EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Matthias Huber
Emotionen im Bildungsverlauf
Entstehung, Wirkung und Interpretation
Wiesbaden: Springer VS 2020
(370 S.; ISBN 978-3-658-28830-3; 54,99 EUR)
Emotionen im Bildungsverlauf Da jeder Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Erlebens- und Handlungsprozess auch ein emotionales Geschehen ist, widmet sich die Studie „Emotionen im Bildungsverlauf“ von Matthias Huber einem zentralen Thema. Emotionen sind – wie auch der Autor aufzeigt – zwar seit langem Bestandteil bildungswissenschaftlicher Betrachtungen, ihre Bedeutung und Funktion rücken aber seit Kurzem wieder dezidiert in den Fokus von Bildungswissenschaft, Schul- und Unterrichtsforschung sowie pädagogischer Praxis. Huber schließt an diese Neujustierung an und betrachtet zudem eine für die Biografie der Subjekte bedeutsame Phase. Der Autor untersucht nämlich, welche Bedeutung und Tragweite Emotionen für Bildungsverläufe und Bildungslaufbahnentscheidungen aus der Sicht von Schüler*innen am Übergang von der Sekundarstufe II in die tertiäre Bildung zukommen und welche Einflussfaktoren und Vorstellungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte emotionale Markierungen konstituieren.

Die Arbeit ist entlang von vier Teilbereichen aufgebaut: Theorie, Methoden und Methodologie, Ergebnisdarstellung sowie Diskussion und Fazit. Dem Gegenstand Emotionen nähert sich der Autor zunächst in einem bei Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.) beginnenden historischen und problemgeschichtlichen Zugang, indem er ausblickshaft Emotionen und ihr Verhältnis zu sowie ihre Bedeutung für Bildung theoriegeschichtlich analysiert. Anschließend wird im Konkreten ihr Einfluss innerhalb von Bildungsprozessen und Bildungsverläufen nachgezeichnet und auf die Aktualität der Beziehung von Bildung und Emotionen in der Bildungswissenschaft verwiesen. Blickpunkt der Betrachtung ist, „wie die Vergangenheit im aktuellen Diskurs verhandelt“ wird (11). Die unterschiedlichen (philosophischen, bildungswissenschaftlichen und pädagogischen) Ansätze bzw. deren Erkenntnisse werden trotz ihrer Unterschiede in Form von normativen Thesen zusammengefasst. Dies dient dazu, den allgemeinen Stand der Forschung zu skizzieren.

Die in den dargestellten Ansätzen verwendeten Begriffe wie Emotion, Gefühl, Affekt usw. verdeutlichen bereits, wie schwierig es ist, sich Emotionen konzeptionell zu nähern. Daher ist die Erläuterung des der Studie zugrunde liegenden Emotionsverständnisses bereits als ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit zu betrachten. Das Konzept der emotionalen Markierungen, welches Hubers Emotionsverständnis auszeichnet, umfasst stark zusammengefasst „die bewusste und nichtbewusste emotionale Bewertung von Vorstellungsbildern, Repräsentationen und Erfahrungen der eigenen Lebens- und Lerngeschichte“ (82). In der umfangreichen Aufarbeitung der heterogenen Forschungslandschaft (die unter anderem bildungstheoretische sowie aktuelle inter- und subdisziplinäre Diskurse und emotionstheoretische Zugänge umfasst) immer konkreter werdend, kann der Autor herausarbeiten, dass Emotionen für Bildungslaufbahnentscheidungen von zentraler Bedeutung sind – auch wenn in vielen Studien diese nicht explizit Gegenstand der Untersuchung sind. Zudem zeigt sich, dass die Bildungslaufbahnentscheidung am Ende der Sekundarstufe II eine andere Struktur und Kontextuierung aufweist als vorherige Bildungsübergänge.

Konstitutiv für die empirische Erforschung des Erkenntnisinteresses ist das Forschungsprojekt EMOTISION (als begriffliche Zusammensetzung aus den englischen Wörtern emotion und decision). Dieses am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien im Jahr 2016 initiierte und bis 2020 durchgeführte Forschungsprojekt sucht einen Zugang zur Lebenswelt von Schüler*innen und damit zu deren subjektiven emotionalen Erleben und Wahrnehmen, wobei das Sample aus zwölf Schüler*innen besteht. Der Autor hat einen multi-methodischen Forschungszugang genutzt, in dem unterschiedliche Datenquellen analysiert werden. Das komplexe methodische Vorgehen bei der Datenauswertung wird dabei in der gebotenen Kürze nachvollziehbar vorgestellt.

Der gewählte offene und flexible Mixed-Methods-Ansatz ermöglicht nicht nur die unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Methoden und Datenquellen, sondern auch die verschiedenen epistemologischen Grundlagen des Forschungsprojektes unter dem leitenden Erkenntnisinteresse zu integrieren. So werden nicht nur Videoaufzeichnungen aus den Workshops mit den Schüler*innen sowie daraus stammende Materialien und Produkte einbezogen, sondern auch die Forschungstagebücher und eine Stammdatensammlung der Schüler*innen. Die Daten wurden einerseits mit der interpretativen, qualitativen Videoanalyse (ISQIA) und einer standardisierten, quantitativen Videoanalyse (Rating) sowie andererseits im Rahmen der Arbeit in Fokusgruppen im Sinne eines partizipativen Auswertungsprozesses ausgewertet.

Die vorherige Aufzählung verdeutlicht die Komplexität der Studie. Ziel ist, die Signifikanz und Validität der sich unterscheidenden Datenquellen zu erhöhen, zentrale Ergebnisse wechselseitig zu bestätigen und den verschiedenen theoretischen und empirischen Ambitionen des Projektes Rechnung zu tragen. Auf methodologischer Ebene verortet sich Huber daher in der Tradition des „dialektischen Pluralismus“ (158), welcher ausgehend von einem Metaparadigma eine „Sowohl-Als-Auch Perspektive“ (ebd.) verfolgt. Dadurch schafft es der Autor, die theoretische und empirische Komplexität zu bewältigen, wenn auch auf Kosten der Herausarbeitung paradigmatischer Unterschiede, welche zur Schärfung und Beurteilung der Aussagekraft der Ergebnisse beitragen könnten. Bei der Ergebnisdarstellung und -diskussion geht es folglich um das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten, die Kombination unterschiedlicher Positionen und ein selbstreflexives, dialektisches Verstehen.

Mit dem zuvor skizzierten Vorgehen leistet Huber einen beachtenswerten Beitrag zur Frage nach der methodisch-methodologischen Erforschung von Emotionen in einer subjektorientierten Perspektive. Der Autor nimmt Emotionen dabei mehrdimensional in den Blick. Interessant wäre es in diesem Zusammenhang gewesen, auch kollektive Emotionen und damit Formen der Sozialität stärker einzubeziehen. Bemerkenswert an der Studie ist die stete Reflexion des eigenen Vorgehens, die nicht nur in der Durchführung und Auswertung einer Pilotstudie mit der Erprobung von Setting und Methode ihren Ausdruck findet, sondern auch in der kritischen Reflexion der Untersuchung, welche einige zentrale Grenzen der Studie markiert. Diese entstehen beispielsweise durch den explorativen Anspruch, die Samplegröße und die zum Teil nicht standardisierten Erhebungsmethoden (inhaltliche Gestaltung der Workshops). Welche Erkenntnisse generiert aber die Studie?

Ein wichtiges Ergebnis ist, dass Emotionen und emotionale Markierungen dazu beitragen, den Übergang zwischen Schule und Hochschule wie auch den Übergang in das junge Erwachsenenalter zu bewältigen. Emotionale Markierungen steuern und regulieren die der eigenen Identitätsfindung zugrunde liegende Suchbewegung, sie sind als Persönlichkeitsvariablen zentral für das eigene Selbstbild, sie befördern die persönliche Leistungsbereitschaft, Moralentwicklung und Problemlösekompetenz, sie machen auf persönliche Relevanzsetzungen aufmerksam, ihnen ist als subjektive Erlebnisqualitäten ein intentionaler Gehalt für das Individuum inhärent, sie evaluieren und antizipieren vor dem Hintergrund vergangener Beziehungserfahrungen und Schlüsselerlebnisse zukünftige Erlebnisse und sie bieten ein mentales Grundgerüst für die Transfer- und Vermittlungsleistungen in der Bewältigung von Neuem. Stolz, das Erleben von Freude, Spaß und Begeisterung sowie Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen stellen sich in der Studie als die Emotionen und emotionalen Qualitäten heraus, die für die Bewertung der persönlichen Lebens- und Lerngeschichte im Bildungskontext (und auch für die Entstehung emotionaler Markierungen) subjektiv bedeutsam sind, wohingegen Angst eine negative und hemmende Wirkung zugeschrieben werden kann. Die Bildungslaufbahnentscheidung wird laut vorliegender Studie am Ende der Sekundarstufe II primär von der emotionalen Bewertung der zukünftigen Tätigkeitsbereiche, Berufsbilder und des professionellen Selbstverständnisses beeinflusst.

Abschließend leitet Huber Implikationen für die bildungswissenschaftliche Theorieentwicklung und pädagogische Praxis ab, die es im Anschluss an die Studie theoretisch und praktisch weiter zu konkretisieren gilt. Mit dieser lesenswerten Studie wird somit für beide Bereiche – bildungswissenschaftliche Theorieentwicklung und pädagogische Praxis – deutlich, wie wichtig das Einbeziehen von Emotionen ist. Die zahlreichen Zusammenfassungen und Überleitungen helfen dabei, trotz der hohen Komplexität und vielfältigen Ansätze den Überblick zu behalten und der stringenten Argumentationslinie des Autors zu folgen.
Julia Sotzek (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Sotzek: Rezension von: Huber, Matthias: Emotionen im Bildungsverlauf, Entstehung, Wirkung und Interpretation. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365828830.html