Die Anforderung an Grundschulen, sozialen Ungleichheiten zu begegnen, sind gestiegen und stellen diese vor Herausforderungen. Diesem Thema widmet sich der vorliegende Sammelband zu „Diversität und soziale Ungleichheit in der Grundschule“, die als einzig „echte Gesamtschule“ (2) bezeichnet wird. Der Band behandelt die übergeordnete Frage, inwiefern die Grundschule weiterhin soziale Ungleichheiten reproduziert und beantwortet diese mit unterschiedlichen empirischen Beiträgen.
Dabei handelt es sich um einen Tagungsband zur 27. Jahrestagung „Jahrbuch Grundschulforschung“. Nach der Einleitung (Kapitel 1) befinden sich die drei Hauptbeiträge der Tagung in Kapitel 2. Ausgehend von erziehungswissenschaftlichen, soziologischen und psychologischen Perspektiven haben die Herausgeber/innen in den Kapiteln 3 bis 9 ausgewählte Symposien und Einzelbeiträge versammelt.
Die Schwerpunkte führen die Herausgeber/innen in der Einleitung sehr knapp ein, verbunden mit kurzen Zusammenfassungen der Beiträge. Der zweite Teil (Kapitel 2) gibt die Hauptbeiträge wieder: Diehm zur pädagogischen Herausforderung der Differenz, wobei sie für eine klare Trennung der Begriffe Heterogenität und Differenz plädiert, Röhner zu den Lebenslagen, Bildungs- und Teilhabechancen von zugewanderten Schüler/innen, und Jurecka und Hartbarth zu aktuellen Herausforderungen der quantitativen und qualitativen Ungleichheitsforschung.
Der dritte Teil (Kapitel 3) fokussiert auf „Strukturelle Mechanismen von sozialer Ungleichheit“. Hier benennen die Herausgeber/innen eine Schwerpunktsetzung der Beiträge auf die strukturelle Ebene der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit sowie auf Schulentwicklungsprozesse. Die thematische Spannbreite der Beiträge reicht von sozialräumlicher Ungleichheit und Segregation (Heinzel und Parade) über Beschulungsmodelle für Schüler/innen mit Fluchthintergrund (Röhner et al.) hin zu multiprofessioneller Kooperation zwischen Grundschule und Familie (Betz et al.) und Kita und Frühforderung (Hamacher und Seitz). Ein Beitrag fokussiert auf Schulentwicklung (Bohlmann et al.) sowie zwei weitere Beiträge auf historische Analysen von Diversitätsmerkmalen in Schüler/innenpersonalbögen (Sauer und Vogt; Floth und Vogt). Nicht in allen Beiträgen des Kapitels lässt sich eine strukturelle Komponente bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit herauslesen.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit der „Akteursperspektive im Kontext von sozialer Ungleichheit“, vor allem mit der Perspektive von Lehrkräften. In den acht Beiträgen werden die Perspektiven von (ehemaligen) Schüler/innen, Lehramtsstudierenden, Lehrpersonen und Eltern beleuchtet. Vier Beiträge beinhalten die Akteursperspektive der Lehrpersonen, zwei stellen die Elternperspektive ins Zentrum und zwei sind multiperspektivisch. Die Perspektive der Schüler/innen selbst ist eher unterbelichtet, da sich lediglich ein Beitrag – und auch nur retrospektiv – mit deren Perspektive auf Behinderung befasst. Die empirischen Methoden, um die Akteursperspektiven auf soziale Ungleichheit abzubilden, sind vielfältig und bedienen sich quantitativer und qualitativer Methodiken, Fallbeispielen und Literaturanalysen. Der letzte Beitrag (Wiedenhorn und Semmelroch) sticht mit einer soziologischen Perspektive auf elterliche Bildungsentscheidungen hervor.
Im Zentrum von Kapitel 5 „Umgang mit Diversität in der Grundschule“ steht die Frage, inwiefern die Grundschule selbst Ungleichheiten reproduziert – die vielleicht wichtigste Frage des Bandes. Eckermann und Meier erörtern die Gefahr, ob mittels „didaktischer Differenzierung ein Beitrag zur (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit“ (132) geleistet wird. Liebers erforscht Gleichheitserwartungen und diagnostische Praktiken zu Schulbeginn. Langer und Schnebel untersuchen die Nutzung von Förderressourcen – ein Beitrag, der Kapitel 3 bereichert hätte, da er systemische Fragen aufwirft und Implikationen für die Schulentwicklung aufzeigt. Beiträge zu Differenzkonstruktionen bilden den Kern des Kapitels (Franz; Spiegler). Zwei sozialräumlich-orientierte Beiträge – über den Einfluss der Lernatmosphäre (Pfrang) und Lernen an außerschulischen Orten (Baar et al.) – runden das Kapitel ab.
Das konzeptionell runde Kapitel 6 stellt den „Umgang mit sprachlicher Diversität“ in den Vordergrund. Es startet mit zwei Beiträgen am Übergang Kita-Grundschule zur Sprachförderung (Kämpfe und Betz) und zur Gestaltung der Anschlussfähigkeit (Henke). Es folgen Beiträge zur Mehrsprachigkeit (Erdogan und Mehlem; Hack-Cengizalp) und zu Überzeugungen von Grundschullehrkräften zum Umgang mit Kindern nicht-deutscher Erstsprache (Lange et al.). Morrin verfolgt einen theaterpädagogischen Zugang zu Sprachwissen und Odersky untersucht das Schreiben.
Im Kapitel „Fachdidaktischer Umgang mit Diversität“ (Kapitel 7) beschäftigen sich Oberfell und Lohrmann mit adaptivem Lernen im Sachunterricht, Mester mit „fachdidaktischem Wissen für einen inklusiven Sachunterricht“ (239). Eschrich und Henrich untersuchen Sachunterrichtsdidaktik gemeinsam mit Schüler/innen und Studierenden. Skorsetz und Welzel-Breuer befassen sich damit, wie man Lernangebote in den Naturwissenschaften auf die individuellen Bedürfnisse von Vorschulkindern abstimmt. Oberhauser und Schönknecht zeigen anschaulich auf, welches Potenzial der Zeichenunterricht für heterogene Gruppen birgt. Zwei Beiträge zu Didaktik und Diversität im Mathematikunterricht (Dexel; Friesen) runden das Kapitel ab.
Kapitel 8 „Professionalisierung für inklusive Settings“ beinhaltet fünf Beiträge, die sich mit Behinderung aus der Perspektive von Lehrkräften auseinandersetzen. Während der erste Beitrag Patenschaftsprojekte skizziert, beschäftigt sich der zweite Beitrag mit Grundschullehrpersonen, die in inklusiven Settings unterrichten. Der dritte Beitrag stellt professionsspezifische Aspekte der Kooperation in den Fokus und schließt aus den Ergebnissen der Interviews, dass „die befragten Lehrkräfte dann die Kooperation im Team besonders positiv bewerten, wenn sie diese als gemeinsame Verantwortung erleben“ (286). Im vierten Beitrag wurden Lehrkräfte zu ihren Sichtweisen auf die Qualität inklusiven Unterrichts befragt. Dabei stellten sich Individualisierung und Differenzierung als wichtige Strategien für einen inklusiven Unterricht heraus. Der letzte Beitrag befasst sich mit drei Überzeugungstypen zu Inklusion, die auf Basis von problemzentrierten Interviews mit Lehramtsstudierenden rekonstruiert werden. Insgesamt hätten alle Beiträge des Kapitels von stärkeren professionstheoretischen Bezügen in der jeweiligen Diskussion profitiert.
Kapitel 9 schließt an den Professionalisierungsdiskurs an und thematisiert „Professionalisierung im Umgang mit Diversität und sozialer Ungleichheit“ – im Vergleich zu Kapitel 8 setzt es keinen spezifischen Fokus auf Behinderung. Der erste Beitrag (Inkemann et al.) bespricht Mentoring- und Lernpatenprojekte mit Kindern mit Migrations- oder Fluchthintergrund. Damit spricht der Beitrag sowohl sprachliche als auch soziale Diversität an, wobei nicht durchgängig zwischen Migration und Flucht differenziert wird. Die Bedeutung solcher Projekte geht aus dem Beitrag klar hervor: Sie stärken die Berufswahl von Lehramtsstudierenden und die Selbstwahrnehmung in der Praxis. Im zweiten Beitrag (Pieper und Kottmann) beteiligen sich Lehramtsstudierende an einem Schüler/innenhilfeprojekt, was zum Verstehen diverser Lebenssituationen beiträgt. Der dritte Beitrag (Gläser) untersucht das Professionswissen von Lehramtsstudierenden zu „Digitalisierung“ und zeigt dringenden Aufholbedarf auf. Der vorletzte Beitrag (Bischoff) widmet sich dem Habitus von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen und beschreibt als einziger Beitrag des Kapitels nicht die Perspektive von Lehramtsstudierenden. Der letzte Beitrag (Grewe et al.) kann nachweisen, dass die professionelle Wahrnehmung – als wesentliche Voraussetzung für angemessenes Lehrer/innenhandeln – durch eine videobasierte Lehrveranstaltung gefördert werden kann. Der Ablauf einer solchen Lehrveranstaltung wird in vier Schritten beschrieben und eignet sich besonders gut zum Transfer.
Der Band stellt insgesamt eine bemerkenswerte Bündelung empirischer Befunde zur sozialen Ungleichheit und Diversität von Schüler/innen an Grundschulen dar, die durchgängig thematisch gut strukturiert sind und innovative methodische und theoretische Zugänge aufweisen. Eine strukturelle Limitation bilden die jeweiligen Abstracts der Beiträge, die in Länge und Struktur recht uneinheitlich ausfallen. Nichtsdestotrotz wird durch den Band die Heterogenität an methodisch-empirischen Herangehensweisen an Diversität und soziale Ungleichheit deutlich, da hier insgesamt ein breites Forschungsfeld eröffnet und das Zusammendenken unterschiedlicher Wissenstraditionen ermöglicht wird. Das Ziel, im Band erziehungswissenschaftliche, soziologische und psychologische Perspektiven abzubilden, konnte durch theaterpädagogische Beiträge ergänzt werden. Die einzelnen Beiträge weisen in unterschiedlichem Maße einen direkten Bezug zu sozialer Ungleichheit auf. Während Behinderung, Kultur, Sprache, Flucht und Migration häufige Themen des Bandes sind, ist Religion als Dimension von Diversität zu kurz gekommen. Der Band bietet diverse Möglichkeiten für Forschende, Lehrpersonen und Verantwortliche in Grundschulen, auf good practices aufmerksam zu werden und diese für die eigene Praxis zu adaptieren. Durch einen abschließenden Beitrag der Herausgeber/innen hätten noch das Transferpotenzial auf andere Schulformen sowie praktische Implikationen zugespitzt werden können.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
Diversität und soziale Ungleichheit
Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule
Wiesbaden: VS Springer 2020
(345 S.; ISBN 978-3-658-27528-0; 59,99 EUR)
Katharina Resch (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katharina Resch: Rezension von: Skorsetz, Nina / Bonanati, Marina / Kucharz, Diemut (Hg.): Diversität und soziale Ungleichheit, Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule. Wiesbaden: VS Springer 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365827528.html
Katharina Resch: Rezension von: Skorsetz, Nina / Bonanati, Marina / Kucharz, Diemut (Hg.): Diversität und soziale Ungleichheit, Herausforderungen an die Integrationsleistung der Grundschule. Wiesbaden: VS Springer 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365827528.html