle Interviewten waren zum Zeitpunkt der Erhebung in der Phase des beruflichen Übergangs. Sie sind sehr heterogenen sozialen Milieus zuzuordnen. Da Discher nicht nur davon ausgeht, dass dem biografischen Erzählen körperliche Erfahrungen zugrunde liegen, sondern auch, dass die individuellen Auffassungen vom eigenen Körper die diskursiv-symbolischen Ordnungen von Gesellschaft repräsentieren, wurde in den Interviews die Kategorie Körper nicht explizit thematisiert. Die jungen Erwachsenen waren lediglich dazu aufgefordert ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die Auswertung erfolgte nach Rosenthal. Drei der vierzehn Interviews werden vertiefend in Form von biografischen Fallrekonstruktionen dargestellt.
Im Ergebnisteil, dem dritten Abschnitt der Studie, werden zunächst die körperlichen Subjektpositionen herausgearbeitet. Dabei werden körperbezogene Artikulationen in Bezug zu gesellschaftlichen Ansprüchen gesetzt. Es zeigen sich in den Fallverdichtungen Figurationen des disziplinierten, des überwindbaren und des begrenzenden Körpers, mit denen die jungen Erwachsenen individuell auf den gesellschaftlichen Diskurs um Körperlichkeit antworten. Diese Positionen werden von Discher körpertheoretisch eingeordnet und als erlebte und erspürte Erfahrungen rekonstruiert. Erkennbar wird dadurch wie sich auf körperlich-leiblicher Ebene soziale Ordnungen sedimentieren. Im Ergebnis kann in dieser Weise von ihr gezeigt werden, dass die Körper von jungen Erwachsenen in der Phase des beruflichen Übergangs als zentrales und permanentes Medium der Bewältigung fungieren. Damit ist auch für die (sozial-)pädagogische Diskussion um berufliche Übergänge empirisch nachgewiesen, dass und auf welche Weise Körper als Orte der Materialisierung symbolischer Ordnungen anzusehen sind. So werden von den Interviewten Erfahrungen stets in leib- und körperbezogene Narrationen übersetzt. Discher vermutet mit Bezug zum Forschungsstand, dass dies deshalb geschieht, da soziale Interaktionen Gefühle evozieren, die sich in grundlegende Körperwahrnehmungen übersetzen.
Als herausragend ist zudem ein weiteres Ergebnis der Autorin einzuschätzen. Sie kann zeigen, dass in den Interviews Körper v.a. dann biografisch thematisch werden, wenn Handlungsfähigkeit fehlt. Sie weist damit nach, dass gesellschaftlich desintegrative Prozesse – wie z.B. Erfahrungen des Scheiterns oder fehlender sozialer Anerkennung – nicht nur über Körperlichkeit erfahren, sondern vordringlich körperlich-leiblich bearbeitet werden.
Wie diese Ergebnisse in Bezug auf die Differenzkategorie Alter (Jugendlichkeit) zu theoretisieren sind und wie die Kernkategorien (race, class, gender) dazu ins Verhältnis gesetzt werden können, müsse, so die Autorin, noch unbearbeitet bleiben. Das methodische Rüstzeug dazu fehle. Das scheint angesichts der Forschungslage plausibel. Etwas schade ist jedoch, dass die Ergebnisse zwar an die Befunde der Übergangs- und Bewältigungsforschung rückgebunden werden, eine weitere Einbettung in erziehungs- und bildungstheoretische und darüber hinaus in sozialpädagogische Theoriehorizonte nicht vorgenommen wird, obwohl Körperlichkeit auch als „Reflexionskategorie für Bildungsprozesse“ (S. 5) in den Blick genommen werden sollte. Allerdings verweist die Autorin sinnvoll auf die normativen Ansprüche ihrer Ergebnisse. So sei eine Körperpädagogik, die auf Zurichtung und soziale Einhegung des Körperlichen ziele, als nicht adäquat anzusehen.
Neben der Würdigung der wichtigen Ergebnisse der Arbeit, kann übergreifend festgestellt werden, dass die Studie den empirischen Zusammenhang von individueller Körperlichkeit in Bezug auf den gesellschaftlichen Anspruch auf Employability theoretisch außerordentlich produktiv ausgearbeitet hat. In dieser Hinsicht erweist sie sich als grundlagentheoretischer sowie körpersystematischer Beitrag nicht nur für das Feld der Sozialen Arbeit, sondern auch für sozial- und erziehungswissenschaftliche Zusammenhänge.
EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)
Körper, Leib und Employability
Narrative Perspektiven junger Erwachsener auf den Aktivierungsdiskurs
(Transformation des Sozialen – Transformation Sozialer Arbeit, Bd. 9)
(Transformation des Sozialen – Transformation Sozialer Arbeit, Bd. 9)
Wiesbaden: Springer VS 2020
(267 S.; ISBN 978-3-658-29075-7; 99,00 EUR)
Sylvia Wehren (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sylvia Wehren: Rezension von: Discher, Kerstin: Körper, Leib und Employability, Narrative Perspektiven junger Erwachsener auf den Aktivierungsdiskurs (Transformation des Sozialen – Transformation Sozialer Arbeit, Bd. 9). Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365829075.html
Sylvia Wehren: Rezension von: Discher, Kerstin: Körper, Leib und Employability, Narrative Perspektiven junger Erwachsener auf den Aktivierungsdiskurs (Transformation des Sozialen – Transformation Sozialer Arbeit, Bd. 9). Wiesbaden: Springer VS . In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365829075.html