EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Malte Brinkmann/ Johannes Türstig/ Martin Weber-Spanknebel (Hrsg.)
Leib – Leiblichkeit – Embodiment
Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes
Wiesbaden: Springer VS 2019
(423 S; ISBN 978-3-658-25516-9; 49,99 EUR)
Leib – Leiblichkeit – Embodiment Die aktuelle Fokussierung auf den Leib in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, wie z.B. der Philosophie, der Medizin oder den Erziehungs-, Sozial- bzw. Kognitionswissenschaften verweist sowohl auf die Bedeutung des Leibphänomens als auch auf das Interesse der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesem. Der Leib ist dabei Objekt medialer, biotechnischer bzw. kultureller Praktiken. Auch in der Pädagogik wird sich in vielfältigen Theorien, Praktiken und Institutionen auf den Leib bezogen. Diese Leibbezogenheit war lange von einer Marginalisierung, Disziplinierung und Normalisierung des Leibes geprägt. Die Phänomenologie hingegen hat schon früh im 20. Jahrhundert einen präzisen Begriff des Leibes entwickelt, indem sie mit einer nicht-dualistischen Theorie des Leibes das Verhältnis von Leib und Denken neu bestimmt. Hier finden sich eine Vielzahl leibphänomenologischer Ansätze (z.B. bei Husserl, Merleau-Ponty oder Waldenfels) und in der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft hat sich daran anschließend eine leibphänomenologisch orientierte Pädagogik entwickelt (z.B. Meyer-Drawe, Brinkmann). In der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft sind die Perspektive auf den Leib und die Fragen nach dem systematischen und praktischen Zusammenhang von Leiblichkeit, Lernen und Erziehung zu einem viel beforschten bzw. diskutierten Inhalt geworden.

Der Sammelband „Leib – Leiblichkeit – Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes“ knüpft an den in der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft geführten Diskurs über Leib und Köper an und reflektiert, wie sich phänomenologische Konzepte des Leibes in der Pädagogik zu anderen Ansätzen positionieren lassen. Der Band geht aus dem vierten internationalen Symposium zur Phänomenologischen Erziehungswissenschaft hervor, das im September 2017 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Ausgehend von einer phänomenologischen Thematisierung von Leiblichkeit und Körperlichkeit ist ein Kernanliegen des Bandes, das Verhältnis von Leibphänomenologie und diskursanalytischen, performativen und praxis- sowie kognitionstheoretischen Ansätzen zu diskutieren, um so weiterführende Perspektiven zu einer pädagogischen Phänomenologie des Leibes zu entwickeln.

Die Einleitung des Bandes zeigt umfassend, wie sich der Leib-Begriff in der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft entwickelt hat bzw. wie er verstanden wird. Die 21 Beiträge (inter-) nationaler Autor*innen aus den Bereichen Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Kunst- und Kulturwissenschaften, Schulpädagogik, Philosophie und Pädagogik der Frühen Kindheit beziehen sich auf klassische phänomenologische Theorien, integrieren aber auch freiere Adaptionen phänomenologischer Zugänge. Die Lektüre des Buches bietet sich durch die Berücksichtigung unterschiedlicher disziplinärer Zugänge zum Leibphänomen und des praktischen Zusammenhangs von Leiblichkeit, Lernen und Erziehung für Bildungstheoretiker*innen, Theoriehistoriker*innen, qualitative Empiriker*innen, Wissenschaftler*innen der benachbarten Disziplinen, wie der Philosophie oder Psychologie und für in der Praxis arbeitende Pädagog*innen an. Unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven wird in den Beiträgen dargestellt, was (leib-) phänomenologisches Denken für die Erziehungswissenschaft leisten kann. Insbesondere wird dadurch ein erfahrungsorientierter Bezug deutlich, welcher auf den Menschen als leibliches, in eine konkrete Lebenswelt eingebundenes Wesen zielt und nicht als abgehobenes Subjekt. (Leib-) phänomenologisches Denken ermöglicht es, nicht eine objektive Zuschreibung, sondern subjektive Erfahrung zu fokussieren, welche das Lernen als Erfahrung erst beschreibbar macht. So werden neben theoretischen und methodischen auch praktische Impulse für erziehungswissenschaftliches Denken gegeben. Dabei konzentrieren sich die in fünf Teile gruppierten Texte auf unterschiedliche Facetten phänomenologischen Denkens und Forschens.

In einer historischen und systematischen Zusammenschau präsentieren die Autor*innen des ersten Teils Reflexionen zum Leibphänomen. Foki werden auf Möglichkeiten und Grenzen hermeneutischer Zugangsweisen (Brinkmann, Engel), auf ein Verständnis von Leib im phänomenologischen und pädagogischen Kontext (Vlieghe, Breuer) und auf die Verbindung phänomenologischer und kognitionswissenschaftlicher Zugänge gerichtet (Schäfer). Hier gelingt es den Autor*innen, neue Möglichkeiten für eine pädagogische Empirie zu thematisieren sowie Perspektiven auf Lernen, Bildung und Didaktik aufzuzeigen, wodurch Impulse für qualitative Forschungsvorhaben geliefert werden.

Der zweite Teil des Bandes fokussiert das Verhältnis von Phänomenologischer Erziehungswissenschaft und diskurs- bzw. praxistheoretischen Positionen, wobei aktuelle Embodiment-Diskurse und eine damit verbundene leiborientierte Perspektive im Zentrum stehen. In den Beiträgen konzentrieren sich die Autor*innen auf die Verhältnisse von Performativität und Leiblichkeit (Orlikowski, Laner) sowie Subjektivität und Sozialität (Hoffarth und Magyar-Haas; Stenger; Agostini, Peterlini und Schratz). Insbesondere der letzte Beitrag legt durch den Einsatz einer Vignetten-Forschung für qualitativ arbeitende Erziehungswissenschaftler*innen nahe, das Potential der Phänomenologie zu nutzen und weiterzuentwickeln.

Autor*innen des dritten Teils des Bandes setzen sich mit neurophänomenologischen Zugängen auseinander. Dabei greifen sie Erkenntnisse aus den Kognitions- und Neurowissenschaften auf und verbinden diese mit grundlegenden Einsichten aus der Phänomenologie. Es wird auf die leibliche sowie soziale Verfasstheit von kognitiven Prozessen aufmerksam gemacht (Francesoni und Tarozzi, Leysen). Von besonderem Interesse ist der Einsatz einer „Embodied Cognition Theory“, die im Gegensatz zu populären neurowissenschaftlichen Positionen in der Lage ist, die historische, kulturelle und soziale Einbettung von Kognitionen auszuweisen.

Im vierten Teil des Bandes finden sich Beiträge, in denen aisthetische (Shchyttsova, Westphal, Agostini) und anthropologische Zugänge (Althans, Zumhoff) auf unterschiedliche Weise thematisch werden. Die Beiträge führen Versuche fort, dem Leib im Vollzug vorprädikativer und ambiguoser Erfahrungen von Selbst, Welt und Anderen in pädagogischer Praxis und Forschung Aufmerksamkeit zu schenken.

Teil fünf rundet den Band mit einer Auseinandersetzung mit konkreten leiblichen Erfahrungen und pädagogischen Praxen ab. In diesem Kontext werden sowohl allgemeinpädagogische Reflexionen zum pädagogischen Takt (Friesen) und zur Frage nach Körperlichkeit in der Schule (Murillo), wie auch konkrete didaktische Überlegungen (Breil, McGuirk und Buck) im Anschluss an die Analyse leiblicher Erfahrungen angestellt. Die Autor*innen machen deutlich, dass die Analyse leiblicher Erfahrungen als besonders produktiv angesehen werden kann.

Die Beiträge zeigen, dass unter dem Leitthema „Leib – Leiblichkeit – Embodiment“ phänomenologische Zugänge innerhalb der Erziehungswissenschaft durchaus unterschiedliche und produktive Anschlüsse ermöglichen und eröffnen. Dem Sammelband gelingt es aufzuzeigen, dass Leib und Leiblichkeit als Kernthemen der Phänomenologie seit Husserl nach wie vor die zentralen Bezugspunkte der phänomenologischen Erziehungswissenschaft sind. Ein besonderer Mehrwert des Bandes besteht aber darin, gleichzeitig deutlich zu machen, dass und auch auf welche Art und Weise durch die Aufnahme poststrukturalistischer und praxistheoretischer Perspektiven neue Zugänge zur Sozialität leiblicher Erfahrung gefunden werden können. Es lässt sich erkennen, dass sehr unterschiedliche Ansätze Beiträge zur Profilierung der leiblichen Aspekte von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsgeschehen leisten. Die Diskurse zur Phänomenologischen Erziehungswissenschaft verweisen auf eine elementare Bedeutung der sinnlichen und leiblichen Fundierung von Bildungs- und Sozialisationsprozessen. Im Zuge der Aufwertung der Leiblichkeit werden Konzepte entwickelt, die der Leiblichkeit im pädagogischen Kontext einen größeren Stellenwert einräumen, insofern als der Mensch in seiner Ganzheit leiblich fundiert erfasst wird.

Wünschenswert wäre es noch gewesen, wenn die Nutzbarmachung der Ergebnisse auch für die (quantitative) empirische Forschung in den Beiträgen konkreter dargestellt worden wäre, um den Mehrwert phänomenologischen Denkens und Forschens auch mit der Thematik weniger vertrauten empirischen Forscher*innen zugänglich zu machen. Ähnliches gilt m.E. für die Beiträge, die sich auf die pädagogischen Handlungsfelder beziehen. Sie liefern für in der Praxis arbeitende Pädagog*innen zwar wertvolle Impulse, konkrete Anknüpfungspunkte werden aber kaum formuliert.

Insgesamt ist der Sammelband angesichts der vielfältigen Perspektiven auf die Auseinandersetzung mit dem Leibphänomen im Kontext von Bildung, Erziehung und Sozialisation bemerkenswert. Der facettenreiche Überblick über derzeit diskutierte Ansätze, der keinen Endpunkt, sondern Zwischenstände von Verständigungsprozessen widerspiegelt, macht neugierig auf den weiteren Verlauf der Diskussion.
Agnes Pfrang (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Agnes Pfrang: Rezension von: Brinkmann, Malte / Türstig, Johannes / Weber-Spanknebel, Martin (Hg.): Leib – Leiblichkeit – Embodiment, Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Wiesbaden: Springer VS 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365825516.html